Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu dem Begriff der so schön wildromantisch daherkommenden „Organisationsrebellen“: Sie klingen nach Freiheit, nach edlen Wilden, nach mutigen Recken, die sich nicht kleinkriegen lassen, nach David gegen Goliath, nach lustvoller Piraterie, nach „wir hacken mal eben unser eigenes Unternehmen“.

Gleichzeitig bin ich selbst ein notorischer Quertreiber. „Das Leben hat mich so gebaut“, dass ich nicht nur zu den „Das Glas ist halbleer“-Menschen gehöre, sondern zu den: „Da, wo Du alles wunderbar findest, befindet sich ein schwarzes Loch, in dem King Kong gerade Deine Mutter vögelt, siehst Du das denn nicht!?????“-Leuten.

Oder freundlicher: Wenn irgendwo irgendetwas „nicht stimmig“ ist, fällt mir das sofort auf. Und es bereitet mir körperliche Übelkeit, darüber nicht zu sprechen, sondern mir auf die Zunge zu beißen und meine Wahrnehmungen runterzuschlucken. – Dieses „nicht stimmig“ ist übrigens an manchen Orten und in manchen Tätigkeiten hochwillkommen: Z.B. in der Hermeneutik: beim Interpretieren von Gedichten und Texten von toten alten Männern lag ich ich immer ganz weit vorne. Denn um Unstimmigkeiten einen höheren? tieferen? whatever! Sinn anzuerklären, muss man Unstimmigkeiten und Auffälligkeiten überhaupt erst einmal wahrnehmen. Auch im Coaching ist die Fähigkeit, Disharmonien sofort wahrzunehmen, recht praktisch und hilfreich. Denn hier ist man „qua Rolle“ dazu befugt, das anzusprechen und „zu spiegeln“, wie man immer so schön sagt. – Es geht dann immer darum, wie man dem Anderen sein eigenes Zeug so einflößt, dass er es auch bereit ist zu trinken und zu schmecken.

Natürlich könnte man das nun auch auf Organisationen übertragen. – Aber ich bin skeptisch. A) Haben Organisationen keine „Persona“, mit der ich als Mensch so unmittelbar andocken kann wie bei einem anderen Menschen. B) Hat man selten mit denen zu tun, die in Unternehmen wirklich die Fäden ziehen. Denn die sind oft weit, weit weg, anonym, und oft auch einfach am Wohlergehen des eigenen Unternehmens gar nicht interessiert. – So dass zumindest mein eigenes Rebellentum bei Unternehmen ins Leere läuft.

Wenn wir rein technisch werden, so scheint mir der Terminus „Organisationsrebellen“ so etwas zu meinen wie das, was Adam Grant „disagreable givers“ nennt.

Also so Dr.-House-Typen, die eher zur unangenehmen Sorte Mensch gehören, „aber für die gute Sache“. Grant meint auch, dass dieses Verhalten häufig fehlinterpretiert wird, die Leute aus den Unternehmen fliegen, obwohl sie für die Organisation oft mit am wertvollsten sind, weil sie Schräglagen benennen, sich engagieren und das Unternehmen entscheidend voranbringen.

Mehrere Sachen stören mich aber auch an diesem Bild:

