Schaut man sich die Entwicklung der Demokratie mit etwas Abstand an – also die Entwicklung der antiken Demokratie – so bemerkt man zwangsläufig, dass sie erst mit einer Verlagerung der eigentlichen Entscheidungsmacht tatsächlich abgeschlossen war.

Im engeren Sinne von „Demokratie“ sprechen die Historiker bei der attischen Demokratie erst mit der faktischen Entmachtung des Areopag, des Adligen- oder Älstestenrats im antiken Athen. Ob die Polis Athen bereits vorher eine Demokratie war oder nicht, ist also eher strittig bzw. nicht ganz eindeutig zu sagen.

Parallelsiert man diese allmähliche Entwicklung der Demokratie mit unserer heutigen Situation, so kann man sagen: Ein entsprechender Vorgang wäre gegeben, wenn in unseren heutigen „Demokratien“ sich die faktische politische Macht weg von Parteien und den an sie andockenden Lobbygruppierungen der Gesellschaft verlagerte, und zunehmend mehr hinein in geloste Bürgerräte, wie wir sie bisher nur sporadisch oder bei besonderen Gelegenheiten einsetzen. Z.B. um besonderes geladene politische Fragen zu entscheiden. Oder bei eher lokale Themen. Oder um uns ein vertieftes, aber dennoch eher vage bleibendes Stimmungsbild zu möglichen zukünftigen Entwicklungen zu verschaffen.

Wir würden dann zulassen, dass demokratisch geloste Bürger wirksame kollektive Entscheidungsmacht haben. Dass sie nicht nur beratend hinzugezogen werden, sondern dass „sie wirklich was zu sagen haben“. Dass geloste Bürgergremien also zu einem Staatsfaktor werden, zu einer tragenden Säule unserer Gesellschaft und unseres politischen Systems.

Ähnlich wie in der Antike dürfte der Weg dahin ein Weg der Gewöhnung sein: Auch in der attischen Demokratie wagte man den Schritt zur Entmachtung des Areopag erst dann, als sich geloste Bürgergremien und die Ämterbesetzung per Losverfahren sich bereits über Jahrzehnte hinweg spürbar bewährt hatte.

Man belastete die Demokratie und wirklich demokratische Organe erst dann mit „Macht“, als man den Eindruck gewonnen hatte, dass sie dieser Belastung auch wirklich standhielten. Ganz ähnlich hat man es z.B. im österreichischen Bundesland Vorarlberg gemacht, bevor man gelosten Bürgerräte 2013 in den Verfassungsrang erhoben und zu einem festen Bestandteil der politischen Verfassung gemacht hat: Man „testete“ erst, ob da nicht vielleicht doch etwas ganz Schlimmes passiert, wenn man mit der Demokratie tatsächlich ernst macht.

Die Bürgerräte in Vorarlberg oder die Citizens‘ Assemblies in Irland sind sicher nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber sie sind recht ernsthafte Testreihen, ob Demokratie nicht möglicherweise doch auch in der Modernen Gesellschaft funktionieren könnte. Wie belastbar und verantwortungsvoll zufällig geloste Bürger tatsächlich sind, wenn man ihnen vor ihren Entscheidungen hinreichend Zeit, Informationsmöglichkeiten und Gelegenheit zum Austausch gibt.

Entgegen den ersten Annahmen und den starken Bedenken unserer frühmodernen Urururgroßväter.