Als alter Duz-Freund von Platon, Nietzsche, Hegel und Co. möchte ich hiermit die geneigte Öffentlichkeit über den Geheimbund der Theoretiker aufklären. Ein echter Enthüllungsartikel steht also an. Mit erschütternden Insider-Informationen!

Vita activa, vita contemplativa

Die meisten Menschen haben völlig falsche Vorstellungen von Theoretikern. Das ist nicht ihre Schuld. Denn dass es Theoretiker gibt, ist tatsächlich für den gesunden Menschenverstand schwer vorstellbar.

Wie immer gehen wir von uns selber aus. Wir glauben, dass es beim Nachdenken letztendlich ums Handeln geht, dass es auch dort ums Handeln gehen muss, weil es am Ende ja immer ums Handeln geht.

Dass es Menschen geben könnte, für die Nachdenken „Handeln genug“ oder „Handeln in sich selbst“ ist, ist für uns daher nur schwer vorstellbar.

Dass es Menschen geben könnte, die so verrückt sind, dass sie gar nichts verändern wollen, außer ihre eigene Grundstimmung, dass es Menschen gibt, die im Nachdenken darüber „was ist“ Ruhe und Frieden finden, obwohl doch das, was ist, oft auch einfach gequirlter Mist ist – Das scheint so absurd, dass es uns nicht in den Sinn kommt.

Bei Theoretikern ist mit diesem Wahnsinn aber fest zu rechnen.

Ursprünglich wurde Theorie nämlich genau zu diesem Zweck erfunden: „Seelenbildung“ nannte man das. „Besonnenheit“ erwartete man sich als Effekt regelmäßiger theoretischer Aktivität.

In der Theoretikergemeinde ist die Vorstellung, man könnte auch zu dem Zweck nachdenken, dass man danach genauer wüsste, was zu tun sei, relativ neu. Es ist in der Tat eine „neuzeitliche“ Idee. Voll ausformuliert findet sie sich meines Wissens erstmals bei Francis Bacon, René Descartes und in Thomas Hobbes‘ „Leviathan“.

Für antike Theoretiker ist diese neuzeitliche Vorstellung dagegen völlig absurd. Und so ein paar „echt antike Typen“ kann man auch in der Moderne immer wieder mal antreffen. Hegel war z.B. so einer. Auch Luhmann ist in diesem Sinne ein richtig schön antiker Theoretiker, den es um alles andere ging als um modische, neuzeitliche Handlungsempfehlungen. Eher um eine antike „Einstimmung“ und „Haltungserwerb“, der dem Theorie praktizierenden Individuum mehr Gelassenheit verschaffen soll.

Von Nicht-Theoretikern werden die „echt antiken“ unter den Theoretikern regelmäßig missverstanden. In eben genau dem Sinne, dass sie ja am Ende doch sagen wollten, was zu tun und was zu lassen sei. Die Möglichkeit, es sei möglicherweise bereits alles getan, wenn „die theoretische Arbeit sich vollzogen hat“, ist für leidenschaftliche Anhänger der vita activa einfach unvorstellbar.

Die Erkenntnisse der Ritter-Schule

Zwei meiner wichtigsten philosophischen Lehrer waren, zumindest teilweise, durch die Schule Joachim Ritters gegangen.

In diesen wahnsinnig erlaucht-elitären Kreisen kursieren ein paar Texte rund um Hegels Kritik an der Kantischen Moralphilosophie.

Der Themenkreis, um den diese Texte sich drehen, lässt sich als „Das Problem des Sollens“ beschreiben. Und es findet sich u.a. ein Artikel des Wirtschaftsethikers Karl Homann, der genau diesen Titel trägt.

Ein weiterer Artikel zum Thema hat der stets gut lesbar schreibende Odo Marquard verfasst und trägt den schönen Titel: „Hegel und das Sollen.“

Man kann aber – wenn man es gern etwas technischer mag – auch zurück zur Quelle gehen und sich Joachim Ritters Aufsatz „Moralität und Sittlichkeit“ reinziehen, der im Band „Metaphysik und Politik“ erschienen ist.

