Zweifeln lernen

Man kann ja angeblich anderen gut beibringen, was man selber gut kann. Manchmal zweifle ich, ob das wirklich stimmt.

Wie auch immer: Meine Frau kam heute von ihrer Arbeit zurück und hatte dort einen Workshop in Sachen „Networking“ gegeben. In einer Veranstaltung für die Praktikanten ihres Unternehmens. Und sie hat wirklich tolles Feedback dazu bekommen. Was mich nicht erstaunt, denn für mich ist meine Frau tatsächlich schon lange ein Networking-Hero, von der ich viel lernen durfte. Ich zweifle allerdings daran, dass wir Fähigkeiten, die wir selber besitzen, einfach mal eben so auf andere Menschen übertragen können. Aber vielleicht täusche ich mich da auch.

Wie es scheint, bin ich gut im Zweifeln. Wenig steht für mich fest, das meiste ist mir fremd. Und was mir nicht fremd ist, das ist für mich mehr eine Möglichkeit, als etwas, das zwingend so ist und nicht auch anders sein könnte.

Über „Realismus“ kann ich in den allermeisten Fällen nur herzhaft lachen.

Also kann ich wohl auch ein paar Trainingskurse in „Wie lerne ich absolut korrekt und zielstrebig zweifeln?“ geben.

Warum überhaupt Zweifeln lernen?

Das klingt natürlich einerseits spannend. Andererseits wie absoluter Stuss. Ist nicht „Gewissheit“ viel erstrebenswerter? Suchen wir nicht alle „Wahrheiten“, „Halt“, „Sicherheiten“? – Ist es nicht viel eher ein erstrebenswertes Ziel zu lernen, alle Zweifel zu überwinden, beherzt zu handeln und sich nicht beirren zu lassen?

Nun: Ja, das ist alles großartig.

Zweifel hilft wohl vor allem, wenn wir Dinge bezweifeln, die uns im Weg stehen. Durch die wir uns selbst im Weg stehen.

Was etwas öfter der Fall ist, als die meisten von uns gewöhnlich zugeben. Man schämt sich ja auch irgendwie dafür, dass man es vor allem selber ist, der sich ständig ein Bein stellt. Und nicht „die bösen Umstände“. Und nicht das „schlimme Schicksal“. Und nicht die „dummen Anderen“.

Zweifel kann Möglichkeiten erweitern oder auch überhaupt erst eröffnen. Zweifel kann im Eingeständnis bestehen, dass man so wahrscheinlich nicht weiterkommt, und wenn doch, dann in Teufels Küche.

Zweifel macht mental flexibel und führt zur Entdeckung von Dingen, die einem ansonsten für immer verborgen bleiben.

Zweifel macht sozial flexibel und erweitert den Raum der für uns möglichen Beziehungen.

Zweifel ist der natürliche Feind starker Wertungen. Und da es entschiedenes Bewerten ist, das uns für viele erfüllten Beziehungen im Weg steht, machen einen die eigenen Zweifel für andere zugänglicher und erträglicher.

Ob sie einen auch für einen selbst zugänglicher und zuträglicher machen, sei hier einmal dahingestellt. Es müssen ja nicht unbedingt „Selbstzweifel“ sein.

Was sind die Voraussetzungen, um Zweifeln zu können?

Es ist klar: Zweifel muss man sich leisten können. Und es sind gerade unsere Gewissheiten, die uns unsere Zweifel ermöglichen.

Das heißt im Klartext: Zweifeln kann jeder. Denn jeder von uns hat seine Gewissheiten.

Was die Folgefrage aufwirft, ob man Zweifeln überhaupt lernen muss, lernen kann?

Seine liebgewonnenen Wahrheiten in Frage zu stellen, das macht man ja nicht grundlos. Und vielleicht macht es einen auch verrückt, wenn man daraus eine Gewohnheit macht – und nicht etwas, dass man bei Gelegenheit macht, gezwungenermaßen.

Aber das trübt die Vorteile entschiedenen Zweifelns (s.o.) natürlich kein bisschen. Es gesellt sich vielmehr zu diesen Vorteilen dazu.

Was kann uns überhaupt vom Zweifeln abhalten?

Nach meinen Eindrücken sind die wesentlichen „Zweifel-Blockaden“ sozialer Natur: Wir haben schlicht Angst, es uns mit ganz bestimmten Menschen zu verscherzen, mit ihnen Stress oder Ärger zu bekommen, wenn wir an ganz bestimmten Glaubenssätzen zweifeln.

Unser Nicht-Zweifeln ist also in den allermeisten Fällen „vorauseilender Gehorsam“. Oder sagen wir freundlicher: Es handelt sich um Akte der Konfliktvermeidung.

Sollten wir es aber lernen zu zweifeln und dabei dennoch in gutem Kontakt mit jenen Menschen zu bleiben, denen der von uns bezweifelte Glaubenssatz die Grundlage ihres Lebens und Handelns gibt, fallen die meisten Zweifel-Blockaden weg.

Profi-Zweifler sind daher in der Regel recht charmante Menschen. Der Grund dafür ist einfach: Uncharmante Menschen können sich Zweifel auf Dauer nicht leisten. Denn dann ecken sie viel zu oft viel zu heftig an. Und das macht mit der Zeit auch den notorischsten Querdenker zu einem sehr zahmen Zweifler. Der soziale Gegenwind hat seine Infrage-Stellerei nach und nach mürbe gemacht.

Wer hingegen in Charme investiert, bekommt für seine Zweifel wenig Gegenwind. Und dafür um so mehr Interesse.

Worauf kommt es beim „korrekten und zielstrebigen Zweifeln“ vor allem anderen an?

Selbstverständlich auf das Ziel des Zweifels. – Und das gleich in doppelter Hinsicht:

1) Was genau bezweifelt wird und wie man sich dieses „Ziel des Zweifels“ aussucht.

2) Warum man zweifelt: Was das Ziel ist, das man mit dem Zweifeln verfolgt.

Wir alle haben unsere Motive und Gründe (die natürlich ebenfalls bezweifelt werden können, wovon ich als semi-professioneller Zweifler jedoch aus gutem Grund abrate). So stellt sich nur die Frage, ob Zweifel wirklich der beste Weg und das beste Mittel ist, um das zu erreichen, was wir gerade erreichen wollen? Gibt es kein besseres? Mit geringerem Aufwand und geringeren Kollateralschäden? Erreichen wir mit Zweifeln überhaupt das, was wir gerade erreichen wollen? Und in welchem Ausmaß?