  • Ich kenne ein paar ausgemachte, langjährige, sehr hartnäckige und sehr loyale Organisationsrebellen persönlich: Sie sind alle hochsozialkompetent und eher freundliche Menschen. – Es scheint also unterschiedliche persönliche Formen von „Rebellentum“ zu geben
  • Es gibt bekanntlich viele „heimliche Rebellen“: Also Menschen, die niemals den Mund aufmachen (oft realistischerweise: Es wäre ihr Ende in ihrer Organisation), die aber „unter der Hand das Richtige tun“. – Mark Poppenborg, der Gründer des NewWork-Netzwerks intrinsify.me hat mal in einem Vortrag sehr schön darauf hingewiesen. Diese Menschen retten ihren Unternehmen auf täglicher Basis den Hintern. Nur bekommt das niemand mit. Auch in unserem Bewusstsein tauchen sie nicht auf als Rebellen. Alles Romantische fehlt. Es  bleiben nur die täglichen Mühen der kognitiven Dissonanz, an denen, das darf man auch nicht verschweigen, nicht all zu wenige zerbrechen. Denn Kognitive Dissonanz ist eine permanente Zusatzanstrengung für’s Hirn. Heimliche Rebellen dürfen niemals ihr Heldentum öffentlich machen. Denn sonst kriegen sie auf’s Maul. Ihre Taten bleiben für immer „inoffiziell“. Das Gute, das sie für das Unternehmen tun, ist das exakt vom Management Unerwünschte, für das man abgemahnt, gemobbt, vor versammelten Mannschaft zur Schnecke gemacht und Ressourcenentzug von der Informationsvorenthaltung bis hin zum Besenkammer-Büro mit altem Windows-Rechner und gestörter Telefonleitung erwarten darf.
  • Auch scheint es mir nicht zu viel verlangt, dass „Organisationsrebellen“, wenn wir sie mit Adam Grant als „Disagreable Givers“ verstehen, die Grundregeln des geschickten Sozialverhaltens erlernen. Dafür gibt es in meiner Welt ein überragendes Vorbild namens „Frank Farrelly“. Wer will, kann es dort lernen, wie man Menschen Wahrheiten beibringt, denen sie par tout sowas von überhaupt gar nicht offen gegenüberstehen.
  • Am meisten aber stört mich, dass sich hinter dem „Unangepassten“ der „Disagreableness“ durchaus auch einfache Arschlochhaftigkeit verstecken kann: Also jenes „über Leichen gehen“, das wir „Genies“ manchmal zugestehen: „Der darf das“. – Und von dieser Denkschablone, so scheint es zumindest mir, haben die allermeisten Unternehmen bereits heute weit mehr als genug. Maligne Narzissten (salopp „Psychopathen“ genannt) spült es nach wie vor in hierarchisch organisierten Unternehmen auf ebenso zauberhafte wie systematische Weise ganz nach oben.

Die Frage ist aber auch: Sind „Organisationsrebellen“ wirklich die Lösung für die wichtigsten Probleme, die wir heute in unseren Unternehmen haben?

Mir riecht das ganze ja schon fast wieder zu sehr nach „Stabsstelle“: Wir haben da jetzt wieder so einen Karton, da verräumen wir das Thema hin, dann ist es verräumt, ohne all zu viel Schaden anrichten (und Wirkung entfalten) zu können. Sobald „Rebellentum“ von heimlich auf offiziell umschaltet, wird es unheimlich. Offizielles Rebellentum ist kein Rebellentum mehr. Es riskiert nichts, und das System hat sich schon von Vornherein gegen es immunisiert: „Ach, DER schon wieder!“

Von Milton Erickson ist überliefert, dass er der Meinung gewesen sei, ein Therapeut sei nur solange wirksam bei seinem Klienten, wie er in der Lage sei, ihn zu überraschen. – Überraschung aus der „Jetzt-kommt-eine-Überraschung“-Ecke ist, hm, nunja: wenig überraschend. Oder ging es Ihnen anders als so: Wenn der Deutschlehrer von einem „total spannenden Roman“ erzählte, dachte man „ok, gut, er muss das sagen, er ist der Deutschlehrer“. Ganz anders sieht es aber aus, wenn der Sport- oder der Mathematiklehrer mal en passant total begeistert von einem Roman erzählte, den er kürzlich gelesen habe. Warum? Weil man es von ihm nicht erwartet hat. Und weil man keinen „offiziellen“ Auftrag dahinter vermutet (- Dass der Deutschlehrer beiden am Abend vorher ein Bier spendiert hat, verschweigen wir hier).

Sind also „Organisationsrebellen“ eine Lösung für gute Organisation? Oder auf dem Weg zur guter Organisation?

Ich möchte es einmal andersherum fassen: Worum geht es überhaupt? Was sind denn die Probleme in unseren heutigen Unternehmen?

Meines Erachtens: Aufgrund der Machtasymmetrien, die der hierarchische Organisationsaufbau der meisten heutigen Unternehmen etabliert, wird nicht mehr sinnvoll miteinander gesprochen.

