Für die Kombination aus Macht und Empathie gibt es ein schönes Adjektiv im Deutschen: „gönnerhaft“.
Das empathische Verhalten eines Menschen, der sich in einem einseitigen Machtverhältnis gegenüber einem anderen Menschen befindet, wird von diesem stets als gönnerhaft empfunden werden. Dieses Verhältnis ist von den Intentionen der beteiligten Menschen unabhängig. Es ist auch von allen weiteren Faktoren der gegebenen Situation unabhängig. Anders gesagt: Befinden sich zwei Menschen in einer Beziehung, die von Machtasymmetrie geprägt ist, und ist der Machthabende gegenüber dem Ohnmächtigen empathisch, so verkommt diese „Empathie“ aus strukturellen Gründen immer zur mehr oder weniger verkappten Belohnung.
Empathie ist also in Verhältnissen, die von Machtasymmetrien geprägt sind, strukturell unmöglich. Das gilt stärker noch für Empathie, die der Ohnmächtige dem gegenüber an den Tag legt, der Macht über ihn hat. Diese Dynamik findet in einem eigenen Artikel die detaillierte Auseinandersetzung, die sie verdient hat.
Im Folgenden konzentriere ich mich darauf, im Detail nachvollziehbar zu machen, warum Machtasymmetrie und Empathie einander wechselseitig ausschließende Größen im menschlichen Leben sind. Dabei geht es mir um den Nachweis, dass, wer sich wie ich eine empathischere Gesellschaft wünscht, immer ein Interesse an systematischen Abbau von Machtasymmetrien haben muss, unabhängig von seiner eigenen konkreten „Position“ im Gesellschaftsgefüge; und unabhängig auch von allen weiteren Bestimmungen. Aufgrund des Allgemeinheitsanspruchs des Verhältnisses fällt diese Untersuchung auch nicht in den Bereich der Psychologie oder Soziologie, die immer nur Konkretes untersuchen können und aus guten Gründen unzulässige Verallgemeinerungen fürchten.
Ich benutze dabei erneut einen Machtbegriff, wie wir ihn in der „Gewaltfreien Kommunikation“ Marshall Rosenbergs finden. Dort hat das hier Gemeinte die Bezeichnung „Power over“. Dieser Machtbegriff ist weitgehend deckungsgleich mit der Definition von „Macht“ bei Thomas Gordon: „Fähigkeit eines Menschen, einen anderen Menschen einseitig zu etwas zu bewegen, das er möchte, indem er seine Fähigkeit zu einseitiger Bestrafung und/oder Belohnung benutzt“.
Dieser spezifische Machtbegriff hat auch starke Berührungspunkte zu den Analysen David Graebers, der in seinem Buch „Bürokratie“ zeigt, dass Gewalt das einzige Mittel ist, bei dem ein Mensch auf einen anderen Menschen einen ganz bestimmten und vorhersagbaren Effekt auslösen kann, ohne dafür gleichzeitig diesen Menschen verstehen zu müssen.
Akzeptiert man diesen Gedankengang, wird man auch annehmen müssen, dass die scheinbar so neutrale Bezahlung in Verhältnissen extremer finanzieller Ungleichheit strukturell ein Gewaltakt ist: Der Reiche muss niemals den Armen verstehen, um von ihm irgendetwas zu bekommen, was er sich gerade wünscht. Geld als nur scheinbar neutrales Mittel ist unter den Bedingungen extremer finanzieller Ungleichheit ein Mittel zur Belohnung/Bestrafung, oder in anderen Begriffen: Ein Machtmittel, das Empathie verzichtbar macht, um zu bekommen, was man bekommen möchte, solange man es sich leisten kann.
Um das Verhältnis von Macht und Empathie greifbar zu machen, können wir jedes Verhältnis durchspielen, in dem uns heute immer noch starke Machtasymmetrien begegnen. Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf drei davon und möchte zugleich die Behauptung aufrecht erhalten, dass die an diesen Beispielen gezeigten Gesetzmäßigkeiten – mutatis mutandis – auch für alle anderen Arten von Beziehungen gelten, in der Machtungleichheit strukturgebend ist.
