Nachdem ich mich im letzten Beitrag hier als halber Hobbes-Fan (nein, das hat nichts mit „Herr der Ringe“ zu tun) outen durfte, kann ich Thomas Hobbes nun vielleicht in kritischer Absicht nutzen, ohne seinem Denken dabei all zu viel Gewalt anzutun.

Denn Hobbes eignet sich ausgezeichnet, um vermittelt über eine Kritik an einem Teil seines Denkens einen Begriff einzuführen, der mir derzeit so erscheint, als ob er kein geringes Potential hätte, dem Denken von Politik einen Dreh zu geben, den wir bisher so nicht haben und den ich schmerzlich zu vermissen beginne.

Der Begriff, den ich meine, ist die Hegung von Gewalt. Nachdem bereits Hegel mit der bewusst genutzten Mehrdeutigkeit des Begriffs der „Aufhebung“ ganz ausschließlich nur die allerallerbesten historischen Erfahrungen gemacht hat, darf man sich ermutigt fühlen, einen Begriff zu benutzen, der mit einem vergleichsweise bescheidenen Doppelsinn daherkommt:

„Hegung“ meint die Gleichzeitigkeit einer Begrenzung und einer Pflege/Kultivierung von Gewalt durch eine bestimmte Praxis, bestimmtes Denken, bestimmte Institutionen.

Naturphilosophisches politisches Denken aus einem Guss

Hobbes Kniff, den Raum des Politischen durch den Rückgriff durch einen durch und durch gewalttätigen und dadurch nur schwer wünschbaren Naturzustand gleichzeitig zu öffnen und sogleich wieder durch lückenlose „wissenschaftliche“ Stringenz endgültig zu schließen, ist kein losgelöster Taschenspielertrick, der sich im philosophisch kontextlosen Raum ereignet. Sondern er ist selbst eine durch und durch logische Konsequenz eines Denkens, das einen schlüssigen Naturbegriff mit philosophischer Wucht „durchzieht“, komme an erklärungsbedürftigen Phänomenen, was da wolle.

Rein theorie-bau-technisch könnte man allerdings genauso vermuten, dass mit Blick auf ein in der Empirie bestehendes, für den Autor der Theorie persönlich hochrelevantes Phänomen ein Naturbegriff gesucht und gefunden wurde, der genau das leistet, was vom Autor von Anfang an beabsichtigt war, und sich seine Theorie nun selbst – über logische Bande – die Bälle zuspielt. Aber solche Spekulationen sind natürlich nur reine theoretische Verschwörungstheorie.

Hobbes Naturbegriff jedenfalls ist atomistisch-mechanisch und vertraut der lückenlosen Erklärbarkeit von Naturphänomenen mittels Wirkung-Ursache-Zusammenhängen. Eine Form von Vertrauen, das man sich nach den Einsichten der Post-Einsteinschen Physik, der Post-Freudianischen Psychologie und der sehr gegenwärtigen Kybernetik nur noch schwer leisten kann (zumindest soweit ich als kompletter Laie all diese Gebiete modernen Wissens verstanden habe, ich darf da heutzutage glücklicherweise sehr vorsichtig sein…).

Sein Naturbegriff verhilft Hobbes zu dem Schluss, das historisch regelmäßig auftretende Phänomen massiven zwischenmenschlichen Gewaltgebrauchs benötige zu seiner systematischen Reduktion, der durch ein streng wissenschaftliches, methodisches Vorgehen eine 100% Erfolgsgarantie bescheinigt werden kann, den Aufbau eines staatlichen Gewaltmonopols, das qua wissenschaftlichem Beweis ex post als freiwillige Selbstabtretung von naturalistischen Freiheitsrechten („Gesellschaftsvertrag“) (um-)verstanden werden kann.

Dass diese wagemutige Erfindung des Thomas Hobbes möglicherweise überaus wirksam war und noch heute ist, wird zumindest von einigen, recht intelligent wirkenden Zeitgenossen vertreten.

Zwischenmenschliche Gewalt ist bei Hobbes – konsequent mechanisch-atomistisch – gedacht als eine naturgegebene Möglichkeit: Es können keine zwei Körper am gleichen Platz im Raum sein, ohne dass mindestens einer der beiden Körper seiner strukturellen Qualitäten und/oder seines Zusammenhangs beraubt wird. Daher stellt Gewalt eine bleibende, irreduzible Möglichkeit des menschlichen Daseins dar. – Wer z.B. Luhmanns „Politik der Gesellschaft“ aufmerksam, Wort für Wort, Satzzeichen für Satzzeichen, Satz für Satz, usw. liest, wird erstaunlicherweise exakt diesen Gedanken im Zentrum des politischen Denkens des theoretisch anspruchsvollsten Gesellschaftstheoretikers unserer jüngeren Vergangenheit wiederfinden. – Mir selber blieb ja die Spucke weg, als ich vor etwas mehr als 10 Jahren auf diese Theorem-Stabilität über die (politisch doch recht bewegten) Jahrhunderte hinweg gestoßen bin.