Es wird nicht geredet: Nicht über das Richtige. Nicht auf die richtige Weise. Nicht zum richtigen Zeitpunkt. Nicht von den richtigen Leuten zu den richtigen Leuten.

Die ganze Organisation ist eine einzige kommunikative Blockade und Verzerrung, die dafür sorgt, dass wichtige Informationen nicht „von oben nach unten“ fließen (Geheimnis! / Damit wollen wir sie jetzt noch nicht belasten! / Das dürfen sie erst erfahren, wenn wir Fakten geschaffen haben); und die gleichzeitig dafür sorgt, dass wichtige Informationen nicht „von unten nach oben“ fließen (Das müsste der Chef eigentlich wissen, aber dann krieg ich auf’s Maul / Der hört eh nicht zu / Es wäre unsolidarisch mit meinen Kollegen, das dem Chef mitzuteilen).

Gegen eine so gewaltige Kommunikationsblockademaschine sind „Organisationsrebellen“ in meiner Welt ein zarter Hauch von Nichts.

Wenn es stimmt, was ich hier schreibe, und die Hierarchie in Unternehmen selbst das Problem ist, dann gibt es dagegen nur eine Kur: Sie aus den Unternehmen rauszuschmeissen.

Und das kann nunmal nur ganz offiziell, von ganz, ganz oben passieren. Das ist ein „königlicher Akt“, keine Sache für den bestallten Hofnarren.

Und der Witz ist: Nach einer solchen Umstellung von Hierarchie auf sinnvolle Zusammenarbeit im Netzwerk sind „Organisationsrebellen“ gar nicht mehr nötig. Niemand muss „rebellieren“, um Gehör zu finden, um der richtigen Stelle im Unternehmen zum richtigen Zeitpunkt richtig unangenehme Wahrheiten um die Ohren zu hauen (oder so einzuflößen, dass er sie aufnehmen kann, die fundamentale Sozialkompetenz, man erinnert sich…).

Organisationsrebellen sind nur ein weiteres Artefakt einer kranken Unternehmensorganisation.

4 Gedanken zu “Ein Unternehmen, in dem man in gutem Kontakt ist, braucht (und bekommt) keine „Organisationsrebellen“

  1. Ein ganz klares JEIN zu dem Beitrag 🙂 Ja zu dem Aspekt der Hierarchie und gleichzeitig Nein dazu. Weil auch dann braucht es diese „Rebellen“ um nicht die nächste Hierarchie entstehen zu lassen…

    Und wiederum ja, an der Kommunikation hakt das oft und auch hier wieder ein Nein, weil definitiv und auch im Wortsinne keine „Stabsstelle“…

    Um die allgegenwärtigen Buzzwords zu vermeiden, nenne ich mal die RedTeams beim US-Militär – geschaffen um Entscheidungen in Frage zu stellen bevor! sie kommuniziert werden – jetzt kann mensch sagen institutionalisiertes Rebellentum – ja! Aber warum macht das Militär – was in punkto Führung Unternehmen teilweise weit voraus ist, sowas?? Weils keine originären Rebellen gibt…

    lg Dirk

    1. Ich denke, das Militär ist ein gutes Beispiel. – Hier handelt es sich um um ein strikt hierarchisches Gebilde, das einerseits ein Oberkommando hat, das absolute Kontrolle über alle Operationen hat, andererseits um ein Feld, in dem schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen. Zu schnell, um im Ernst- und Einzelfall abwarten zu können, bis die Informationen die Hierarchiepyramide hinaufgewandert und die Weisungen die Pyramide wieder heruntergeklettert sind.

      Wenn man wie ich davon ausgeht, dass die Zukunft der Menschheit in einer konsequenten Demilitarisierung und vollständigen Befriedung besteht, dass also die Kriegs- und Militärmetapher uns systematisch in unsere Vergangenheit führt und unsere Zukunft hinauszögert, wenn man weiter davon ausgeht, dass Hierarchie für den Menschen alles andere als „natürlich“ ist, sondern vielmehr seine natürliche Beziehungsfähigkeit systematisch blockiert, dann kann man auf den genannten Einwand sagen: Ja, stimmt alles. Für die Welt der Vergangenheit. In einer natürlichen, politischen, demokratischen Gesellschaft, wie ich sie vor Augen habe, braucht es Rebellentum einfach deswegen nicht, weil es keine Verfestigungen gibt, die mit „rebellischem Widerstand“ aufgebrochen werden.

