Uns wird viel zugemutet in Sachen Zuhören heutzutage. Alles mögliche müssen wir uns anhören, ohne dass wir uns leicht dagegen verwehren können. – Das beginnt nicht erst in der Schule. Und es endet nicht in unseren Ausbildungen, Studien und Betrieben. Auch im öffentlichen Raum, an unseren Wohnungstüren, auf unseren Online-Kanälen und unseren Festnetzanschlüssen werden wir zugeknallt mit Dingen, „die wir uns mal anhören sollen“.

Gleichzeitig werden wir permanent dazu ermuntert, „besser zuzuhören“. Weil das ja so unglaublich segensreich für alle sei.

Mein Eindruck als jemand, der zu viel spricht, weil er sich zuviel anhören musste, ist ja: Es gibt ein weit verbreitetes Missverständnis, was „Zuhören“ ist und wie es sich auf die daran beteiligten Menschen auswirkt.

Am besten bekommt man dieses Unerhörte ins Ohr, wenn man vom „Erkennbaren Zuhören“ spricht.

Was ist damit gemeint?

Hartnäckig hält sich der Mythos, es ginge bei zwischenmenschlicher Kommunikation allein um Informationsaustausch. Genauer: Über eine wechselseitige oder einseitige Verständigung über Dinge da draußen, also über die sogenannte „Außenwelt“. – So nach der Devise: „Kuck mal, da ist ein Reh!“ Oder: „Du hast den Müll wieder nicht rausgebracht!“ – „Doch hab ich wohl, schau doch mal nach!“

Diese Dimension von Gesprächen ist unleugbar vorhanden. Doch es ist in den allermeisten gehaltvollen Gesprächen die relativ unwichtigere Komponente der Kommunikation.

Wenn ein Mensch spricht, will er sicher sein, dass er „gehört wird“. – Und damit das gewährleistet ist, reicht es leider nicht aus, dass ein anderer Mensch tatsächlich zuhört, mitdenkt, das Gesagte auf sich wirken lässt (was selten genug der Fall ist).

Nein: Beim erkennbaren Zuhören geht es ganz simpel darum, dass der, der spricht, überdeutlich erkennen kann, dass der Zuhörer wirklich voll dabei, aufnahmebereit und offen dafür ist, dass das Gesagte „etwas mit ihm macht“.

Es macht in den allermeisten sprachlichen Interaktionen zwischen Menschen den denkbar größten Unterschied, ob das passiert oder ob das nicht passiert.

Allerdings unterschätzen wir diesen Unterschied nahezu immer und überall. – Selbst dort, wo „gut zugehört wird“, wird nur selten „erkennbar gut zugehört.“

Psychologisch löst dieses Fehlen von erkennbarem Zuhören bei den meisten Menschen, die glauben, sich gerade äußern und andere Menschen addressieren zu müssen, dass sie weiter sprechen, dass sie mehr sprechen und dass sie nach und nach immer „lauter“ werden.

Im umgekehrten Fall: Wenn Zuhören für Sprecher erkennbar wird – und erst dann! -, tritt beim Sprecher Entspannung ein.

Sprecher sind also auf Rückmeldungen angewiesen, die ganz subjektiv für sie sicherstellen, dass ihnen gerade zugehört wird oder wurde. – Thomas Gordon und andere Beziehungs- und Kommunikationspraktiker haben dafür die Form „Aktives Zuhören“ erarbeitet, detailliert beschrieben und in eigenen Trainings eingeübt.

Sprechen und Zuhören ist für uns Menschen ein primär emotionales Geschehen, bei dem Informationsaustausch „über Fakten“ nachrangig ist. Zumindest solange wir darunter allein Informationen über die nicht-menschliche Außenwelt verstehen. Und nicht auch Informationen über die menschliche Innenwelt (Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche) und über die zwischenmenschliche Beziehungswelt (wie stehst Du zu mir? Bin ich Dir wirklich wichtig? Gehöre ich für Dich wirklich zu Deiner Bezugsgruppe dazu?).