Sollte feststehen, dass Zweifel als Mittel hilfreich sind, so steht das „Opfer“ des Zweifels wohl in den meisten Fällen bereits fest.

Zielloses Zweifeln betreiben nur vollkommen Verrückte.

Das Opfer des Zweifels selbst ist es also, das das wilde Monster des Zweifel geweckt hat und nun von ihm verfolgt, vertilgt und verdaut wird.

Vielleicht hat es unsere Erwartungen an es enttäuscht. Das ist wohl der häufigste Fall. Vielleicht hat es uns verletzt oder uns Angst gemacht, so dass wir nach Auswegen und Alternativen zu ihm suchen.

Was auch immer wir bezweifeln: Es hat es sich wohl redlich verdient, dass wir unser Zweifel-Monster auf es hetzen.

So kommen wir also zu dem Schluss: Jeder, ausnahmslos jeder Zweifel ist „korrekt“ und wohlbegründet. Und „zielstrebig“ ist unser Zweifel ohnehin: In was oder wen er sich einmal verbissen hat, der kommt nicht davon, ohne von ihm zerfetzt zu werden, so dass irgendjemand hernach seine Einzelteile in allen Ecken unserer Welt suchen und zusammenfegen muss. Wenn denn unsere Welt danach überhaupt noch existiert. Und nicht eine völlig andere.

Zwei Mythen über unser Menschsein

Über uns selbst erzählen wir uns viele Geschichten. Im Folgenden zwei davon, die sich scheinbar völlig zu widersprechen scheinen. Und doch sind sie beide wahr. Was die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander aufwirft…

Der Unabhängigkeits-Mythos

Der Mensch ist ein starkes, einfallsreiches, intelligentes und vor allem anderen unabhängiges Wesen: Es kann sich emanzipieren von zahlreichen Umwelten und Bedingungen.

Der Mensch wird allein geboren und er geht allein. Das beste Leben für ihn besteht in der Besinnung auf seine eigenen Stärken und zahlreichen Fähigkeiten, in ihrer Kultivierung, in ihrer Erweiterung und ihrem Ausbau.

Wenn der Mensch anderen Menschen begegnet, dann, um sich mit ihnen zu messen und sich gegen sie zu behaupten. Denn nur der Mensch ist dem Menschen ein würdiger Gegner.

Seine Würde bezieht der Mensch aus seiner Autarkie: Dass er selbständig ist und niemanden braucht.

Der Mensch kann sich ganz allein behaupten. Er kann sich allein erhalten und er kann allein, ganz für sich, seine größten Freuden finden.

Der bewunderungswürdigste Mensch ist der, der seine Mitte, seinen Frieden, seine Kraft so sehr in sich findet, dass er zwar eine Störung für alle anderen Menschen sein mag, aber von ihnen umgekehrt nicht mehr verstört werden kann.

Der Verbundenheits-Mythos

Der Mensch ist ein nacktes, verletzliches, bedürftiges und vor allem anderen abhängiges Wesen: Er wird hineingeboren in eine fundamentale Abhängigkeit von anderen Menschen.

Weder kommt der Mensch allein, noch geht der Mensch allein. Alles, was er tut, ist geformt und bestimmt vom Dasein anderer Menschen und ihrem Verhalten.

Der Mensch braucht andere Menschen. Nicht nur, um sich selbst zu erhalten und Schutz zu finden, vor anderen Menschen und den zahlreichen Wechselfällen der Natur. Sondern auch, um überhaupt Mensch zu werden und Mensch zu bleiben.

Für sich allein – verfällt der Mensch, verwirrt sich der Mensch und geht er zugrunde.

Gemeinsam jedoch mit anderen, indem er sich zu ihnen in ein gutes Verhältnis setzt: Auf sie achtet und genauso auf sich achtet, kann der Mensch Großartiges vollbringen.

Der Mensch entdeckt und spiegelt sich in anderen Menschen – und so wächst er und gewinnt an zahlreichen Seiten, Fähigkeiten und Möglichkeiten.

Seine Würde gewinnt der Mensch in der Empathie: Sich anzuerkennen und darin keinen Gegensatz zu erkennen zur Anerkennung anderer. Derart verbunden mit anderen fürchtet der Mensch nichts. Denn diese Verbundenheit trägt ihn – hindurch auch durch die größten Probleme, die furchtbarsten Verluste und den schrecklichsten Schmerz.

Der bewunderungswürdigste Mensch ist der, der seinen Frieden und seine Freuden mit anderen pflegt. Der sich nicht gestört fühlt durch die Störungen anderer. Und der die anderen nicht stört durch die Verstörung, die er für andere ist. Der genau in den Spannungen des Sich-Unterscheidenden und Sich-Ähnelnden, des Sich-Verbindenden und Sich-Trennenden seine Erfüllungen findet.

Sich Probleme machen

Es könnte scheinen, als seien wir Menschen beständig dabei, „an etwas zu arbeiten“, zu machen, zu tun. Kurz: Probleme zu lösen. Nach dem Problem gestern das heutige Problem. Und nach dem derzeitigen Problem das nächste Problem.

Diese Perspektive hat ihr gutes Recht. Immerhin setzten unsere Probleme auf unseren Bedürfnissen auf. Und unsere Bedürfnisse werden niemals enden, sondern „aus sich heraus“ immer wieder neu entstehen.

Gleichzeitig macht aber auch die genau umgekehrte Perspektive nicht wenig Sinn:

Wir Menschen sind beständig damit beschäftigt, „uns selbst Probleme zu machen“. Wir empfinden eine gewisse „Lust an Problemen“. Uns wird leicht langweilig. Und was gibt es Schöneres als ein richtig schön forderndes Problem, an dem wir uns abarbeiten können? An dem wir uns selbst erleben? An dem wir „wachsen“?

Probleme können also auch betrachtet werden als „nicht gegeben“, als „gemacht“. Mit Vorsatz.

Weil die Existenz von Problemen einen ganzen Haufen anderer Probleme löst.

Wir Menschen sind im Aufwerfen von Problemen also ganz außerordentlich „begabt“.

Und man kann, mit Blick auf die Philosophie, auch behaupten, dass es ohne Menschen gar keine Probleme gibt.

Denn was genau ist eigentlich „ein Problem“?

Die Philosophie antwortet darauf: „Ein Problem ist eine Differenz von Sein und Sollen“.