Die naturgegebene Möglichkeit der Gewalt bedarf in der Hobbes’schen Konzeption einer ebenso naturalen Lösung, gedacht in der Form des Staates, der, ermächtigt durch uns selbst als einer Gemeinschaft, die eben durch diese Ermächtigung überhaupt erst entsteht, eine übermächtige Gewalt bereitstellt – und so alle Aussicht auf „Gewinn durch Gewaltanwendung“ zunichte macht. Ein Prinzip, das auch heute noch den Hintergrund jedweger Polizeitätigkeit bildet: Weil gute Polizeiarbeit dafür sorgt, „dass sich Verbrechen nur in sehr unwahrscheinlichen Fällen lohnt“, kann ein jeder „Bürger“ dieses so zusammengehaltenen Gemeinwesens seine Energien, seine Aufmerksamkeit und eben auch seine Produktivkraft in andere Kanäle lenken. Er muss sich nicht mehr permanent mit Gefahrenabwehr beschäftigen, Waffen bauen und Horten, Privatarmeen bilden, etc. Und mehr noch: Durch die bestehende und wirkmächtige Institution des Staates wird „der Mensch“ auch von sich selbst befreit: Von seiner eigenen Neigung zu „Angriff als bestem Mittel der Beteiligung“. Er kann das tun, was er am liebsten tun würde, wenn ihn kein schlimmer Naturzustand daran hinderte: Friedlich werden und in Harmonie mit seinem Nächsten leben. Er kann kraft der Findigkeit seiner gottgegebenen „ratio“ Güter herstellen, die ihm und seinem Mitmenschen (nun nur noch available als Mitbürger) zu einem an kein natürliches Ende gelangenden Wohlstand gereichen.

Das Kernargument des „Leviathan“ ist also nicht nur pazifistischer, sondern v.a. auch ökonomischer Art.

Hobbes‘ Problem: Regelmäßige Rückfälle in den Bürgerkrieg, regelmäßiger zivilisatorischer Verfall

Wenn wir, wie einleitend angedeutet, nun aber von einem Doppelsinn des Begriffs „Hegung der Gewalt“ausgehen wollen, so ist eine Kritik an der Hobbes’schen Konzeption unausweichlich.

Nicht dass es an Hobbes-Kritik fehlen würde in der Geistes-, Philosophie- oder Politik-Geschichte. Hobbes ist verschrien als unreflektierter Rechtfertiger des autoritären Staates, der politischem Machtmissbrauch und Staatsterrorismus Tür und Tor geöffnet habe, als Verfallsgestalt des Politischen in der Moderne und nicht zuletzt eben als anthropologischer Pessimist, der ein viel zu negatives Menschenbild habe. Im angelsächsischen Diskurs lief Hobbes dann auch bald der philosophisch ungleich leichtgewichtigere Locke den Rang ab. Offene Hobbes-Fans von philosophischem Rang und Namen sind zumindest mir nicht bekannt. „Spuren von Hobbes“ sind dagegen bei nahezu allen politischen Denkern seit 1651 zu finden, die auch nur ansatzweise originelle Beiträge zum philosophisch-politischen Diskurs der Neuzeit geliefert haben.

Allerdings fehlt es sehr wohl an einer Kritk, die Hobbes wirklich auf Augenhöhe begegnet und die die philosophische Gesamtkonzeption, von der Hobbes ausgeht und innerhalb der er seine „politischen“ Aussagen trifft, auch nur halbwegs nachvollzogen hat. Und die dann auch noch zusätzlich die konzeptionellen Alternativen vor Augen hat, die Hobbes selbst vor Augen hatte (Thukydides, Platon-Aristoteles, Augustinus). Und die dann auch noch die heutigen Gegebenheiten und Andersheiten ins Spiel zu bringen wagt, sprich: die Denkmöglichkeiten, die Hobbes aus rein historischen Gründen nicht zur Verfügung standen und die daher auch eigentlich keine sinnvolle Kritik an seinem Denken darstellen können, sondern höchstens an einem heutigen Denken, das ohne Not und wider erkennbar bessere Möglichkeiten an einem obsoleten Hobbesianismus festhält.