Dieses emotionale Geschehen und diese Beziehungsdimension läuft nahezu in jedem Gespräch mit, auch noch im scheinbar nüchternsten und faktenorientiertesten.

Leider haben viele Menschen heute Probleme damit, sowohl diese Diemension überhaupt auf dem Schirm ihres Bewusstseins zu haben als auch ihr aktiv gerecht zu werden. Insbesondere Menschen mit starken „Management-Neigungen“ und Menschen mit stark technischer und/oder theoretischer Ausbildung verkennen diese Dimension von Kommunikation regelmäßig. Sie wurden in der Regel darauf getrimmt und dafür trainiert, genau von der Beziehungsdimension abzusehen und sie für unerheblich zu halten.

Dass sie für uns, in unserem Bewusstsein verschwunden ist, heißt jedoch nicht, dass sie auch in der Realität verschwunden ist. – All die damit verbundenen Gefühle und Bedürfnisse laufen weiter mit und spielen eine gewaltige Rolle in der Zusammenarbeit. Mangels Wahrnehmung jedoch nun subkutan und unbewusst.

Die Folge: Es wird unglaublich viel geredet, aber es entsteht über dieses „informative Gerede“ unglaublich wenig Zusammenhalt und Commitment.

Beim erkennbaren Zuhören tritt dagegen Entspannung und Beruhigung ein: Es wird weniger geredet. Und die Rollen von Sprecher und Zuhörer wechseln häufiger und organischer. Meist pendeln sich die Rede-/Zuhör-Anteile bei gleichen Anteilen zwischen den beteiligten Menschen ein, wenn erkennbar zugehört wird. – Dieser messbare Wert kann daher auch als Indikator dafür gelten, ob in der Wahrnehmung der beteiligten Menschen gerade gut erkennbar zugehört wird. Oder eben nicht.

Warum erkennbares Zuhören für uns heute besonders wichtig ist

Die Auswirkungen vorhandenen/nicht-vorhandenen erkennbaren Zuhörens sind für uns heute wichtiger denn je geworden.

Und zwar durch zwei Phänomene, die unsere heutige Gesellschaft stärker prägen als jede andere menschliche Gesellschaft zuvor:

1.) Die Virtualität bzw. Körperlosigkeit von menschlicher Kommunikation. – Es ist für uns als Menschen, die biologisch auf Kommunikation im gleichen Raum angelegt sind, unglaublich schwer und anstrengend, in virtuellen Räumen erkennbar zuzuhören.

Wer das schonmal über einen beliebigen social media-Kanal oder in der Kommentarspalte zu irgendeinem Artikel versucht hat, weiß im Grunde sofort, wovon ich hier spreche.

Der Virtuelle Raum des Internets ist daher trotz der Unmenge an sofortigen Rückmeldungen, die wir dort generieren können, ein Raum, in dem kaum erkennbar zugehört werden kann.

Dieser Zusammenhang ist völlig hinreichend um zu erklären, warum unsere Gesellschaft über die Möglichkeiten virtueller Kommunikation so zu überhitzen und emotional zu überladen scheint: Alle sprechen, aber keiner kann sich gehört fühlen.

Das ist niemandes schuld. Und das ist auch kein Argument dagegen, die wunderbaren Möglichkeiten, die uns dadurch geboten sind, nicht zu nutzen. Auch nicht offensiv zu nutzen.

Es bedeutet nur, dass überall dort, wo Konflikte, Interessengegensätze oder starke Bedürfnisse im Raum sind, Menschen nach wie vor physisch zusammen kommen müssen, weil es anders für uns nicht funktionieren kann. Weil wir als körperliche Wesen erkennbares Zuhören brauchen, das wir nur in gemeinsamer physischer Anwesenheit im gleichen Raum erhalten können. – Und selbst dort hat es starke Voraussetzungen.

