Wir Menschen sind erstaunliche Wesen. Z.B. sind wir erstaunlicherweise fähig, das Ausmaß menschlicher Verschiedenheit gleichzeitig zu unterschätzen und zu überschätzen.

Insbesondere unsere eigene Verschiedenheit von anderen Menschen.

Typischerweise glauben wir z.B. dass diese Empfindung, dieses Problem, diese Erfahrung absolut einmalig ist. Dass nur wir und einige sehr wenige andere Menschen sie hätten.

– Und die Wahrheit ist: den allermeisten anderen geht es ganz genauso. Oder nicht ganz unähnlich. Oder zumindest waren auch sie schon einmal in einer vergleichbaren Lage, in der sie sich ähnlich gefühlt haben, in der sie das gleiche Problem hatten, in der sie vergleichbare Erfahrungen gemacht haben.

Wir gehen also von einer sehr viel höheren Diversität und Besonderheit aus als sie der Fall ist. Das verbindende Band des menschlichen Lebens wird von uns hingegen immer wieder unterschätzt: Was wir bei anderen als „ebenfalls gegeben“ voraussetzen können. Wir vergrößern in unserer Wahrnehmung marginale Unterschiede und unterschätzen das Spiel von Oberfläche und Verborgenem. Wir verdinglichen andere Menschen (und uns selbst), indem wir annehmen, das, was sich in einer Situation zeigt, wäre alles, was da ist. Dass der gleiche Mensch in einer anderen Situation auch ganz anders sein kann und damit auch unzählige Ähnlichkeiten mit uns selbst sichtbar würden, bleibt für uns „situativ unsichtbar“.

Und gleichzeitig glauben wir, die allermeisten Menschen müssten doch über einen bestimmen Gegenstand auf ganz bestimmte Weise denken; oder müssten sich in einer bestimmten Situation auf ganz bestimmte Weise verhalten.

– Und die Wahrheit ist: die Meinungen dazu und die Handlungsmöglichkeiten dabei sind beinahe so vielfältig, wie es überhaupt Menschen gibt. Insbesondere dann, wenn wir berücksichtigen was diese Meinung und dieses Verhalten für einen bestimmen Menschen bedeutet: Wie sie sich in die Summe seiner bisherigen Erfahrungen und aktuellen Situation einfügt. Der Mensch selbst wird zu einem „Kontext“ dieses Details. Und dadurch verändert sich das Detail selbst ganz gewaltig. Es fängt an „zu leben“. Wenn zwei das Gleiche denken oder das Gleiche machen, dann ist es für sie nicht das Gleiche.

Wenn wir also nicht nur auf die sprachliche Äußerung oder die beobachtbare Handlung selber schauen, sondern auch darauf, wie sich das in das Gesamtgefüge eines individuellen menschlichen Lebens einfügt, was es also hier gerade bedeutet, gewinnen wir einen ganz anderen Zugriff darauf. Wir merken, dass die Unterschiede zwischen Menschen sehr viel größer sind als gedacht. Und dass insbesondere was uns eine Sache bedeutet, für einen anderen Menschen eine völlig andere Bedeutung haben kann. Menschliche Individualität und Diversität wird von uns notorisch unterschätzt und übergangen.

Die Gleichzeitigkeit unglaublicher menschlicher Ähnlichkeit und unglaublicher menschlicher Unähnlichkeit heißt für uns, dass wir einerseits mit unserem eigenen Schubladenverhalten in dieser menschlich-diversen Welt nur sehr begrenzt weit kommen. Uns entgeht unendlich viel an Möglichkeiten, indem wir die menschliche Varianz in unserem Kopf kleiner machen als sie tatsächlich ist.

Wenn wir mit „Standardlösungen“ zu agieren versuchen, wird unsere Welt für uns sehr schnell sehr eng, sehr unbefriedigend, sehr dunkel und düster. Die Unterschiede verlieren sich in den Schatten, die wir dann mit merkwürdiger Begeisterung zu malen beginnen.

Andererseits können wir uns in viel größerem Ausmaß darauf verlassen, als uns oftmals bewusst ist, dass wir menschlich keineswegs ins Leere greifen, wenn wir bereit sind,  andere Menschen in ihrer unbesonderen Besonderheit überhaupt wahrzunehmen. (Anstatt reflexartig an ihm vorbeizuschauen…). Die Ähnlichkeit zwischen uns ist hinreichend groß, die Diversität zwischen uns hinreichend klein, „um uns immer wieder ganz leicht finden zu können“.

Einsamkeit, Isolation und Unverständnis erscheinen so eher als „künstlich hergestellt“ denn als unauflösbares menschliches Schicksal.

Eine gewisse innere Vielfalt bei uns selber vorausgesetzt, sind wir auf der Grundlage der universellen menschlichen Ähnlichkeit in der Lage, mit den aller allermeisten Menschen mehr als nur halbwegs gut klar zu kommen.

Und Menschen, die ihre eigene Vielfalt aktiv zu nutzen und einzusetzen gelernt haben, sind sozusagen die lebenden Beweise dafür, dass die menschliche Diversität gleichzeitig deutlich größer und deutlich kleiner ist, als von uns anderen in vielen Situationen angenommen wird.

Situationen, in denen wir die Kluft, die uns von anderen trennt, gedanklich gewaltig ausdehnen, und in denen wir zugleich die Unterschiedlichkeit, die wir dulden und genießen können, gedanklich gewaltig einschränken.

Wie gesagt sind wir Menschen ganz erstaunliche Wesen. Wir sind in der Lage, gleichzeitig beides zu ignorieren und in der Folge doppelt darunter zu leiden: dass unsere Mitmenschen gar so anders und dass sie gar nicht so anders sind wie wir selbst.