Und sie fügt an (aber das sagt sie nicht immer laut, man will ja seinen schlechten Ruf nicht vollends ruinieren): „Ein Problem ist also völlig subjektiv – Ohne einen Menschen, der sagt: Hier tritt Sein und Sollen völlig auseinander! Das hier ist ja überhaupt nicht so, wie es sein soll! gibt es überhaupt keine Probleme. Die Steine haben keine Probleme. Die Pflanzen haben keine Probleme. Die Tiere haben keine Probleme. Die Natur ganz generell hat keine Probleme. Probleme haben nur wir Menschen. Weil wir Menschen uns Probleme machen. Weil wir Menschen beständige Schlecht-Finder und Besser-Finder sind. Weil wir Menschen lebende Negationen sind.“

In dem Moment, in dem wir sagen: „Es ist wie es ist.“ Oder: „Passt schon.“ haben wir kein Problem mehr. Die Affirmation des Seins: Sich mit dem Bestehenden einfach abzufinden, ist also stets die eleganteste aller Problemlösungen.

Aber das ist wie gesagt furchtbar langweilig. Und führt uns in tausenderlei Folgeprobleme.

 

Hoffnung statt Erkenntnis: Problembeschreibungen

Über die Jahre kommt es mir so vor, als sei ein Philosophiestudium doch nützlicher, als ich es zunächst empfunden habe.

Zum Beispiel wurde in der philosophischen „Ausbildung“ großen Wert auf den Zusammenhang gelegt, dass das wichtigste in der Beziehung zwischen Problem und Lösung der Anfang, der Einstieg in die Sache ist: mit der „Problembeschreibung“ (oder „Problemanalyse“) steht und fällt alles.

Je nachdem wie ein Problem beschrieben wird, werden bestimmte Lösungen möglich oder unmöglich. Denn es gibt in der gleichen Situation beinahe unzählige Möglichkeiten, „das Problem zu verstehen und zuzuschreiben“.

Das heißt auch: Die Problembeschreibung selbst ist der Hauptteil „unlösbarer Probleme“. Sobald man eine andere Art findet, das „gleiche“ Problem zu beschreiben, werden ganz andere Handlungen und Lösungen möglich.

In der Philosophie kann man also lernen, wenn man das möchte:

Vorsicht vor Problembeschreibungen! Nicht erst Lösungen sind problematisch („funktionieren nicht“). Schon die Probleme selbst sind problematisch („funktionieren nicht“). Es gibt funktionalere und weniger funktionalere Problembeschreibungen. Denn die einen Problembeschreibungen legen uns ganz andere Lösungen nahe als die anderen. Und jede einzelne Problembeschreibung verschließt auch ganz bestimmte Lösungen, die möglich würden, würden wir schon das Problem anders beschreiben. Welche Problembeschreibung wir wählen, können wir von dem her entscheiden, ob uns die Lösungen wirklich befriedigen, die aus ihnen hervorgehen. Denn wenn wir mit den Ergebnissen unserer Lösungen nicht zufrieden sind: Dann können wir nicht nur an neuen Lösungen arbeiten, sondern vor allem auch an neuen Beschreibungen des „gleichen“ Problems.

Das spiegelt sich bei einigen modernen Therapie- und Coachingformen darin, dass sie sich Problembeschreibungen mehr oder weniger strikt verweigern und den Zusammenhang zwischen Problem und Lösung ganz generell auflösen („die Lösung hat mit dem Problem nichts zu tun“). Statt langwierigen, weitscheifenden und umfassenden Problemanalysen wird ganz direkt fokussiert, was funktioniert. Das Problem wird durch eine vorsätzliche Ignoranz für das Problem gelöst, durch ein vorsätzliches Interessen an dem, was als lösend empfunden wird. An die Stelle des Problemverstehens tritt verändertes Handeln. An die Stelle der Problemanalyse tritt die sich steigernde Befriedigung.

So „fortschrittlich“ kann die Philosophie nicht sein, ohne aufzuhören, Philosophie zu sein (was Philosophie an sich in Frage stellen kann). Aber immerhin gibt es auch innerhalb der Philosophie Unterschiede. Genauer: Im Gebrauch von Philosophien gibt es Unterschiede.

Nützlicher und unnützer Gebrauch von Philosophie / Lustvolles und lustloses Philosophieren

Der größte Unterschied, den ich z.B. zwischen „Philosophieprofis“ und „Philosophielaien“ entdecken konnte (außer dem, das letztere deutlich mehr Spaß am Lesen von philosophischen Texten haben, weil sie sie kursorisch und nicht systematisch lesen), besteht darin, dass Philosophielaien sich nur höchst selten fragen, welche verdammten Probleme der jeweilige Philosoph mit seiner verdammten Philosophie überhaupt lösen wollte. Was also „das Problem hinter den Problemen“ ist, die in seiner Philosophie aufgeworfen wird. „Die Situation des Philosophen“ bleibt für Laien sozusagen unsichtbar oder unhinterfragt.

Laien nähern sich einer Philosophie von innen und gehen ganz in ihr auf. Profis nähern sich einer Philosophie von außen, als einer von unzähligen Möglichkeiten. – So kommt es, dass eine Philosophie für Laien leicht zur einer Art Ersatzreligion oder dogmatischen Weltanschauung wird, während sie für Profis immer ein fragwürdiger Lösungsversuch bleibt. Fragwürdig deswegen, weil auch völlig andere Problembeschreibungen des „gleichen“ Problems als möglich vorausgesetzt werden bzw. bekannt sind.

In der Regel ist es die Absicht des Laien, „die Wahrheit“ zu finden. (Und oft auch mehr: Seine bereits vorhandene Wahrheit bestätigt zu finden).

In der Regel ist es die Absicht des Profis, neue Problembeschreibungen hervorzubringen. Und damit ganz andere Lösungsmöglichkeiten. Probleme, die im Idealfall besser funktionieren als die Probleme, die wir bisher hatten.

Es gibt also „Theorien“ die vorhandene, bereits gegebene „Praktiken“ bestätigen. Und es gibt „Theorien“, die vorhandene, bereits gegebene „Praktiken“ massiv erschweren und so einen Suchlauf nach neuen, anderen Praktiken freisetzen.

Wertvoll sind aus „Profi-Sicht“ nur Theorien, die zu neuen Praktiken führen. Theorien, die bereits gegebene Praktiken bestätigen und verlängern, sind für moderne Theoretiker Zeitverschwendung.