      Das Problem ist einfach, das vielen von uns schlicht die Fantasie fehlt, was uns unter anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen möglich wäre. Es wird die gegenwärtige Erfahrung genommen und in Gedanken stabil gestellt, so als sei nichts anderes möglich. So als sei das „die menschliche Natur“.

      Daher bleibe ich dabei: Wenn Rebellentum auftritt oder gar notwendig wird, um Innovation in eine menschliche Gesellschaft hineinzubringen, dann hat mit großer Sicherheit die natürliche Beziehungsfähigkeit, das Zuhören und die Gleichwichtigkeit aller Mitglieder dieser Gesellschaft VORHER bereits künstliche Schranken auferlegt bekommen.

      Die Frage ist für mich, warum wir künstlich fixen sollen, was als Problem gar nicht erst entstehen muss. Das kommt mir umständlich vor. Auch ein wenig wie Symptombehandlung anstelle von Ursachenwürdigung. Erst künstlich verhärten, dann künstlich aufbrechen. Ökonomisch ist anders.

      Ich bin mittlerweile auch auf einem Stand für mich, an dem ich wenig Verlangen verspüre zu verargumentieren, dass es hierarchiefreie menschliche Gesellschaften gibt und dass sie auch auf Weltgesellschafts-Ebene möglich ist. Vielmehr habe ich lust zu fragen, wie wir auf die Idee kommen, dass Hierarchie ach so unvermeidlich und notwendig sei, also der Standpunkt, dass es Befehle geben müsse, Hochrangigkeit und Tiefrangigkeit, um Handlungskoordination zu erreichen und Zusammenhalt in menschlichen Gemeinschaften.

      Denn alle alltägliche Erfahrung spricht dagegen. Und auch alles psychologische Wissen, über das wir heute verfügen.

      Wer also glaubt, dass es Rebellentum braucht, lebt hochwahrscheinlich in hierarchischen Gemeinschaften mit letztlich explorativen, um nicht zu sagen ausbeuterischen und kriegerischen Zwecken. – Diese Welt kommt an ein inneres Ende: Die Zeiten von „go west“ sind vorbei, die Erde ist vollständig vermessen, die erforschbaren Himmelskörper sind rar, karg und fern. Die menschliche Gemeinschaft ist längst zu einer Weltgesellschaft zusammengewachsen, allein die demokratischen, politischen Institutionen fehlen noch, um das auch lebbar und spürbar zu machen. Aber doch gilt bereits auch heute: Es gibt kein außen mehr. Kriegsführung macht keinen Sinn, wenn es im Grunde immer ein Bürgerkrieg ist, den er anzettelt, und man hernach mit den Überlebenden zusammenleben und Gemeinschaften bilden muss.

      Wir leben also in einer Menschheitsfamilie auf einem sehr verletzlichen Planeten. Und in einer Familie gilt: Der Mensch ist sich Irritation genug. Der Mensch ist Unruhe und Störung genug.

      Erst wenn die natürliche Irritation, die Menschen für sich selbst und füreinander sind, künstlich reduziert wurde (z.B. indem Gefühle für gesellschaftliche nichtssagend und irrelevant erklärt wurden; darin sind Kriegergesellschaften sehr gut), dann entsteht ein Bedarf an künstlicher Irritation an Verstörung. Dieser Ball wird dann mal „dem Management“ und mal „internen Sondereinheiten“ und mal „exterenen Beratern“ zugeschoben. Aber immer bleibt es eins: Eine Ausfallerscheinung.

      Erst die Gefühlswahrnehmung veröden, die Sensibiltität verhärten und die offizielle Kommunikation gegen das Menschliche abdichten; und dann das stahlharte Gehäuse wieder aufbrechen und nach sensiblen Stellen und Lücken im Körperpanzer suchen: Damit können wir natürlich auch unser Leben verbringen.

      Mir allerdings erscheint das ein ziemlich sinnloses Spiel zu sein.

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