Weil ich es mir gern einfach mache und zudem die Familie nörgelt, ich möge mal zum Essen kommen und mir zudem die schicken Stiefel ansehen, die sich meine Frau gerade gekauft hat, beziehe ich mich im Folgenden auf Homann. Er schreibt:

Die Frage bleibt, warum Hegel keine Vorschläge unterbreitet, wie man auch im Verhältnis der Staaten untereinander eine rechtlich-institutionelle Ordnung einrichten könnte. Der entsprechende Vorschlag Kants zum „ewigen Frieden“ wird der Kritik unterzogen, und die Rechtsphilosophie schließt mit der provozierenden These, die Weltgeschichte sei das „Weltgericht“. Diese These kann und muss man so interpretieren, dass es keinen von kontingenten Verwirklichungsbedingungen unabhängigen Weg zur Erkenntnis der Wahrheit geben kann; auch eine spekulative Philosophie kann diese kontingenten Bedingungen nicht überspringen.

Dankt die Philosophie damit nicht doch ab, wenn es um die Gestaltung der Zukunft geht? Wird die Implementierung des Gesollten kontingenten Umständen, historischen Zufällen überlassen? Muss sich Philosophie darauf beschränken, jeweils nur ex post die Vernunft einer von Kontingenzen bestimmten Entwicklung zu „rekonstruieren“, wie wir das heute formulieren würden? (Karl Homann: „Das Problem des Sollens“, in: Ulrich Dierse (Hrsg.): „Joachim Ritter zum Gedenken“, Mainz/Stuttgart, 2004, S. 70)

Um es kurz zu halten: Die Antwort auf all diese Fragen lautet „Ja“. Oder genauer gesagt: Sie sollte besser „ja“ lauten.

Das Problem ist, dass alle echten Philosophen von Anfang an große Probleme hatten, diese Haltung auch tatsächlich durchzuhalten. Mit der theoretisch postulierten praktischen Enthaltsamkeit der Philosophie und dem Aufgehen ihrer Protagonisten in einer reinen vita contemplativa sah es bei den meisten Philosophen beim näheren Hinsehen dann doch immer wieder richtig mies und inkonsequent aus.

Ich nehme an: Dafür waren sie dann doch nicht verrückt genug.

Gerade bei den Philosophen sieht man, wie überraschend oft der gesunde Menschenverstand einfach komplett richtig liegt.

Theorie verlangt Konsequenz. Theorie besteht in Konsequenz. Doch die von der Theorie immer geforderte Konsequenz blieb immer in der Theorie. Als Menschen aus Fleisch und Blut leisteten sich auch die Hardcore-kontemplativen Theoretiker exakt die gleiche Inkonsequenzen im Handeln, die wir uns alle ständig leisten. Die Konsequenz der Theorie überträgt sich niemals in die Praxis.

Und das seit über 2400 Jahren.

Das würde ich „proven track record“ nennen.

Die Gelassenheit, die die theoretische Aktivität verschaffen sollte, führte nie dazu, dass die Menschen, die sie intensiv praktizierten, auch tatsächlich die Füße still halten konnten. Auch zeichnen sich kontemplative Theoretiker „in der Praxis“ nur höchst selten durch eine große Besonnenheit aus. Die meisten sind wie ich ausgemachte Choleriker und ziemlich unangenehme Zeitgenossen, die schnell hochgehen und mit anderen Menschen recht ungeduldig sind.

Dass sich die Prinzipien der Theorie im Handeln der Theoretiker nicht umsetzen, ist dagegen kein treffender Einwand gegen die erklärtermaßen kontemplative Theorie. Diese Annahme ist vielmehr ihr Daseins- und Selbstrechtfertigungsgrund: Sie geht ja gerade davon aus, dass sich die Konsequenz des Denkens nicht ins Handeln übersetzen lässt. Dass die von ihr angestrebte und verherrlichte Perfektion und Schlüssigkeit im Handeln unerreichbar ist. Genau deswegen pflegt sie ja ein Selbstverständnis als theoria contemplativa, die Praxis und nicht Poiesis ist.

Wenn man wissen will, ob „echte Theorie“ wirklich Sinn macht, muss man sich nicht die Theorie anschauen, sondern den Theoretiker. Und bei ihm nicht seine Aktivitäten, also nicht etwa, ob er denn auch wirklich in Übereinstimmung mit den Aussagen seiner Theorie handelt, sondern seinen Zustand, nachdem er ausgiebig herumtheoretsiert hat. – Dieser Zustand des Theoretikers ist der „proof“, anhand dessen eine Falsifikation kontemplativer Theorie möglich ist.