Hammer und Nägel: Mit der Lösung zu den Problemen

Oft ist der Weg aber der genau umgekehrte: Es wird eine „neue“ Lösung entdeckt, um die herum sich dann eine neue Problembeschreibung aufbaut.

So ist es mir z.B. auch mit der für mich neuen Entdeckung der aleatorischen Demokratie ergangen: In einer ganz bestimmten Situation bin ich auf diese „Lösung“ gestoßen. Und aus dem Wissen über diese Lösung haben sich unserer Situation ergeben, die (zumindest für mich) völlig neue waren. Neuartige Beschreibungen vieler unserer Probleme, die völlig unverständlich bleiben, wenn man die Lösung nicht kennt oder ihr nichts zutraut.

Erst wenn man Lösungen als hoffnungsvolle, „funktionierende“ Lösungen erfahren hat, wirken viele andere Problembeschreibungen so, als ob sie das Problem gar nicht lösen, sondern vielmehr fortschreiben wollten. Als ob es Problembeschreibungen wären, die „verliebt ins Problem“ sind. So-als-ob-Lösungen, die sich mehr mit dem Problem abfinden als es auflösen wollen. Das „Herumschlagen mit dem Problem“ wird so zu einem „Weiterbetreiben des Problems“. Denn auch Probleme wollen betrieben und erarbeitet sein.

Und auch das kennen wir aus dem Coaching:

Nicht ganz wenige Coaching-Kunden betreten den Coaching-Raum mit Problembeschreibungen, die für einen Außenstehenden überdeutlich klar machen: Solange diese Problembeschreibungen unerschüttert bleiben, werden die immer gleichen (nicht-funktionierenden) Lösungen versucht werden. – Das Problem des Kunden ist, wenn man so will, seine eigene Überassoziierung mit ganz bestimmten Problembeschreibungen. Er hält eine Möglichkeit, die Dinge zu beschreiben, für die Wahrheit. Und diese „Wahrheit“ liefert ihm nur unmögliche, leidhafte, tragische Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten.

Ein „Problem“ ist das für den Coach nur dann, wenn der Kunde sich mit dieser „Wahrheit“ nicht sonderlich wohlfühlt, wenn es ihm schlecht geht, wenn der Kunde die leise oder laute Ahnung hat, „es könnte auch besser sein“. Denn dann ist die für’s Coaching grundlegende Ambivalenz gegeben, die da sagt: Einerseits möchte ich mein Problem bitteschön behalten, andererseits: geht das bitteschön nicht auch auf eine etwas andere Weise?

Und in dem Moment, in dem der Kunde beginnt, seine Hoffnung auf eine neue Lösung zu setzen (irgendeine neue Lösung), beginnt er zugleich, sein Problem, sich selbst, ja, seine ganze Welt mit anderen Worten zu beschreiben. Durch das Vertrauen in eine neue Lösung entstehen neue Problembeschreibungen. Aus den neuen Problembeschreibungen entstehen unzählige neue Handlungsmöglichkeiten, unzählige neue Lösungen.

Es ist fast so, als ob „eine ganz neue Welt aus ihm herausbricht“. Eine Welt, die gerade eben noch völlig unsichtbar war. Übrigens oft nicht nur für ihn selber, sondern ganz genauso für den Coach. Coaching ist nicht ganz selten die gemeinsame Entdeckung völlig neuer (Handlungs-)Welten.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Richard Rorty das gemeint hat, als er eins seiner Bücher „Hoffnung statt Erkenntnis“ genannt hat. Es würde jedenfalls auch als Titel für das Prinzip der beschriebenen Vorgänge ganz gut passen.

Abnehmende-Zunehmende Selbstverständlichkeiten

Vielleicht bin ich da naiv, aber ich gehe davon aus, dass die Summe unserer persönlichen Selbstverständlichkeiten immer gleich groß ist. Und genauso, dass die Summe unserer persönlichen Unselbstverständlichkeiten immer gleich groß ist.

Die Dinge, die wir „auf stabil stellen“ und die Dinge, die wir gleichzeitig „infrage stellen“, das sind nicht mal mehr mal weniger. Sie sind immer gleich viele.

Cartesischer Unfug

Wenn das so ist, kann es für uns nie die Frage sein, wieviel wir oder ob wir feststellen / infrage stellen, sondern stets nur:

Was genau wir gerade als „gesetzt“ oder „gegeben“ betrachten – und was wir bezweifeln wollen.

Anders gesagt: Zu jedem Zeitpunkt sitzen wir auf ein paar Ästen und zu jedem Zeitpunkt sägen wir an ein paar Ästen. Und wir können uns nur aussuchen, worauf wir uns grad setzen und woran wir grade sägen. Was wir uns nicht aussuchen können, ist, dass wir grad auf irgendwas sitzen und dass wir grade an irgendetwas sägen.

Ich halte also – vielleicht naiverweise – „das totale Sitzen“ oder „das totale Sägen“ für eine Illusion. Wenn wir glauben, das zu tun, oder wenn wir uns vornehmen, das zu tun, machen wir uns (und anderen) etwas vor. Die Stillegung allen Zweifels ist ganz genauso wie die cartesische Forcierung des Zweifels uns Menschen nicht gegeben.

Das hieße auch: Entgegen dem äußeren Anschein unterscheiden wir Menschen uns nicht in „Zweifler“ und „Dogmatiker“. Ganz einfach deswegen, weil wir alle in genau gleichem Maße Zweifler und Dogmatiker sind.

Worin wir uns unterscheiden (auch von uns selbst, mit der Zeit) ist nur: Woran wir gerade zweifeln und woran wir uns gerade klammern.

Was sich ändert, ist stets nur, was wir gerade erschüttern wollen, und was wir gerade mit Zähnen und Klauen festzuhalten versuchen.

Selbstverständliches Unverständnis

In unserem Miteinander, in unseren Begegnungen, in unseren Gesprächen, in unseren Beziehungen führt das zu spannenden Effekten:

Was der eine gerade für sich verflüssigen und in die Schwebe bringen will, ist gerade das, worauf der andere für sich ein Haus bauen möchte. Oder eine hübsche Kathedrale mit allerlei Anbauten, sehr beeindruckend anzusehen.

– Und umgekehrt: Was der andere zerbombt, abträgt, zerschneidet und zerschlägt, ist gerade das, worin es sich der eine häuslich einzurichten versucht.

So stellen wir ständig wechselseitig in Frage, was uns jeweils gerade heilig ist.

