Die Aristokratie liebt Heldengeschichten. Ja, man könnte sie geradezu als diejenige Gesellschaftsform charakterisieren, die Märchen, Sagen und Legenden wörtlich nimmt und ohne Umwege über irgendwelchen Psychokram in die politische Wirklichkeit zu übersetzen versucht.

Die Aristokratie teilt uns Menschen in Helden und ihre Bewunderer, Retter und Gerettete, und das vielleicht sogar, noch bevor sie uns in Sieger und Besiegte unterteilt.

Im Vergleich dazu wirkt die Demokratie wie eine Gesellschaft ohne Helden. Und damit auch: Wenig verlockend, wenig attraktiv. Wie eine Gesellschaft ohne Glanz und Gloria.

Hans Joachim-Maaz schreibt zu dieser Beziehungsstruktur in seinem Buch „Die Liebesfalle“:

„An andere gerichtete hohe Erwartungen, die Hoffnung auf Führung, die geschürte Angst vor Feinden, die Verehrung von >>Stars<< und die Verachtung Andersdenkender oder Fremder sind wesentliche Merkmale einer Störung der Beziehung zu sich selbst infolge eines frühen Liebesmangels.

Ein großer Teil unserer Kultur basiert auf Verehrung und Erlösungshoffnung gegenüber hervorgehobenen Menschen, auf Erwartungen an die jeweilige Obrigkeit, auf Liebe durch den Partner, auf unberechtigten Optimismus für die Zukunft, auf Projektion der Schuld auf Sündenböcke und Delegation der Verantwortung. Wir wählen Politiker, die Freunde und den Partner, von denen eine gewisse Verheißung ausgeht, die aber keineswegs dazu in der Lage sind, die vorhandenen Sehnsüchte auch wirklich zu erfüllen. Sei gestatten das >>Spiel<< von Hoffnung und Enttäuschung, ohne an das eigentliche Liebesdefizit zu erinnern. Das betrifft sogar unsere politische Wahl. Den meisten Menschen ist jener Politiker lieber, der die Phrasen des gescheiterten Vorgängers aufs Neue drischt, sie höchstens in Nuancen abwandelt, statt die Politiker mit dem Mut zu notwendigen Veränderungen zu belohnen.“ (Hans-Joachim Maaz, Die Liebesfalle, S. 99 f.)

Wir lassen an dieser Stelle nur leise die Frage anklingen, ob es angesichts der Analyse nicht der naheliegendere Schluss wäre, politische Strukturen zu schaffen, die solche Projektionen gar nicht mehr triggern, anstatt sich über „die meisten Menschen“ und ihre vermeintliche demokratische Unreife zu beklagen? – Denn eine Gesellschaft, die gar keine solchen hervorgehobenen Positionen mehr institutionalisiert, könnte gerade aus eine psychologischen Perspektive als die reifere, erwachsenere und vernünftigere Gesellschaft erscheinen, ohne den Umweg über einen demokratischen Heroismus der „mutigeren Wahl“.

Denn mit einem etwas durchdachteren und auch historisch korrekteren Demokratiebegriff ist es möglich, bei der Frage nach politischen Heroismus eine sehr klare Linie zwischen Aristokratie und Demokratie zu ziehen:

Die Aristokratie hat ein Problem mit Nüchternkeit. Nüchternkeit und Streben nach Großartigkeit, Nüchternkeit und das Streben danach, sich in einem formellen oder informellen Wettstreit „als der Beste auszuzeichnen“, vertragen sich einfach schlecht.

Und das heißt, dass selbst dort, wo aristokratische Geisteshaltung und Nüchternkeit eine Verbindung eingehen – im Stoizismus -, das Streben nach Nüchternkeit zu einem Wettbewerb wird. Der philosophische Stoizismus ist ein blinder, stiller Rausch, mit dem sich der Stoiker selbst adeln und über die Massen erheben möchte, die in seiner Beschreibung „Sklaven ihrer Gefühle“ sind. Und an der unmenschlichen Unerfüllbarkeit der stoischen Haltung können dann ganze Generationen „heldenhaft scheitern“, erfüllt vom Zorn und von der Angst, die dauerhafte Lieblosigkeit zuverlässig in uns aufstauen, bis die Verzweiflung, die der Stoizismus in uns kultiviert, sich eruptiv Bahn bricht. Am Ende jedes Strebens nach Übermenschlichkeit steht zuverlässig immer die Unmenschlichkeit.

Die Demokratie, wenn wir sie konsequent institutionalisieren, hat keinen Bedarf an Helden. In der Demokratie bleiben wir verletzliche, bedürftige Menschen, auch wenn wir gerade mal stark sind, wenn wir geben, wenn wir gerade mal andere stützen. Und in der Demokratie bleiben wir auch dann würdige, ressourcenreiche Bürger, wenn wir gerade mal schwach sind, wenn wir nehmen, wenn wir die Unterstützung anderer brauchen. Die Demokratie nimmt uns in unserer Stärke und unserer Bedürftigkeit zugleich ernst. Sie unterteilt uns nicht in Menschen, die immer stark sein müssen, und Menschen, die niemals stark sein dürfen. Nur in der Demokratie bleiben wir alle menschlich. Nur in der Demokratie können wir einander so wahrnehmen, wie wir als Menschen wirklich sind.

Die Demokratie ist diejenige Staatsform, in der der Satz: „Meine Größe macht Dich nicht klein, und Deine Größe macht mich nicht klein.“ zu einer allgemeinen, institutionell abgesicherten Realität wird.

Weil die Demokratie keine Gesellschaft ist, die Wettbewerbe zwischen Menschen zu ihrer Basisoperation macht. Wohl kann es in einer Demokratie auch Wettbewerb geben; aber er wird nicht sonderlich ernst genommen. Zumindest nicht so sehr, dass über Versuche, in irgendetwas besser zu sein als andere, der bewusste Kontakt zu den vorhandenen menschlichen Bedürfnissen verlorengeht. Und auch nicht so ernst, dass darüber das innere Wertgefühl eines Menschen verletzt wird.

In einer Demokratie, die allgemeinen, unmittelbaren Austausch, authentische Rede und aufmerksames Zuhören zur grundlegenden gesellschaftlichen Basisoperation macht, bleibt aller Wettbewerb stets spielerisch.

Und das heißt auch: Es gehen weder übermenschliche Halbgötter aus ihm hervor, noch kompetenzlose, hilflose, mit offenem Mund bewundernde, völlig passiv bleibende „Untermenschen“.

Ihre Menschen sind der Demokratie schlicht zu wichtig, als dass sie – wie die Aristokratie – im großen Stil menschliche Kompetenz und menschliches Glück zunichte machen würde.