Die eigentliche Schwierigkeit, mit der man konfrontiert ist, wenn man sich von Hobbes lösen möchte, besteht darin, die Phänomene im Blick zu behalten, auf die Hobbes eine Antwort zu geben versucht (ebenso wie Thukyidides und Platon, mit denen er zu konkurrieren versucht), sich aber von diesen Phänomenen nicht konzeptionell hypnotisieren zu lassen. Das ist nach meinen Beobachtung nämlich genau das, was jenen Hobbes-Fans passiert, die es erst seit bemerkenswert kurzer Zeit gibt und die heute beginnen, „den Staat zu verteidigen“, gegen was genau, ist im Moment dabei noch völlig unklar. Im Zweifelsfall immer gegen „politische Naivität“, ein Argument das immer schnell zur Hand ist und sich mit „ich habe in menschlichen Abgründe geschaut, die Du noch nicht mal vom Hörensagen her kennst“ bedeutet. Man könnte es auch das „Men in Black“-Argument nennen, denn es dient politischen Eliten, bisher v.a. in den Vereinigten Staaten seit den dort einflussreichen Ausführungen von Leo Strauss dazu, „die Menschen  vor Dingen zu beschützen, die sie zu sehr beunruhigen würden und die sie daher nicht wissen müssen“, also als Apologie für entschiedene Esoterik/Exoterik in der Politik. Im Klartext: Als Apologie für den offensiven Gebrauch der politischen Lüge, für eine Form, die sich bemerkenswerter Weise auch in den Texten gewaltverherrlichender Islamisten findet, denen es trotz des ansonsten unumschränkten Verbots der Lüge ausdrücklich erlaubt wird, „den Feind“ nach allen Regeln der Kunst anzulügen – im Namen der „guten Sache“ natürlich. Solche Ausnahmen von ansonsten als universell verkauften Regeln sind im Grunde recht zuverlässige Zeichen für einen Nicht-Humanismus, der gerne innerhalb der menschlichen Spezies Ausnahmen schaffen möchte. Es werden mithilfe der Theorie künstlich Menschen herbeifantasiert, denen man weder menschlich begegnen kann noch soll. Also das alte Spiel, das solange vorherrschte, solange sich Menschen in kleinen, umherziehenden Stammesgesellschaften bewegten und sich wechselseitig als Naturgewalten gegenüberstanden, zwischen denen Kommunikation und sinnvoller Austausch unmöglich war. Und das noch einmal verschärft wurde, als Land fest in Besitz genommen wurde, die Wanderbewegungen jener Stämme fixer wurden und damit der „Krieg“ in dem Sinn möglich wurde („Kampf um die Herrschaft über ein Gebiet und alle Menschen darin“), der viele Menschen noch 1914 mit großer Begeisterung in den I. Weltkrieg trieb und sie dann mit seiner heutigen Sinnlosigkeit tödlich unmittelbar konfrontierte. Seit der massenhaften Desillusionierung über die Art und Weise moderner Kriegsführung im I. Weltkrieg könnte man also eigentlich wissen, dass „Krieg um Land“ eine vormoderne Kategorie ist. Wenn man es wissen möchte.

Die Fixierung des Politischen auf das Problem der Gewalt und seine politische Einhegung blockiert also die Lösung von Hobbes Konzeptionen sehr effektiv. Sie hypnotisiert uns und führt zur Aufrechterhaltung eines allgemein akzeptierten Gewaltniveaus in der modernen Gesellschaft, die durch die Hobbes’sche Brille gesehen als unausweichlich erscheinen muss.

Ent-Entfremdung: Systematische Gewaltreduktion durch systematische Beziehungsknüpfung und Vernetzung

Diese Wirksamkeit des Hobbes’schen Denkens ist um so erstaunlicher, als Alternativen dazu selbst schon in jenem berühmten 13. Kapitel des Leviathan angedeutet werden, in dem Hobbes den „Naturzustand“ skizziert. Und mehr noch, als es jetzt schon einigermaßen lange Zeit offensichtlich wirksame weltpolitische Praktiken gibt, die auf ganz andere „Befriedungsmechanismen“ setzen. An prominentester Stelle vielleicht die EWG nach dem II. Weltkrieg, die ganz offen den politischen Zweck verfolgte, Länder wirtschaftlich so eng zu vernetzen, das keines gegen das andere Krieg führen können sollte, ohne sich dabei selbst sehr weitgehend und sehr unmittelbar spürbar zu schaden. Dass dies unter dem Druck der „gemeinsamen Feindschaft gegen den Ostblock“ geschah, tut dem nur geringen Abbruch. Denn auch nach dem Zusammenbruch jenes politischen Systems ist innerhalb dieser eng vernetzten Staaten kein einziger auf die Idee gekommen, den anderen kriegerisch zu unterwerfen. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem „der Weltpolizist“ USA sehr schnell seine wirtschaftlich begrenzten Fähigkeiten zeigte, überall auf der Welt eingreifen zu können, wo sich „ein Land“ entscheidet, die Menschen eines anderen Landes zu überfallen, zu ermorden und zu versklaven. Ein weltweites Zentralorgan Hobbes’schen Zuschnitts fehlt also. Und dennoch gibt es einen innereuropäisch unwahrscheinlichen Frieden, wenn man denn die Geschichte als  Gradmesser für die Wahrscheinlichkeit von Krieg und Frieden nehmen möchte.

Was Menschen, die sich ansonsten entschließen würden, heutige Regionen der Erde mit Krieg zu überziehen, befürchten müssen, wenn sie denn etwas befürchten müssen, ist also weniger das Blaulicht einer zentralen Instanz in ihrem Rückspiegel, die die UN seit jeher zu sein versucht, wobei sie lächerlich appellativ und damit unwirksam bleibt. Sondern der spontane Zusammenschluss von Menschen unterschiedlicher Länder ringsherum, die sich durch den hegemonialen Machtanspruch und die offensichtliche Gewaltbereitschaft, die aus einer Region hervorgeht, unmittelbar bedroht fühlen und sich daher spontan gegen sie zusammenschließen. – Dieses Geschehen unterscheidet sich in nichts vom spontanen Zusammenschluss von Menschen gegen das bedrohliche Gewaltverhalten eines oder mehrerer Menschen in der U-Bahn, in der Nachbarschaft oder auf dem schulischen Pausenhof. Und es ist, soweit mir bekannt ist, weitaus häufiger unter den Bedingungen fehlender Präsenz staatlicher Gewaltinstanzen, mit denen man bequemerweise rechnen darf, als unter Menschen, die sich dafür unzuständig fühlen, weil man ja die Polizei rufen kann, die sich bitteschön darum kümmern soll.