Ob wir es wollen oder nicht: Wir sind füreinander lebende Zumutungen. Wir sind für einander lästig in unseren jeweiligen Unselbstverständlichkeiten und in unseren jeweiligen Selbstverständlichkeiten.

Produktiv wir das immer dann, wenn wir freundliche Zumutungen füreinander sind. Zumutungen, die überdeutlich signalisieren: „Du selbst bist fraglos mein Freund und ich bin fraglos Dein Freund, auch wenn ich Dir gerade Deinen Boden unter den Füßen wegziehe. Auch wenn Du mir gerade meinen Boden unter den Füßen wegziehst.“

Es ist die aktive Pflege einer guten unmittelbaren Beziehung, die uns als die Zumutungen, die wir füreinander sind, erträglich, spannend und wertvoll macht.

Menschen labeln – Lebendige Beziehungen

Menschen zu labeln, zu kategorisieren, in gedankliche Schubladen zu stecken, ein Klischee aus ihnen zu machen:

All das tötet ja angeblich die Beziehung. All das tötet ja angeblich einen Teil von jenem Menschen selbst.

Nun ist aber unser Gehirn ein recht „ökonomisches“ Organ. Das heißt, wir können auch sagen: „Es arbeitet nun mal so, dass es sich Schubladen zimmert und dann die Dinge, die ihm begegnen hinein zu stecken versucht. Und dass es auch recht lang an seinen selbstgezimmerten Schubladen festhält, selbst dann, wenn die ‚Dinge‘ recht deutliche Anzeichen an sich haben, dass ein Schubladenumbau angezeigt ist.“

Und das sei bei „Menschen“ eben auch nicht anders. Die Ausbildung von Bildern, von Klischees vom anderen sei also völlig normal. Der Imperativ „Du sollst Dir kein Bildnis vom anderen machen!“ sei für uns Menschen gar nicht einhaltbar.

Vielleicht geht es daher bei lebendigen Beziehungen, in denen die menschliche Vielgesichtigkeit-Ambivalenz-Komplexität Raum hat, anstatt all zu sehr reduziert zu werden, auch eher darum, dass man nicht auf den anderen einprügelt, wenn er mal vorsichtig oder mit forschem Schritt oder unbewusst aus seinem eigenen Klischee heraustritt und „ganz anders ist“?

Auch das wäre eine recht anspruchsvolle ethische Anforderung an uns. Denn natürlich fordert es uns ziemlich, gerade bei Menschen, mit denen wir uns in engen, täglichen, regelmäßigen Beziehungen sind, wenn sie mal out of their box sind. Immerhin haben wir uns darauf eingestellt, dass „sie sind wie sie eben sind“. Es ist also mindestens ein mentaler Aufwand für uns, wenn nahe Menschen „sich verändern“ oder auch nur situativ sich mal völlig anders geben als wir sie sonst immer erleben. – Oft auch ein handlungstechnischer. Und dass das so gut wie immer auch starke Gefühle in uns auslöst und uns ziemlich durcheinanderwirbelt, darüber reden wir natürlich überhaupt erst gar nicht…

So sehr wir Veränderung lieben und Abwechslung und das Neue: Wir lieben in der Regel das selbstgewählte Neue, und eben gerade nicht die Veränderung, die von Außen auf uns zukommt. Die erleben wir – zunächst – eher als Zumutung, als unverschämt, als „so haben wir aber nicht gewettet!“ Wir sind enttäuscht, dass der Andere nicht immer so ist, wie wir ihn kennen gelernt haben. Dass er auch völlig anders sein kann. Dass er ein Mensch ist. Und das verzeihen wir ihm nur schwer!

Interessant ist das auch in unserem Selbstverhältnis: Wenn wir so sprechen, dass wir auch mit uns selber eine Beziehung führen, dann ist es v.a. unser Umgang mit unserem Selbst-Labeling, der bestimmt, „ob wir wirklich mit uns selbst befreundet sind“:

Glauben wir uns wirklich die Geschichten, die wir uns (und anderen) über uns selbst erzählen? Bleiben diese Geschichten in der Schwebe? Oder müssen wir uns immer so verhalten, wie unsere Geschichten über uns behaupten, dass wir „sind“?

Möglicherweise sind es unsere Umgänge mit unserer Ausnahme von unserer Regel, die darüber bestimmt, in welchem Ausmaße wir mit uns selbst befreundet sind.

Oft sind die Schubladen, die wir uns für uns selber zimmern, Erwartungen anderer Menschen an uns eingeflossen. Die Erwartungen anderer sind sozusagen „wesentliche Bauteile“ der eigenen Schubladen. Unser Selbst-Labeling ist dann der Versuch einer „Erwartungserfüllung“, ein hochsozialer, hochkooperativer Akt.

Leider (oder glücklicherweise?) wird er zugleich auch zu einem ziemlich unproduktiven und unkonstruktiven Akt, wenn wir eigentlich unter unserem eigenen Klischee leiden. Wenn wir unser Klischee gerade einmal nicht lustvoll ausfüllen, sondern es als ein Gefängnis für unser „Selbst“ empfinden. Ein Eingesperrt-Sein, ein Seins-Verbot, für das wir zugleich oder später andere Menschen „bezahlen“ lassen. Dann ist „Pay-back-time“ und der andere weiß dann in der Regel gar nicht, wie ihm da gerade geschieht und woher das gerade überhaupt kommt. Rechnungen, die über Wochen, Monate oder Jahre aufgelaufen sind, sind eben nicht ganz so leicht nachzuvollziehen…

Gefängnisausbrüche, Brüche des eigenen Klischees, Ausflüge vom eigenen Ich können daher ebenfalls ein hochsozialer, hochkooperativer Akt sein, weil wir mit ihnen dafür sorgen, dass die Menschen, die wir lieben und schätzten, nicht später bezahlen, wenn sie nicht wissen, woher die „Rechnung“ überhaupt kommt. Dass sie hier und jetzt einen Mehraufwand haben, während die Dinge auf dem Tisch liegen und sie unmittelbar auf sie reagieren können.

Lebendige Beziehungen erfordern wohl eben doch so etwas wie „Beziehungsmut“:

Den Mut, den Anderen mit sich zu konfrontieren, mit immer noch mehr Seiten von sich, und die Reaktionen darauf auszuhalten. Die Beziehung selbst zu riskieren.

