Die einzig korrekte Antwort auf diese Frage lautet natürlich: gar nicht.

Aber das nicht etwa deswegen, weil Gesellschaften als ganze keinen Therapiebedarf hätten. Gesellschaften kennen durchaus so etwas wie kollektiv angestaute, unverarbeitete Emotionen, die keineswegs dem Konto der Einzelnen, die ihre Träger sind, zuzuschreiben sind.

Und Gesellschaften kennen durchaus so etwas wie „schlechte Gewohnheiten“ und „Verrücktheiten“, und zwar in der Form von Institutionen, die Anpassungen an Situtionen sind, die längst nicht mehr in die Gegenwart passen. Früher einmal nannte man so etwas „neurotisch“. Heute hat man dafür ausgefeiltere Bezeichnungen. Der Sachverhalt bleibt aber der Gleiche: Gesellschaften sind durchaus anfällig für so etwas wie „Innovationsstau“, der sich dann oft gewalthaft entlädt, bis dahin aber reihenweise „ihre“ Menschen krank macht, physisch wie psychisch. Manchmal könnte man meinen, solche kollektive Verrücktheit ist eher die Regel als die Ausnahme.

Untherapierbarkeit von Gesellschaften

Der Grund dafür, warum „man“ keine Gesellschaften „therapieren“ kann, liegt nicht etwa darin, dass sie es nicht nötig hätten. Sondern vielmehr darin, dass es – anders als bei menschlichen Individuen – schlicht kein Subjekt oder Objekt gibt, das als „therapeutisches Gegenüber“ von Gesellschaften wirken kann.

Wenn ich als einzelner Mensch heute nicht weiter komme, mich von einer erkennbar schlechten Gewohnheit trennen will, mit der ich schon seit geraumer Zeit mir selbst und meinen Mitmenschen schade, dann kann ich mir heute einen Therapeuten oder Coach meiner Wahl suchen, jemandem dem ich zutraue, „den Raum zu halten“, „mit mir in Beziehung zu bleiben“, während er mich (genauer: ich mich) mit den Emotionen konfrontiert, die „feststecken“ und es mir in so an ein Verhalten gebundener Form erschweren, mich von diesem Verhalten zu trennen oder es umzuwandeln. Und das auch dann, wenn ich in Bezug auf dieses Verhalten schon längst rational eingesehen habe, „dass es nicht gut ist für mich“. – Möglichkeiten zu solchen therapeutischen „Interventionen“ sind bekannt. Es gibt in diesem Bereich eigentlich kaum noch große Rätsel, was hier funktioniert, wie es funktioniert, sogar warum es funktioniert. Eher eine Überfülle an Methoden, die aber alle diese beiden Elemente gemeinsam haben: 1.) Achtung auf die therapeutische Beziehung. 2.) Einbezug von körperlich fühlbaren Emotionen, so, dass sie weder „überkochen“, noch dass der Prozess emotional unterkühlt bleibt, die Einsichten also nur gedanklicher Art bleiben, das Verhalten sich aber dennoch nicht verändern kann.

Die naheligende Parallelisierung wäre ja: Gesellschaften können für andere Gesellschaften „therapeutische Sparrings-Partner“ sein. – Alle solchen Versuche, die wir bisher beobachten konnten (z.B. „Land x führt jetzt in Land y Demokratie ein“) führten allerdings zu einer Kolonialisierung. – Und das ganz einfach deswegen, weil in diesen pseudo-therapeutschen Beziehungen zwischen Gesellschaften immer ein wichtiges Moment fehlte, das für eine gute therapeutische Beziehung grundlegend ist: Der Therapeut darf dabei keine eigene Agenda haben, keine eigenen Interessen verfolgen.

Nun wäre das – theoretisch – durchaus denkbar: Eine Gesellschaft, die der anderen uneigennützig zur Seite steht. Im momentanen Zustand, ohne eine bestehende politische Weltordnung, ohne einen wirksamen, allgemein anerkannten Weltstaat, scheitert solches inter-gesellschaftliches „Therapieren“ jedoch schlicht am Problem, wie man es „den eigenen Leuten“ erklären soll, dass man für andere, „Fremde“ einfach so  Ressourcen verwendet, die doch dringend eben die eigenen Leute ebenso brauchen könnten.