Dieses Muster zieht sich – spätestens seit dem I. Weltkrieg – durch alle Weltkonflikte, und das mittlerweile bemerkenswert oft an den „Verfassungsmäßigen Rechten“ der UN vorbei, wie Völkerrechtler nicht müde werden zu bemerken.

Viel interessanter als all diese hypnotische Fixierung auf den Umgang mit aufretretenen Gewaltphänomene ist heute aber die Frage nach der Prävention von Gewalt in der modernen Weltgesellschaft. Also danach, was das Auftreten von Gewaltverhalten fördert und was das Auftreten von Gewaltverhalten deutlich unwahrscheinlicher macht. – Und hier wird man sehr wahrscheinlich über anderes sprechen müssen als über Gewalt, gemäß dem seit Steve de Shazer und Insoo Kim Berg bekannten Prinzip, dass die Lösung mit dem Problem nicht zwingend etwas zu tun haben muss. Und dass das Denken in Wirkung-Ursache-Kategorien (z.B. Hobbes, man erinnert sich) manchmal nur „mehr vom Selben“ hervorbringen kann.

Gesellschaftliches „Wissen“ als Moment der Reproduktion des Status Quo

Ich möchte hier auch sehr deutlich klarstellen, dass ich mit diesen Ausführungen hier nicht in Konkurrenz zu wissenschaftlicher Gewaltforschung treten kann noch will. Mir geht es vielmehr um einen konzeptionellen Beitrag, um den Versuch auszuloten, inwieweit sich heute bereits Begriffe bilden lassen, die Hobbes’sche Vorentscheidungen vermeiden, unterlaufen, transformieren. Mir geht es darum, von ganz anderen Vorausetzungen auszugehen, was genau dann möglich sein sollte, wenn gesellschaftlicher Wandel wirklich die Dimensionen hat, die ihm heute von vielen zugeschrieben wird. Wenn „die Gesellschaft“ die eigentliche Natur des Menschen ist, eine „zweite Natur“, die emergent auf der „immergleichen Natur“ (solange wir der Epigenetik nicht zu viel zutrauen) aufsetzt, die auf der Grundlage von Emergenz die Bedeutung dieser ersten Natur für unsere Entscheidungen, für unser Handeln, für unsere Möglichkeiten sehr weit in den Hintergrund treten lässt.

Mit anderen Worten: Die Empirie hat für die Art meines hier versuchten Gedankengangs nur sehr geringe Kraft, weil wir dabei von Erfahrungen zu sprechen versuchen, die wir überhaupt erst dann machen können, wenn wir unsere Begriffe ändern konnten. – Wir können uns zwar von vergleichbaren Phänomenen in der Vergangenheit ermutigen lassen, aber es gibt hier keine „wissenschaftlichen Beweise“, weder für noch gegen irgendetwas. Denn wir sind hier in dem Bereich, in dem Denken Handeln ist und im beabsichtigten Idealfall relevante Veränderungen im außerdenkerischen Handeln nach sich zieht. Mit Richard Rorty gesprochen sind wir heute ganz zwangsläufig im Modus „Hoffnung statt Erkenntnis“ unterwegs, wenn wir über uns selbst und unsere Gesellschaft sprechen.

Es erscheint mir generell heute als offensichtlicher Kategorienfehler, wenn Gesellschaftstheorie über „die Dinge“ so zu sprechen versucht, als sei sie selbst kein Teil derselben, als sei sie selbst nicht „im Spiel“. Alles solche Denken behandelt uns selbst und unser Miteinander als „Naturgegenstand“, auf den wir nicht nur distanziert interesselos blicken wie auf ein entferntes Sternensystem, sondern auf das unser Denken selbst keine Rückwirkung hat. – Es ist, wenn man das so ausdrücken möchte, bemerkenswert „unsystemisch“. Oder, vielleicht etwas altbackener ausgedrückt: Es fehlt einem solchen Denken die praktische Reflexivität, und das in einem „Erkenntnisfeld“, das so offensichtlicher praktischer Relfexivität, so voller Kopplungen und Feedbackschleifen ist, dass man nur den Kopf schütteln kann über den Versuch, dieses Feld zu beobachten und zu beschreiben, ohne die eigene Einbettung in dieses Feld mitzuberücksichtigen.

Im Klartext gesprochen: Solche Gesellschaftstheorie fällt mit ihrem naturwissenschaftlich-newtonianischen Gestus noch hinter Hobbes zurück, dessen politische Philosophie ganz offensichtlich solche praktisch reflexiven Wirksamkeitsabsichten verfolgt. – Es gibt in der Gesellschaftstheorie ganz einfach deswegen keine reine Erkenntnis, weil wir selbst und alles was wir tun und sagen unmittelbar Teil dieser Gesellschaft ist und wird. Es gibt kein Entkommen aus dem politischen Feld der „teilnehmenden Beobachtung“. Jede geäußerte Beobachtung muss ganz unweigerlich als Sprechakt verstanden werden.