Was die Dinge bedeuten – Menschliche Pfadabhängigkeiten

Spätestens seit Hegel können wir wissen, wenn wir das wollen, dass die Subjektivität das Prinzip der Moderne ist: Das Individuum hat in der Moderne sein Eigenrecht, es bezieht seine Substanz nicht „aus irgendeinem Allgemeinen“ („etwas das, größer ist als wir selbst“), sondern vielmehr bezieht umgekehrt alles Allgemeine seine Substanz daraus, dass es „durch Individualität vermittelt ist“ bzw. dass es „Individualität zu einem größeren Ganzen zusammenführt“.

An der Individualität führt, seit ca. 200 Jahren, kein Weg mehr vorbei. Daher scheitern regelmäßig auch alle Größen („Religion“, „Nation“, etc.), die sich an der Individualität vorbeizuwanzen versuchen. Daher scheitert alles, das an unserer Individualität vorbei Realität zu gewinnen versucht.

Unsere Unternehmen bekommen das zunehmend zu spüren. Und genauso unsere heutigen Staaten. Alles, was die Würde und das Eigenrecht des Individuums mit Füßen tritt, bekommt heute erkennbar Probleme. – „Zu Recht“, wie wir mit Hegel sagen können.

Manchmal, so habe ich den Eindruck, sind wir da aber noch nicht so wirklich „auf der Höhe von uns selbst“. Für mich selber kann ich das jedenfalls unterschreiben. Denn ich neige, wie so viele von uns, zum „Objektivieren“ meiner subjektiven Wahrnehmungen, Empfindungen, Geschichten, die ich mir und anderen erzähle.

Ich sehe aber zugleich in meiner beruflichen Praxis, dass dieses Objektivieren von Bedeutungen nur sehr wenig Sinn macht, wenn wir einander begegnen: Die exakt gleichen „Dinge“ (z.B. die Trennung von einem alten Job, möglicherweise sogar nach der exakt gleichen Zahl von Jahren und äußerlich exakt gleichem Trennungsverlauf) bedeuten für unterschiedliche Menschen höchst Unterschiedliches.

Dieses Prinzip lässt sich leicht verallgemeinern: Ein Fest, ein Cafébesuch, ein Film, ein bestimmtes Essen, eine bestimmte Begegnung, ein bestimmtes Verhalten, ein bestimmter Mensch – all das bedeutet für unterschiedliche Menschen höchst Unterschiedliches. Und natürlich hat das etwas „mit ihrer Geschichte“ zu tun. Genauer: Mit den vielen Geschichten, die sie jeweils erlebt haben, die sie sich über das erzählen, was sie erlebt haben, die sie zu erleben vorhaben…

Man könnte geradezu von einer generellen „Pfadabhängigkeit“ allen menschlichen Lebens und Erlebens sprechen.

Und da wir alle sehr unterschiedliche „Wege gegangen sind“, haben auch die vermeintlich gleichen Dinge völlig unterschiedliche Bedeutungen für uns. Sie machen „anders Sinn“, anderen Sinn, weil sie sich ganz anders in meine Geschichte einfügen als in Deine.

Das kann für viel Unverständnis zwischen uns sorgen. Es kann unser Leben und vor allem unsere Zusammenleben auch unheimlich spannend und interessant machen. Denn wir können dann beieinander so gut wie nichts als „selbstverständlich“ voraussetzen. Stattdessen gibt es beieinander, miteinander viel zu entdecken. Und das immer wieder neu.

Dass es zwischen uns keine Objektivität gibt, auf die irgendeiner von uns Anspruch erheben kann, sondern nur „subjektive Erfahrungen, die zusammen kommen und sich begegnen“, können wir uns immer wieder neu vor Augen halten.

Wenn wir das tun, dann haben wir andere Gespräche. Wir haben dann ein anderes Verhältnis zueinander.

Wir haben dann keinen „Grund“ mehr, die Erfahrungen des anderen anzuzweifeln, klein zu reden, zu moralisieren, oder sonstwie vom Tisch zu fegen. Und gleichzeitig haben wir genausowenig Grund, uns selbst irgendeiner uns fremden Perspektive „zu beugen“. Stattdessen begegnen wir uns endlich wirklich, weil sowohl meine Perspektive als auch Deine Perspektive im Raum steht, und keine Perspektive die andere „vernichtet“. Wir halten einander aus. Wir erhalten einander. Wir halten unsere Verschiedenheit aus. Wir schätzen sie wert.

Im Grunde wird dann der Streit darum obsolet, „was die Dinge wirklich bedeuten“. An die Stelle solcher ermüdenden und langweiligen Streitereien können dann Neugier und Interesse aneinander treten: Es gibt dann unendlich viele Welten für uns zu entdecken, die möglicherweise mit gar nicht mal so unterschiedlichen „Dingen“ gefüllt sind, in der aber diese „gleichen“ Dinge höchst unterschiedliche Bedeutung angenommen haben und weiter annehmen.

 

Boys just wanna have fun

Some boys take a beautiful girl
And hide her away from the rest of the world
I want to be the one to walk in the sun
Oh girls they wanna have fun
Oh girls just wanna have
That’s all they really want
Some fun
When the working day is done
Oh girls, they wanna have fun
Oh girls just want to have fun (girls and boys wanna have fun, girls wanna have)
They just wanna, they just wanna
They just wanna, they just wanna, oh girl
Girls they wanna have fun
They just wanna, they just wanna
They just wanna, they just wanna, girls
They just wanna, they just wanna, oh girls
Girls just want to have fun

(Cindy Lauper: Girls just want to have fun)

Ich weiß nicht mehr, ob wir es Mitte der 1980er Jahre noch eigens betonen mussten, dass auch Frauen vor allem anderen Spaß haben wollen (möglicherweise auch schon bevor der Arbeitstag vorbei ist) und dass sie sich vor Männer hüten sollten, die sie in ein freudloses Leben ohne Spaß wegzusperren versuchen. Mittlerweile würde ich mir jedenfalls manchmal einen entsprechenden Song für uns Männer wünschen.

In meiner Arbeit – wir schreiben bald die 2020er Jahre – begegne ich heute vielen überaus braven Unternehmenssoldaten und nebenberuflichen Familienvätern, die vollständig aufgehen in ihren familiären und beruflichen Pflichten. – So dass von ihnen selbst kaum mehr etwas übrig ist.