Diese Einsicht hat Konsequenzen für das, was wir heute „virtuelle Teams“ nenne. Und es hat insbesondere auch Konsequenzen für den zweiten Punkt: Die Politik in einer Halb-anonymen Großgesellschaft, wie unsere heutige Weltgesellschaft nunmal eine ist.

2.) Der politische Raum ist neben dem ökonomischen derjenige Raum menschlicher Zusammenkünfte und Gespräche, in denen am wenigsten erkennbar zugehört wird.

Und das ist insofern fatal, als wir heute in einer Welt leben, in der wir uns – ob wir wollen oder nicht – durch unsere Lebensvollzüge und Entscheidungen recht unmittelbar wechselseitig in unseren Handlungsspielräumen beeinflussen: Uns wechselseitig einschränken, aber auch uns wechselseitig Handlungen ermöglichen, das ohne entsprechendes Handeln anderer gar nicht möglich für uns wäre.

Kurz: Wir leben in einer – physisch! – stark vernetzten Welt.

Das heißt auch: Wir leben in einer Welt, in der es entscheidend ist, dass wir Sicherheit haben, „gehört zu werden“, wenn für uns wichtige Bedürfnisse unerfüllt sind. Bedürfnisse, die wir allein für uns niemals befriedigen können, „wenn andere nicht entsprechend mitmachen“.

Fundamentale Voraussetzung für jenes Mitmachen anderer ist aber wieder zweierlei: A) Dass andere überhaupt mitbekommen, dass wir etwas brauchen, und was genau wir brauchen; und B) Dass andere selber gerade nicht so in Not, so akut bedürftig sind, dass sie uns gar nicht entgegekommen und um uns kümmern können.

Wir sind heute auf eine extrem gute gesellschaftliche Kooperation angewiesen, damit Bedürfnismängel nicht so akut werden, dass eine wechselseitige Blockade-Situation auftritt, in der keiner mehr bereit ist, sich auch nur anzuhören, was der andere gerade von ihm will und braucht.

Die unmittelbare Beruhigung des erkennbaren Zuhörens ist hier ein probates Mittel. Leider wird es wenig genutzt.

Das ist nicht nur ein Bewusstseins-Problem. Es fehlen uns heute auch Formate, Verfahren und Institutionen, die auf erkennbares Zuhören fokussieren und es ermöglichen.

Ich bin daher sehr skeptisch, was alle oberflächliche und rein virtuell bleibende politische Kommunikation angeht.

Wir brauchen m.E. heute Formate, die eine Kultur des erkennbaren Zuhörens pflegen. Formate, die Menschen als Menschen unterschiedlicher Situation und Lebensführung physisch in einem Raum zusammenbringen und zwischen ihnen Gespräche ermöglichen, in denen sie sich wechselseitig erkennbar zuhören können.

Diese Formate sind nicht unmöglich. Sie sind auch nicht furchtbar schwer ins Leben zu bringen. Sie sind – im Vergleich zu unseren bereits vorhandenen politischen Institutionen – noch nicht einmal besonders kostspielig, sondern vergleichsweise preisgünstiger zu haben.

Was m.E. fehlt, ist Klarheit darüber, wie sehr wir als Menschen erkennbares Zuhören brauchen. Und wie sehr erkennbares Zuhören gerade im politischen Raum fehlt. Also in jenem Raum, der der Beilegung von Konflikten dient und der Findung neuer gesellschaftlicher Lösungen, bei denen keiner verliert, sondern alle gewinnen. Und denen daher alle zustimmen können.

Ist diese Klarheit über die Wichtigkeit erkennbaren Zuhörens gegeben, lassen sich leicht eine Fülle von ganz verschiedenen politischen Verfahren und demokratischen Institutionen (er-)finden, die dem Abhilfe schaffen.