Entschiedene Interventionen auf der Basis leicht herstellbarer guter Beziehungen

Die Frage ist nun, wie weit wir heute schon mit der Konzeption „des Menschen“ als Interaktionspartner kommen und uns dabei von einer Konzeption des Menschen als Konfliktpartner lösen können. Die damit verbundene Frage ist, wie weit mir heute schon mit der Konzeption von „Gesellschaft“ als Beziehungsgeschehen kommen können. Und weiter, ob wir schon „reif“ sind für einen neuen Begriff von „Politik“, der sowohl die Polis Athen und ihren Streit zwischen „Demokraten“ und „Aristokraten“ hinter sich lässt, genauso wie er nicht mehr „den Staat“ in den Mittelpunkt stellt, wie es jenes Denken tut, das sich nach und nach als „frühneuzeitlich“ entpuppt. – Denn dass wir eher am Anfang denn am Ende der Geschichte der Neuzeit stehen, kann aus meiner unbescheidenen Sicht nur ein „idiotes“ bestreiten.

Hobbes selbst, genauso wie Beispiele von der Art der EWG, genauso wie große Teile unseres heutigen Alltagsgeschehens sowohl in Ländern mit als auch ohne wirksam bestehenden staatlichen Gewaltmonopol geben ja deutliche Hinweise darauf, dass wir Menschen auf unserem Planeten Erde deutlicher verbunden sind als bisherige Formen politischen Denkens zulassen, erfassen und damit bewusst werden lassen können.

Wir haben zugleich die Beispiele von Beziehungs-Praktikern vom Zuschnitt eines Frank Farrelly zur Verfügung, dessen Kritik an den Frühformen der modernen Psychologie in eine ähnliche Richtung geht, nämlich: Sie lese sich, als sei sie von einem New Yorker Einzelkind geschrieben.

Farrelly ist deswegen so interessant für unser Thema, weil er auf der Spitze jenes Gegensatzes operiert, den Thomas Gordon, ebenfalls ein Schüler Carl Rogers, als wechselseitigen Ausschluss von Einfluss und Macht beschreibt. Farrellys therapeutische Interventionen maximieren den therapeutischen Einfluss und wirken äußerlich so „gewalthaft“, das viele Therapeuten keinen Zugang zu ihr gewinnen und sich von ihr abgeschreckt fühlen, wenn sie nicht sogar für „unethisch“ halten. Zugleich können die Interventionen nur deswegen ihre oft unmittelbare Wirksamkeit entfalten, weil Farrelly unter völligem Machtverzicht operiert. Und „Macht“ heißt hier: Fähigkeit zu einseitiger Belohnung und Bestrafung. Während Farrelly therapeutisches Handeln in einem konsequenten kommunikativem „Bestrafen selbst-schädigenden Denkens und Verhaltens“ zu bestehen scheint, ist es zugleich gekennzeichnet durch ein permanent eingeholtes Einverständnis zu genau diesem Agieren, das sich v.a. über körperliche Reaktionen vollzieht. Und darin haben Gewaltmittel, selbst auch nur angedeuteter Einsatz von Gewaltmitteln keinen Platz. Farrelly praktiziert demonstrativen Gewaltverzicht in einem Beziehungs-Interventionismus, der bis heute seinesgleichen sucht. Das noch vergleichsweise ähnlichste Agieren, wie man es bei Farrelly beobachten kann, findet man bei historischen Quellen zur Person des Sokrates. Mehr „Einfluss“ als hier ist zumindest mir nicht bekannt, möglicherweise auch aus systematischen Gründen nicht vorstellbar.

Der offensichtlich kritische Faktor bei diesem Geschehen, „die geheime Zutat“, ist die Unmittelbarkeit. Farrellys Interventionen funktionieren, weil sie sich auf der Basis einer Beziehung ereignen, die permanent körperlich rückgekoppelt wird. Der Therapeut zeigt dabei eine Form von Engagement und einen Aktivitätsgrad, die wir sonst tatsächlich nur in gewalthaftem Verhalten finden.