Wenn man seinen eigenen Lebtag damit verbringt, Menschen auf der Jobsuche die Frage „was willst Du? was willst Du wirklich?“ zu stellen, ist man damit konfrontiert, dass die Folgefrage „was willst Du auf keinen Fall?“ zwar von den meisten recht leicht beantwortet werden kann. Das gleiche gilt aber nicht für die Folgefrage: „Was macht Dir wirklich Freude? Wann hast Du am meisten Spaß?“

Vielleicht mache ich mir da selber was vor, aber es erscheint mir so, dass die meisten (nicht: alle) Frauen diese Frage nach wie vor recht gut beantworten können. Zumindest für sich oder im geschützten Raum. Ihr Problem scheint eher zu sein aus diesem Wissen um die eigene Lust handelnde Konsequenzen zu ziehen. Also den eigenen Spaß an der Freud „ernst“ genug zu nehmen, um auch gezielt in genau die Richtungen zu steuern, die sie am meisten beleben, inspirieren und ihnen am besten tun. Dahin eben, wo für sie „der Spaß“ ist.

Bei den meisten (nicht: allen) Männern mache ich aber die Erfahrung, dass sie die Frage auch für sich selbst nicht mehr beantworten können. Viele Männer wissen überhaupt nicht mehr, was ihnen Spaß macht. Sie suchen ihr freudloses Heil in 100%iger Pflichterfüllung.

Das Konzept des Erwachsenwerdens für uns Männer heißt auch heute noch: Binde Dich an eine Frau, bekomme Kinder mit ihr, kümmere Dich um sie, in dem Du gesellschaftlich erfolgreich wirst und dadurch eine guter „Versorger“ sein kannst. Nebenher solltest Du in der Familie stets gut gelaunt, aufmerksam und empathisch sein, die Familie mit vielen Ideen, Ausflügen und Initiativen auflockern und inspirieren und durch Deine humorvolle Art eine gute Stimmung hineinbringen. Nebenher solltest Du Dich selber nicht hängen lassen, Dich gesund ernähren, etwas für Deinen Körper tun und irgendeinen Sport treiben. Ach, und Freundschaftspflege nicht zu vergessen: Du solltest auch noch im fortgeschrittenen Alter gute Freunde haben. Nimm Dir auch dafür genügend Zeit, sonst kommst Du auf den Hund, indem Du von Deiner Frau emotional allzu abhängig wirst. Das ist nicht gut für Dich, das ist nicht gut für alle. Außerdem wäre es schön, wenn Du Dich auch noch politisch engagierst. Auch das macht sich ja nicht von allein und Du willst ja wohl nicht die Politik all den anderen Idioten überlassen…

Fragt sich, wie viele Männer Sie kennen, die dieser „Anforderung“ halbwegs gerecht werden?

Fragt sich auch, wie viele Männer heute noch diesem „Bild von einem Mann“ gerecht zu werden versuchen.

„Der Spaß“ ist also vorbei, wenn Männer versuchen ins Konzept des Erwachsenwerdens einzusteigen, das wir ihnen in unserer Gesellschaft anbieten. Zwar sind wir Männer recht gut darin, nebenher oder unterderhand „unseren Spaß zu haben“. Doch wenn ich mir die typischen Lüstchen heutiger Männer ganz nüchtern anschaue: Spielsucht, Pornos kucken, obskure Hobbys, die verschämt betrieben werden, weil sie sich nicht sehen lassen können, gelegentliche Kneipenabstürze und Besuche bei einer Prostituierten – dann ist der Spaßfaktor im männlichen Leben in Wahrheit doch recht armselig. Im Grunde lebt der Mann „für die Arbeit“ und „für die Familie“. Und das ist, so wie wir es betreiben, kein wirklicher Spaß für ihn.

Mit all dem ist nicht gesagt, dass es erwachsenen Frauen in unserer Gesellschaft groß besser ginge. Ich könnte auch für sie eine sehr ähnliche, weitgehend lustbefreite Auflistung machen. Der fehlende Spaß von Männern an ihrem Leben hat meines Erachtens jedoch weniger Öffentlichkeit, er hat keine Lobby. Denn unser öffentliches Bild von Männern hat mit der emotionalen Lebensrealität von Männern recht wenig zu tun. „Spaß“ ist in unserem öffentlichen Bild von Männern kein Thema. Dass Männer Spaß an ihren Verpflichtungen, an der Erfüllung unserer Erwartungen an sie haben, wird schlicht und einfach vorausgesetzt. Ob Männer wirklich Spaß daran und dabei haben, das existiert in der Öffentlichkeit nicht einmal als Frage. Genauso wie Frauen finden sich Männer umstellt von gesellschaftlichen Imperativen, denen sie hinterher hecheln. Um ihre Lust, um ihre Freude geht es nicht. Es geht im männlichen Leben am Ende des langen Tages und des dann als viel zu lang empfundenen Lebens darum, „das es was hermacht“.

Die Realität und die Verbreitung des männlichen Selbstmords hat also durchaus gesellschaftlich-strukturelle und weniger „psychologische“ Gründe. Und es hat viel mit unserem sehr merkwürdigen und ziemlich menschenunfreundlichen Männlichkeitsbild zu tun. Männliche Depression sieht nur selten aus, wie wir uns eine Depression vorstellen. Und doch ist sie eher die Regel als die Ausnahme. Denn männliche Emanzipation ist kein Thema für uns.

Das einzige Angebot, das unsere Gesellschaft uns macht, wenn wir Männer sind, die „just want to have fun“, besteht darin, ewig große Jungen zu bleiben, also niemals erwachsen zu werden. Allen „Verpflichtungen“ aus dem Weg zu gehen. Unsere Gesellschaft verachtet solche Männer in wundersamer Einvernehmlichkeit.

Dennoch ist das, „das Peter-Pan-Syndrom“ vielleicht nicht das Schlechteste, wenn man den traurigen Zustand der meisten heutigen Männer in aller Ruhe auf sich wirken lässt: Vollzeit-Sklaven unserer „selbstgewählten“ Pflichten, die wir sind. Allesamt.

Human beings just wanna have fun.

Seelische Arbeitsteilung

Ich bin nun ja schon etwas länger ein Riesenfan des „Diametralen Auslebens“.

Denn es scheint mir eine viel zu kleine Lobby zu haben und daher viel zu wenig Aufmerksamkeit zu bekommen, dass es auch im Bereich des Seelischen eine lebendige Kultur der Arbeitsteilung zwischen uns gibt.

Das geht schon damit los, dass die älteren Geschwister „emotional wegarbeiten“, was dann den jüngeren Geschwistern ganz andere Freiräume im Leben ermöglicht. Einfach, weil die entsprechenden Themen, Gefühle und Haus „schon versorgt“ sind. Sie haben ihre menschlichen Träger schon gefunden. Worauf hin einige von uns sich selbst ganz neu (er-)finden können. – Und müssen.