Erkennbares Zuhören verlangt Wechselseitigkeit – Aus strukturellen Gründen

Erkennbares Zuhören ist strukturell ein Treiber von Demokratisierung. Denn es verlangt strukturell Wechselseitigkeit, Reziprozität:

Wir gehen oft unbewusst davon aus, dass „auf der anderen Seite des Sprechens“, beim Zuhörer unbegrenzte Zuhör-Ressourcen vorhanden sind. Da wir jedoch alle Menschen und keine Götter sind, ist das so gut wie niemals der Fall.

Alle Menschen sind bedürftig. Und in manchen Situationen ist jeder Mensch so bedürftig, dass er nicht mehr zuhören kann.

Das vorausgesetzt, können wir nicht von Menschen in so genannten „Führungspositionen“ verlangen, „immer ein offenes Ohr zu haben“ und uns dann vielleicht auch noch erkennbar Zuzuhören.

In der Realität ist das dann ja auch so gut wie nie der Fall. Die Kommunikation in hierarchischen Beziehungen krankt strukturell an einem Mangel an erkennbarem Zuhören.

Wenn mal eine Führungskraft auf eigene Rechnung beschließt, der ihr anvertrauten Menschen wirklich erkennbar zuzuhören, erschließt sich ihr in der Regel ein ganzer Kosmos an menschlicher Bedürftigkeit. In Ausmaßen, die jeden Menschen überfordern müssen.

Daher hören viele Menschen in Machtpositionen aus purem Schutz vor Selbstüberforderung nicht mehr zu. – Und es erscheint mir unmenschlich, diesen Menschen daraus einen Vorwurf zu stricken.

Auch wenn wir über Empathie sprechen, gibt es ein weit verbreitetes Vorurteil, nach der „empathisches Verhalten“ ausschließlich oder vorrangig darum drehe, „ganz beim anderen zu sein“. – Erfahrene Praktiker in Empathie-Verhalten haben jedoch ein ganz anderes Verständnis von Empathie: Sie betonen die Selbstoffenbarung, die Offenbarung eigener Bedürftigkeit und Verletzlichkeit als Moment einer wirksamen Empathie-Praxis.

Menschen in fixierten Machtpositionen haben aber in der Regel reflexhaft die Befürchtung, dass Offenbarung eigener Bedürftigkeit sie allzu schwach und angreifbar erscheinen lässt. Mental befinden sie sich permanent in einem Krieg, in dem sie Schachzüge berechnen und sich absichern müssen.

In dieser Lage ist weder Selbstoffenbarung eigener Emotionen und Bedürfnisse noch erkennbares Zuhören mit Offenheit für die Emotionen und Bedürfnisse anderer zu erwarten.

Erkennbares Zuhören ist nur dann möglich, wenn es sich um reziproke Beziehungen auf Augenhöhe handelt. Nur hier ist erkennbares Zuhören keine strukturelle Überforderung einiger weniger, die gottgleich mit der Bedürftigkeit von unzählig vielen konfrontiert werden, wenn sie beginnen, „wirklich zuzuhören“ und das auch erkennbar zu machen.

Die Auflösung von insitutionalisierten „Gott-Positionen“ in unseren sozialen Systemen: In Schulen, Unternehmen, in der Politik ist daher der zentrale Baustein um eine Kultur des erkennbaren Zuhörens zu etablieren oder auch nur zu ermöglichen.

Nur wenn alle „ganz offiziell“ bedürftig sein können: Andere um ihre Gefühle und Bedürfnisse wissen lassen können, können umgekehrt alle immer wieder in die Verfassung kommen, in denen ihnen selbst erkennbares Zuhören möglich ist.

Menschen, die latent bedürftig sind, die das aber positionsbedingt nicht zeigen können, ohne in eine bedrohliche Situation geraten, können nicht zuhören. Und erkennbar zuhören schon gleich zweimal nicht.