Zugleich hat Farrellys „therapeutisches System“ den gleichen Beziehungsfokus, den wir in allen Therapieformen finden, die sich selbst als „systemisch“ beschreiben: Es wird konsequent auf Beziehungen und Beziehungsdynamiken fokussiert, es werde Kopplungen und Rückkopplungen sichtbar und noch mehr: spürbar gemacht, so dass man als derart „bearbeiteter“ Mensch nach einer gelungenen therapeutischen Sitzung die eigene soziale Einbettung und Nicht-Vereinzelung kaum mehr nicht wahrnehmen kann. Wir können hier von einer freiwillig erzwungenen Wahrnehmung des eigenen Daseins als soziales Wesen sprechen. Das für den „Patienten“ unmittelbar spürbar hohe Engagement des Therapeuten ist paradoxerweise zugleich der Wirkfaktor, der die Freiwilligkeit erst sicherstellt. Ein Therapeut, der mit Farrelly provokativ zu intervenieren versucht, der den Patienten aber zugleich verachtet, sich über ihn stellt oder distanziert-diagnostisch bleibt, statt auf die Reaktionen des Patienten wiederum zu reagieren, wird tatsächlich als zynisch, manipulativ, sarkastisch, demütigend, unempathisch und gewalthaft wahrgenommen. Ein solches Vorgehen scheitert zuverlässig immer. Eine nicht nebensächliche Eigenschaft des Farrelly’schen Vorgehens besteht dann auch darin, dass „Erleidender“ und Beobachter des theraupeutischen Prozesses mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit zu diametral entgegengesetzten Schlüssen angeht, was das Agieren des Therapeuten angeht. Während der Patient, der soeben in den „Genuss“ einer Farrelly’schen Intervention gekommen ist, in der Regel sagt: „Ich hätte noch deutlich mehr davon vertragen können“, gehen „unbeteiligte“ Beobachter des gleichen Prozesses davon aus, der Therapeut habe alle Grenzen nicht nur der therapeutischen Ethik, sondern auch des menschlichen Miteinanders aka Anstands deutlich überschritten. – Die Regelmäßigkeit dieser unterschiedlichen Deutungen je nach „Involviertsein“ sind ein deutlicher Hinweis auf die Art und die möglichen Lösungen des Problems, über das wir hier zu sprechen versuchen.

Phänomene wie die, die Farrelly mithilfe seiner „provokativen Therapy“ behandelt hat: Selbstschädigendes Verhalten von Menschen, Verleugnung des sekundären Krankheitsgewinns, sind genau von der Art, die auch Hobbes beschäftigt haben. Hobbes beschreibt in seinem „Naturzustand“ nichts anderes als ein kollektives selbstschädigendes Verhalten der Spezies Mensch, dass sich so lange in aller Unschuld (jenseist moralisch-ethischer Kategorien) vollziehen muss, wie eben keine verlässliche Staatsmacht mit wirksamem Gewaltmonopol verfügbar ist.

Die Auflösung von selbstschädigendem Verhalten durch unpersönliche Institutionen, durch Regeln, Gesetze und Bürokratie scheint aber – soweit können wir mittlerweile sicher sagen – einen hohen Preis zu haben: Die Vereinzelung, die Hobbes aus philosophisch-konzeptionellen Gründen annehmen musste, finden wir heute als gelebte Realität in unserer Gesellschaft wieder. Und das in Beziehungsformen mit vermeintlich engster Kopplung, wie z.B. in unseren Familien oder in unseren Unternehmen.

Es ist bemerkenswert, wie wenig von den naheliegenden provokativen, engagierten Verhaltensweisen Farrellys in unserem Alltag zu finden ist. Ich könnte auch sagen: Wie humorbefreit und unmenschlich wir in unserem Alltag miteinander umgehen. – Das Ausmaß unserer heutigen gesellschaftlichen Misere kann man m.E. unmittelbar nicht an monetärer Ungleichheit ablesen, obwohl sie hochwahrscheinlich eine große Rolle dabei spielt. Man kann sie viel unmittelbarer daran bemerken, wie ausgehungert „der Normalbürger“ nach emotional relevantem Feedback ist. – Dass er dieses von seinen unmittelbaren, nicht-therapeutischen Interaktionspartnern im Alltag nicht bekommt, ist das relevanteste Armutszeugnis unserer Gesellschaft.

Und ein politisches Problem.

 

Eine Gesellschaft, die sich selbst verrückt macht – Und die dann verrückte Lösungen wählt, um mit dieser selbstinduzierten Verrücktheit klar zu kommen

Denn die Entfremdung und Selbst-Entfremdung, die durch fehlendes emotionales Feedback erzeugt wird, hat Folgen für das Gewaltniveau in unserer Gesellschaft, also für genau dasjenige Problem für das heutige Politik nach wie vor ihre zentrale Zuständigkeit behauptet.

Nach allem, was wir heute über die Entwicklung unserer individuellen Psyche wissen, ist die kommunikative Spiegelung von Gefühlen in für uns (genau dadurch) relevanten Beziehungen entscheidend dafür, ob wir diese Gefühle als uns zugehörig oder überhaupt als vorhanden wahrnehmen können.

Zugleich kann als gesichertes psychologisches Wissen gelten, dass ein Mensch, der keinerlei Zugang zu seinem Emotionen hat (z.B. aus dem Grund einer physiologischen Hirnschädigung), völlig unfähig ist, Entscheidungen zu treffen, und sehr weitgehend unfähig, aktiv am Sozialgeschehen teilzunehmen.

Und wir können durchaus in Erwägung ziehen, ob unsere heutigen Gesellschaftsformen nicht den Tatbestand fortgesetzter physiologischer Hirnschädigungen erfüllen, da sie messbare Verformungen des Gehirns hinterlassen dürften.