1.) Macht und Empathie im Verhältnis Eltern-Kind
Unsere Gedanken rund um das unselige Wort „Erziehung“ kreisen nach wie vor um die wenig produktive Opposition autoritär vs. Laissez-faire. Innerhalb dieser Entgegensetzung wird vorausgesetzt, dass ein engagiertes Elternsein ohne den Einsatz von Machtmitteln undenkbar ist. Ebenso, dass ein engagiertes Elternsein möglicherweise den Einsatz von Machtmitteln verzichtbar machen könnte.
Eltern verfügen ohne Zweifel über zahlreiche Möglichkeiten „ihre“ Kinder zu belohnen und zu bestrafen. Unsere Anführungszeichen sollen hier andeuten, dass das Thema der Kinderemanzipation heute noch keinen starken Platz in unserem Bewusstsein hat, jedoch absehbar auf den Tisch kommen dürfte. Wir kommen aus gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Kinder als Besitz betrachtet wurden. Wir bewegen uns aber auf gesellschaftliche Verhältnisse zu, in dem die Anerkennung von Kindern als vollwertige Personen von Anfang an deutlich weiter gehen dürfte als wir uns das heute – mitten in der Transformation – vorstellen können.
Eltern, die die ihnen heute verfügbaren Machtmittel häufig und intensiv zum Einsatz bringen, erzielen damit zahlreiche Effekte. Einer der Effekte, den wir zuverlässig beobachten und vorhersagen können, ist der psychische Rückzug der Kinder, die ihre machtgebrauchenden Eltern in diesem Fall so weit sie vermögen von der Teilhabe an ihren innerlichen Prozessen ausschließen. Die Machtmittel, die Eltern anwenden, führen damit strukturell zunehmend dazu, dass die Eltern immer weniger verstehen können, warum ihre Kinder sich so verhalten, wie sie es eben tun und in welche konkrete, individuelle und subjektive Situation ihre Machtinterventionen eingreifen. Der große Vorteil von Machtmitteln aber ist zugleich genau dieser: Macht muss gar nicht verstehen, um gewünschte Effekte zu erzielen. Die Entfremdung ist absolut. Verständnis und Empathie der – möglicherweise durchaus wohlwollenden – Eltern sind faktisch auf einem Nullpunkt.
Besonders interessant werden die Effekte von Machteinsatz im Eltern-Kind-Verhältnis während der Pubertät der Kinder. Hier kehren sich die Machtverhältnisse nämlich aus strukturellen Gründen zugunsten der Kinder um. Dabei spielt die kleinere Rolle, dass Eltern bis zu diesem Alter der Kinder bereits „viel in sie investiert haben“. Der eigentliche Machtgrund von Kindern im Jugendalter ist vielmehr, dass Eltern dann in einer Situation sind, in der sie nur selten „Chance auf neue, andere Kinder“ haben. Das heißt: Unabhängig davon, was Kinder dann tun oder nicht tun – Die Eltern sind damit konfrontiert, dass diese Kinder die einzigen sind, die sie haben können.
Diese Machtumkehr im Eltern-Kind-Verhältnis In der Regel rächen sich Kinder, die bis zum Jugendalter durch Belohnung/Bestrafung „geführt“ wurden, intensiv an ihren Eltern. Um es mit den Worten eines befreundeten Berater-Kollegen zu sagen: „In der Jugend Deiner Kinder erntest Du, was Du bis dahin gesät hast – Im Guten wie im Schlechten“.
Natürlich steht es Eltern auch in der Jugend ihrer Kinder offen, weiter starke Machtmittel (verstärkte, drastische Strafen und Kontrollen / verstärktes Abhängig machen von finanziellen Zuwendungen und Androhung ihres Entzugs) Gebrauch zu machen. Häufig erfahren Eltern dann aber sehr deutlich, dass sie nun plötzlich am kürzeren Ende des Hebels sind und mangels Alternativen nun hochgradig erpressbar sind.
Die Frage ist nun: Müssen Kinder ebenfalls Machtmittel einsetzen, um zu bekommen, was sie möchten und brauchen? Also z.B. Belohnung der Eltern durch Teilhabe, schmeichlerische Verführung, Kokettieren mit bestimmter Kleidungs-, Bechäftigungs-, Partner- und Berufswahl. Die möglichen Mittel gehen gegen unendlich.