Oder, ganz altbacken-traditionell: Frauen, die Tag für Tag die Gefühle ihrer Männer wegarbeiten. Weil wir Männer ja von unserem eigenen Gefühlsleben rein gar nichts wissen. Ja, weil wir noch nicht mal ahnen, dass wir überhaupt auch so etwas wie eine „Seele“ besitzen.

Oder, ebenfalls beliebt und gerne genutzt: Freunde, die jene Gefühle für uns ausleben, die wir selbst unterdrücken, weil wir ganz fest daran glauben, diese Gefühle seien „nicht okay“. – Danke all Ihr Lieben, dass Ihr das für mich tut! 😀

Und natürlich schwappen auch in ganzen Firmen oder Gesellschaften unsere Gefühle und seelischen Regungen hin und her, vor und zurück, eben immer gerade dahin, wo sie gerade „menschlichen Raum“ finden, um sich auszudrücken.

Von all den Psychotherapeuten und Coaches ganz zu schweigen, die schon nach kurzer Berufstätigkeit einen guten Teil der Symptome und Probleme ihrer Klienten und Kunden übernehmen. Irgendwohin muss das Zeug eben.

Ja, wir Menschen sind schon wirklich eine ganz schön eklige Masse. So viele Gefühle, so viel Unverarbeitetes, so viel Waberig-Wackelig-Weiches, wie wir es an uns und in uns haben…

Da ist es doch gut, dass immerhin einige von uns „die volle Verantwortung“ für dieses ganze Zeugs übernehmen. Dass sie übernehmen, was wir nur sehr ungern bei uns behalten wollen. So dass wir gar nicht mehr genau sagen können, wem von uns nun welches Gefühl eigentlich ganz genau gehört.

Beziehungsweise: Natürlich können wir das schon sagen. Jederzeit sogar! Nur ob der andere so freundlich ist, das dann auch für uns zu „übernehmen“, das ist damit noch lange nicht gesagt.

Nach meinen Erfahrungen gibt es aber an überaus bereitwilligen „Gefühls-Übernehmern“ keinerlei Mangel in der Welt. – Außer in unserer Politik natürlich, da ist das vollkommen anders.

Es scheint etwas überaus Lustvolles und Spannendes für uns Menschen daran zu sein, die Gefühle anderer Menschen zu übernehmen und sie für sie – stellvertretend – auszuleben.

 

Mein Leben als Snob

Es hilft nichts, es zu kaschieren: Wie wahrscheinlich ein nicht ganz kleiner Teil der Menschheit glaube ich, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.

Dieses Gefühl des „Bescheidwissens“ war ein langer Weg für mich, es ist nach meinem Empfinden „hart erarbeitet“: Durch tausend Selbstzweifel, Unsicherheiten, Ängste und Komplexe hindurch. Wie ein ewig langer Tunnel, an dessen Ende mir dann unverhoffter Weise dann doch irgendwann ein paar Lichter aufgingen.* – Um so mehr genieße ich es heute, dass ein Großteil davon sich verflüchtigt hat; und dass ein pauschales „Ahnung-Haben“ an die Stelle meiner Zweifel getreten ist.

Ich bin also auf einem guten Weg zum klassischen Alten Sack.

Solche fehlende Bescheidenheit macht mich natürlich nicht unbedingt sympathisch. Und selbst wenn ich mich über den offensichtlichen Snobismus anderer aufrege, macht das meine eigene Arroganz auch nicht wirklich besser. Wobei gerade die „Arroganz“ eine ganz erstaunliche Geschichte hinter sich hat. Ich fand es jedenfalls recht lohnenswert für mich, mich mit der Geschichte gerade dieses Begriffs auseinanderzusetzen.

Darüber hinaus stelle ich mir selbst vor allem die Frage, ob man wirklich dadurch ein Snob wird, dass man von seinen eigenen zufälligen Ansichten, Einstellungen und Verhaltensweisen recht viel hält (anders gesagt: mit sich selber im Großen und Ganzen recht zufrieden ist). – Oder ob man vielleicht doch eher dadurch zum Snob wird, dass man von den Ansichten, Einstellungen und Verhaltensweisen seiner lieben Mitmenschen recht wenig hält?

Denn zumindest rein hypothetisch wäre ja immer auch eine Lebenspraxis denkbar, in der wir überaus selbstbewusst sind (um nicht zu sagen: „mit uns selbst befreundet“), während wir zugleich auch dem Erleben, Fühlen, Denken und Können unserer Mitmenschen große Aufmerksamkeit schenken und großen Wert zumessen. Das wäre dann eine Lebenspraxis, die sich auch in einer ganz bestimmten Gesprächspraxis ausdrücken würde.

In diesem Fall wäre ich nämlich fein raus. Denn durch meinen ganz besonders schrägen Job bin ich ja ständig damit beschäftigt, die Ansichten und das Leben anderer Menschen zu achten und wichtig zu nehmen. – Sonst könnte ich diesen Beruf gar nicht ausüben. Oder zumindest nicht lustvoll. Oder zumindest nicht erfolgreich. (Was auch immer „Erfolg“ in meinem Beruf heißen mag).

Oder – und auch diese Möglichkeit kann man ja mit einem gewissen Aufwand im Auge behalten, wenn einem die Aufrechterhaltung dieser Möglichkeit den für sie nötigen Aufwand zu rechtfertigen scheint – ich bin eben doch ein 100%-iger Snob, der jedoch mit seinem persönlichen Snobismus einfach irgendwie durchkommt.

Vielleicht, weil sich viele Menschen ab und zu eben doch ganz gerne bequasseln und belehren lassen. Sogar über ihr Ureigenstes. Über das, was zunächst vor allem sie selber etwas angeht.

Und wahrscheinlich benutze ich den Begriff des „Snob“ bei all dem nicht wirklich korrekt. Wenn es denn bei diesem Begriff eine eindeutige, richtige Bedeutung überhaupt gibt. Vielleicht sind wir ja frei, Begriffen für uns, für andere eine neue Bedeutung zu geben. Wie wir es gerade brauchen. Unter Umständen. Wenn wir es geschickt anstellen und das „Momentum“ ausnutzen. Vielleicht aber auch nicht.


* Nein, diese Lichter waren wohl keine mir entgegen kommende Züge. Immerhin lebe ich noch.