Kurzgesagt: Wir leben als Verrückte, die nicht groß auffallen, weil sie in einer Gesellschaft leben, in der Verrücktheit so verbreitet ist, das sie als normal erscheint, wobei in diesem „normal“ der normative Klang des „erstrebenswert“ oder „sicherzustellen“ durchaus mitschwingt. – Also genau jene Diagnose, die bereits Erich Fromm stellte, allerdings mit deutlich begrenzteren methodischen Mitteln als sie uns heute zur Verfügung stehen.

Mit solchen Einschätzungen macht man sich nicht gerade beliebt. Wer hört schon gerne, dass er „verrückt“ sei, wenn er sich selbst für ganz in Ordnung hält? – Zumal „sich für ganz in Ordnung halten“ zugleich kein ganz schlechter Indikator für eine recht umfassende psychische Gesundheit ist.

Die Frage ist nur: Ist das tatsächlich unsere Einschätzung? Glaubt man periodisch auftauchenden Befragungen und Studien, so dürfte der Neurotizitätsgrad in unsereren heutigen, zunehmend verstädterten Gemeinschaften gewaltig sein. Und zumindest in den – monetär gesehen – „unteren Schichten“ unserer Gesellschaft scheinen Diagnosen schwerer psychischer Störungen kontinuierlich zuzunehmen. Bei solchen Feststellungen ist freilich Vorsicht angebracht, weil die Eigenlogik des sich verändernden psychiatrisch-medizinischen Systems dabei seine Finger im Spiel haben dürfte und daher auch hier „objektive Messung gesellschaftlicher Veränderungen“ unmöglich sind.

Die Spiegelung durch die wissenschaftliche psychologische Forschung ist daher von begrenztem Nutzen, wenn es um die politische Fragestellung geht, welchen gesellschaftlichen Institutionen wir heute zutrauen, uns in unsererLebensführung bestmöglich zu unterstützen. Oder mit anderen Worten: Welche gesellschaftlichen Institutionen wir wollen, gesetzt, das unser Wollen einen entscheidenden Einfluss auf diese unsere gesellschaftliche Wirklichkeit hat.

M.E. handelt es sich hier um eine genuin politische Fragestellung, deren Beantwortung wir weder an Wissenschaft noch an die deutlich wenig verlässliche Philosophie abtreten können.

Eine deutlich kooperative Gesellschaft ist heute möglich: Gewalt als Beziehungsstörung

Wir kommen aus Gesellschaften, deren Gewaltniveau deutlich höher war, als wir das heute gewohnt sind. – Soviel kann dank der Ausführungen Steven Pinkers als relativ sicher gelten.

Wir haben zugleich Institutionen entwickelt, die auch das Gewaltniveau derjenigen Gesellschaften spiegeln, in denen sich diejenigen politischen Ereignisse vollzogen haben, die uns zur Entwicklung dieser Institutionen bewegt haben.

Wir haben damit zugleich gesellschaftliche Emergenz-Phänomene freigesetzt, deren Tragweite wir erst allmählich und mit der für das Bewusstsein typischen Verzögerung zu realisieren beginnen.

Die Frage, die man daher an die von Hobbes angeregeten und sich an sie anschließenden Institutionen stellen kann, ist, ob sie Gewalt nicht nur einhegen, sondern ihr Neuentstehen nicht zugleich auch kultivieren.

Diesen Gedanken der „Hegung der Gewalt“ in unserer modernen Gesellschaft scheint mir am leichtesten präsentierbar, wenn wir ihn in den Begrifflichkeiten einer „Beziehungsstörung“ formulieren. Damit machen wir Anleihen nicht nur bei den jüngsten Erfahrungen, die unsere Gesellschaft in therapeutischen Prozessen machen durfte und die sich einem weithin anerkannten und wachsenden Set von salutogenetischer Praktiken widerspiegeln. Sondern wir sehen rückprojizierend auch, dass Thomas Hobbes selbst seinen Naturzustand als eine zunächst unverschuldete, aber zugleich durch menschliches Denken und Handeln aufhebbare Beziehungsstörung beschreibt. „Schuldig“ an dieser Beziehungsstörung ist in der Hobbes’schen Konzeption „die Menschheit“ nur dann, wenn sie die ihr gegebenen Mittel zum Ausgang aus der unverschuldeten Gewalthaftigkeit vorsätzlich nicht zu nutzen bereit ist. Damit kreiiert sie allerdings dann jeweils zuverlässig „die Hölle auf Erden.“

Lässt man den modernen Alltag auf sich wirken mit seinen entfremdenden bürokratischen Prozessen, die allesamt die Vermeidung von Beziehung zum vorsätzlichen Ziel haben, weil ihnen das Vertrauen in die Möglichkeiten zwischenmenschlicher Sozialdynamik in eng gekoppelten Interaktionsformaten fehlt, dann wird man zu dem Schluss kommen müssen, dass Staat und Staatsähliche Gebilde mit ihren zwangsläufigen bürokratischen Problemlösungsangeboten nicht die ultima ratio der modernen Gesellschaft sein können.