So kann bei Therapie von Gesellschaft zu Gesellschaft immer nur offener oder verkappter Kolonialismus herauskommen: Man gibt vor, das Beste für den anderen zu wollen, beutet den anderen aber letztlich nur in irgendeiner Hinsicht aus (eine Hinsicht, die man „zu Hause“ eben braucht, um den Ressourceneinsatz zu rechtfertigen). Im individuellen therapeutischen Feld würden wir so etwas „Missbrauch“ nennen.

Die gleiche Analyse, die Hobbes für das Verhältnis von Individuen anstellte, gilt auch heute noch: Altruismus wird erst möglich, wenn es ein politisches Verhältnis zwischen diesen Individuen gibt. – In Bezug auf Gesellschaften hielt Hobbes dies für unmöglich, weswegen für ihn das Verhältnis zwischen Gesellschaften bleibend durch „den Kriegszustand“ bestimmt war.

Demokratie als institutionalisierte Selbstherapie der Gesellschaft

Nun stehen wir aber, mangels bestehendem Weltstaat und angesichts angenommenem Therapiebedarf von Gesellschaften, etwas verloren in der Gegend herum. Wenn weder einzelne Individuen noch andere Gesellschaften dafür sorgen können, dass sich Gesellschaften auf sinnvolle Weise wandeln, sich von alten Mustern lösen und neue Institutionen, Gesetze, Praktiken ins Leben bringen – Institutionen, Gesetze und Praktiken, die sich aber eben nicht „von alleine“ ergeben, sondern durch emotionale Ladungen ihre natürliche Evolution blockiert ist (= Therapiebedarf) -, dann könnte man an dieser Stelle auch einfach politisch verzweifeln und stattdessen „höhere Mächte“ um ihr Eingreifen anbeten…

Es gibt jedoch glücklicherweise eine weitere Antwort auf die Frage nach dem Therapiebedarf von Gesellschaften. Und diese Antwort trägt einen, in diesem Kontext, vielleicht überraschenden Namen: Sie lautet „Demokratie“.

Denn Demokratie, wenn man sie in ihrem ursprünglichen Sinne versteht, nicht in der Schwundform, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts vorläufig etabliert und ausgebreitet hat, ist eben genau das: Selbstherapie der Gesellschaft, sinnvolle Ersetzung alter Gesetze durch neue, jetzt passender Gesetze, sachorientierte, konsensuelle Reform schlecht gewordener gesellschaftlicher Gewohnheiten aka „Institutionen“.

Demokratie ist eine dauerhafte selbstherapeutische Ordnung, die genau darauf abzielt: Sich als Gesellschaft aus sich selbst heraus selbst verändern zu können, wann immer irgendwo ein Veränderungsbedarf auftritt. Demokratie ist ein auf Dauer geschalteter Anti-Traditionalismus, der nur behält, was im Moment funktioniert und der alle anderen Institutionen als veränderlich behandelt. Und das gilt auch für diejenigen Institutionen, die noch gestern als großartig und „untouchable“ galten, wenn es eben diese Institutionen sind, die heute menschliches Leid hervorrufen. Die Demokratie gewinnt diese Kraft, indem sie die Verschiedenheit ihrer Bürger systematisch nutzt und zusammenführt. Sie gewinnt die Innovationskraft aus sich selbst heraus. – Ungefähr so, wie es ein psychisch gesunder Mensch tut mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen und seinen sich verändernden Praktiken, ihnen gerecht zu werden.

Eine demokratische Gesellschaft, wenn sie denn eine ist, ist in der Lage, sich selbst zu therapieren, wann und wo immer das nötig werden mag. Sie braucht keine Therapeuten. Und wenn wir uns Therapie ohne Therapeuten nicht denken können, so könnten wir sagen: Alle ihre Bürger – gemeinsam – sind die Therapeuten einer demokratischen Gesellschaft.

Doch wie entsteht so eine Institutionalisierung permanenter gesellschaftlicher Selbsttherapie? Wie entsteht Demokratie?

All das lässt allerdings offen, wie eine solche Demokratisierung selbst entsteht. Also wie eine Gesellschaft dazu gelangt, zu einem dauerhaften selbstherapeutischen Verhältnis zu finden. Technischer: Wie diejenigen Institutionen aufkommen oder eingeführt werden, die demokratische Selbsttherapie auf Dauer stellen. – Das einzige mir näher bekannte Beispiel für eine solche Demokratisierung war jedenfalls nicht von außen eingeführt, sondern entstand nach und nach, über mehrere Reformschritte hinweg (Solon, Kleisthenes, Themistokles). – Möglicherweise ohne dass dabei „Demokratie“ je das Ziel gewesen wäre. Man achtete einfach „auf die Sache“ und hatte am Ende etwas, das man dann rückblickend anfing, „Demokratie“ zu nennen. Allerdings war man sich spätestens zum Zeitpunkt dieser Benennung der absoluten Besonderheit jenes gesellschaftlichen Verhältnisses bewusst, die man da aus Versehen geschaffen hatte.

Man wusste, dass eine Gesellschaft, die sich selbst willkürlich formen kann, eine noch nie dagewesene, eine großartige Sache ist, eine gesellschaftliche Leistung. Und man war stolz auf diese gemeinsame therapeutische Leistung.

Wir haben heute den Vorteil oder Nachteil (?), dass wir nicht die ersten sind, die so etwas entwickeln können. Wir haben nicht mehr die Naivität und politische Unschuld der antiken Griechen Athens. So wird heute Demokratie nur noch „absichtsvoll“ entstehen können.

Was aber heute die gesellschaftlichen Kräfte sein können, die bewusst eine Demokratisierung vorantreiben, ist offen. Selbst wenn diese Kräfte unbewusst und absichtslos wären, würde heute schnell erkannt und ins allgemeine Bewusstsein gehoben, worauf die Entwicklung hinausläuft. Es würden mit der Demokratisierung rein egoistische, partikuläre Absichten verbunden, selbst dort, wo die Absichten ganz andere sind. Den Berufspolitikern, die Demokratisierung vorantreiben, würde reiner Eigennutz und strategisches Kalkül unterstellt. Und genauso den Bürgerinitiativen, die sich für Demokratisierungsprojekte einsetzen. Beides würde hervorrufen, was Demokratie nicht brauchen kann: politische Feindschaft. Eben weil es einen Vorläufer gibt. Weil es das Wort „Demokratie“ bereits gibt, selbst wenn diese Bezeichnung seitdem vielfach missbraucht wurde.

Denn im Grunde ist permanente gesellschaftliche Selbsttherapie, permanente Infragestellbarkeit liebgewonnener gesellschaftlicher Gewohnheiten nichts, das für irgendwen erst einmal verlockend klingt. Erst wenn sie als Institution gegeben ist, kann rückwirkend Stolz und Affirmation entstehen. Stolz auf eine Institution, die man so nie haben wollte, als man sie noch nicht hatte.

Die Entstehung von Demokratie erscheint heute mehr denn je als ein gesellschaftliches „Wunder“.

Vielleicht sollten wir doch anfangen zu beten…

An der Entwicklung der Demokratie im klassischen Athen können wir jedenfalls sehen: Es waren sehr konkrete Probleme und Situationen, die schrittweise zur Herausbildung immer noch demokratischerer Institutionen geführt haben. Es war kein demokratischer Idealismus. Demokratie war nicht das Ziel, als Demokratie entstand. Der Begriff der Demokratie wurde nachträglich erfunden als es die Institutionen der Demokratie schon längst gegeben hatte.

Diese demokratischen Institutionen: Nutzung des Losverfahrens, bewusste Politisierung der Bürger, bewusste Durchmischung der verschiedenen Bürgergruppen bei den politischen Beratungen, sowie physische Direktheit des politischen Austauschs („Parlamentarismus“) wurden erfunden als Mittel zum Zweck der Lösung konkreter gesellschaftlicher Probleme, denen man anders nicht mehr gerecht werden konnte. Als Mittel der Gesellschaft, sich selbst von ihren eigenen schlechten Gewohnheit lösen zu können. Als Mittel der Gesellschaft sich selbst therapieren zu können, wann immer das nötig ist.