In einer Welt, die in den letzten Jahrzehnten deutlich „zusammengerückt“ ist, in der die Intensität und die Möglichkeit eng gekoppelter Interaktionsformen auf der Basis emotional geladener Beziehungen deutlich zugenommen hat, steuern wir erkennbar auf einen Zustand zu, in dem sich die durch einen kriegerischen Naturzustand rechtfertigenden Institutionen nicht mehr vor uns legitimieren können. In der sie für uns ihre Plausibilität verlieren, was ihre vorgebliche Wirkung angeht, uns in unserer Lebensführung optimal zu unterstützen. Und „optimal“, das ist immer der Ausdruck eines „relevanten Vergleichs“ und des Bestehens von Alternativen.

Faktisch haben die staatlichen Institutionen, die aus guten Gründen nicht nur unser Leben und unsere Unversehrtheit zu verteidigen versuchen, sondern auch unsere Eigentumsrechte, das Entstehen eines Finanz- und Wirtschaftssystems ermöglicht, das Entfremdung und Beziehungslosigkeit zu seinem modus operandi gemacht hat.

Da diese Institutionen – entgegen dem, was esoterische Sozialtheoretiker uns weiß machen wollen – aus uns selbst hervorgehen, hat die Frage nach unserer Zustimmung zu diesen Institutionen durchaus Wirksamkeit für ihr Bestehen: Sie müssen sich permanent vor uns rechtfertigen und bestehen nur unter der Bedingung, dass wir uns nichts anderes, nichts besseres vorstellen können. Kulturelle Artefakte haben keine Eigenständigkeit in dem Sinne, dass sie für uns unveränderlich sind. Sie mögen uns als unverfügbare „zweite Natur“ entgegentreten, wirklich unverfügbar werden sie aber erst dann, wenn wir an diese Unverfügbarkeit glauben, weil wir unsere Neugier und unsere Freude am Spiel mit Alternativen eingestellt haben.

Ich kann daher Daniel Graeber nur zustimmen, dass die Macht der Phantasie oder wie er es nennt, der „poetischen Techniken“, das ist, worüber wir unsere eigene Gegenwart und Zukunft beeinflussen.

Und das ist eine Annahme, der man durchaus unterstellen kann, dass Hobbes als Erfinder der Politischen Poetik schlechthin (man Vergleiche die Kapitel zur Unterscheidung des Zweckrationalen und des Neugierig-spielerischen Gebrauchs der ratio im Leviathan) diese Annahme auch unter heutigen Bedingungen noch geteilt hätte.

Es scheint eine „überzeitliche Wahrheit“ zu sein, dass wir – egal in welcher gesellschaftlichen Umwelt wir uns bewegen – stets die Wahl haben, ob wir uns in einer Welt des Mangels oder in einer Welt der Fülle glauben. Für beides gibt es immer gleich gute Argumente, und je nach eigener aktueller psychischer Verfassung schwanken wir zwischen beiden Glaubensformen und verhalten uns entsprechend.

Der Glaube an unsere Not befeuert unsere zweckrationale Suche nach Möglichkeiten, unsere Bedürfnisse zu befriedigen.

Der Glaube an die Fülle ermöglicht uns, spielerisch mit unseren Mitteln umzugehen, Experimente anzustellen und neugierig genug zu bleiben, um auch noch im Erwachsenenalter völlig Neues auszuprobieren.

Die Zweckrationalität völlig befreit von jeglicher Beziehungslogik zu sehen, als ob es einen „asozialen“ oder „vorsozialen“ Menschen überhaupt geben könnte, das scheint mir allerdings eine Verkürzung zu sein, die mit heutigen Mitteln leicht korrigiert werden könnte.

Wenn, ja wenn nicht die bestehenden Institutionen nicht wären, die auf vergangene Problemlagen die Antwort waren, die heute aber als Hegungen von Gewalt gesehen werden können, wenn nicht sollten.

Unsere Institutionen konsequent in eine Beziehungslogik einzubetten – eine Praxis, die faktisch bereits heute in unserem Alltag von vielen von uns betrieben wird – kann im glücklichen Fall die Folge haben, dass ihre bürokratischen Auswüchse nach und nach von uns abfallen, wie eine abgelebte Haut, wie ein Panzer, den wir heute nicht mehr benötigen, weil unsere gelebten Beziehungen uns viel besseren und viel erfüllenderen Schutz bieten.

Im unglücklichen Fall aber, den wir derzeit keineswegs ausschließen können, haben wir uns über unsere insitutionellen Problemlösungen der Vergangenheit in eine evolutionäre Sackgasse hineinmanövriert. Dann formen unsere eigenen Institutionen uns so, dass wir uns nichts besseres vorstellen können als diejenigen Insitutionen, die uns unsere gegenwärtigen Probleme unlösbar machen. Dann sind unsere Institutionen keine Artefakte des Menschlichen, sondern wir als Menschen sind Artefakte dieser Institutionen, die wir selbst permanent erschaffen, ohne damit aufhören zu können. Dann gehen wir tatsächlich an unseren Erfolgen zugrunde und der Findigkeit des Menschen sind am Ende doch tragische Grenzen gesetzt.

Ich bete für mich und alle meine Mitmenschen auf diesem Planeten, dass ersteres der Fall ist und nicht letzteres.