Eltern, die die keinesfalls zu unterschätzenden Beziehungs-Anstrengungen auf sich nehmen, auf Machtmittel so weit wie nur irgend möglich zu verzichten (bis zu jener sehr scharfen Grenze, die in der GfK „schützende Gewalt“ heißt) dürfen damit rechnen, dass sich ein wechselseitig empathisches Verhältnis zwischen Eltern und Kindern etabliert hat. – In dem Moment, in dem die Machtverhältnisse kippen: In der Jugend, profitieren sie davon.
Wir können das Eltern-Kind-Verhältnis pauschalisierend festhalten: Auch dort, wo faktisch eine massive Machtasymmetrie zwischen Menschen vorliegt, sind Beziehungen mit wechselseitiger Empathie etablierbar, lebbar und aufrecht erhaltbar. Sie leben davon, dass die Seite, die gerade am jeweils längeren Hebel sitzt, bewusst auf den Einsatz der Machtmittel verzichtet, die ihr prinzipiell durchaus zur Verfügung stehen. Stattdessen fällt eine Form von Tätigkeit an, die wir wenig euphemistisch „harte, tägliche Beziehungs-Arbeit“ nennen können, die viel Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit kostet. Alles Faktoren, die wir uns mittels des Einsatzes von Machtmitteln sparen zu können glauben.
Machtmittel sind für den Mächtigen in einer Beziehung auch deswegen dauerhaft attraktiv, weil sie schlicht und einfach effizient und effektiv zugleich sind. Solange der Mächtige nicht selbst in eine Ohnmächtige Position zu kommen droht, mag er die Kosten des Einsatzes seiner Machtmittel noch nicht einmal wahrnehmen. Spätestens aber in dem Moment, in dem sich Machtverhältnisse enden, ändert sich das aber massiv.
Das Problem im spezifischen Verhältnis Eltern-Kinder ist: Wenn wir es merken, ist es in der Regel deutlich zu spät und kann kaum mehr korrigiert werden. Es gibt wenig Erbärmlicheres aus Kindersicht als Eltern, die massiven Gebrauch von Macht machten, solange es ihnen möglich war, die aber nun, da die Macht auf Seiten der Kinder liegt, Empathie erwarten. – Auch aus diesem Grund kommt dieser Fall höchst selten vor. Die meisten Eltern versuchen in dieser Situation verzweifelt, „ihrer Linie“ treu zu bleiben. Faktisch befinden sie sich dann aber einfach in einer Situation ohne Optionen. Die elterliche Ohnmacht ist offensichtlich trotz ihrer weiterhin intensiven Versuche, Machtmittel zu gebrauchen. Wir als Eltern spielen uns dann vor allem selbst etwas vor, um unsere Ohmmachtsgefühle „operativ zu bekämpfen“. Meist auch dies mit zunehmend geringer werdendem Erfolg.
2.) Macht und Empathie im Verhältnis Chef-Mitarbeiter
Im Beziehungsgefüge Chef-Mitarbeiter tut man allen Beteiligten einen Gefallen, wenn man bei seiner Analyse nicht das große Ganze aus den Augen verliert. – „Der Chef“ ist nur relativ zu seinen Mitarbeitern ein Chef, relativ zum Unternehmen ist er in der Regel selbst ein Mitarbeiter und hat seinerseits einen Chef. Handelt es sich beim Chef um den Geschäftsführer, so ist die Frage entscheidend, ob er selbst in der Form von Investoren und Firmeneignern faktische „Vorgesetzte“ hat, die ihm gegenüber eine sehr wirksame Chefrolle einnehmen, so dass es sich bei ihm formal um den Geschäftsführer des Unternehmens handeln mag, faktisch aber auch in seinem Fall eben bloß um einen weiteren Angestellten, der – leichter und schneller als so mancher Mitarbeiter – austauschbar ist, wenn er den Herren des Unternehmens nicht gefällt.
Wir sehen sofort: Die meisten unserer heutigen Unternehmen sind bis ins tiefste Mark hinein durchzogen von „Macht“ in unserem oben definierten Sinne. Gleichgültig, was wir über sie denken, was in Websites und in Broschüren steht: Das Ausmaß von Belohnen/Bestrafen in Unternehmen entscheidet sich an ganz anderen Stellen. U.a. an der angedeuteten Stelle: Wie ist die Beziehung des Unternehmens zu Eignern/Investoren? Was sind hier die rechtlich-politischen Rahmenbedingungen? Werden Unternehmen als Handelsware wie jede andere auch betrachtet und gehandhabt? Oder begründet, ermöglicht und fördert die Gesellschaft, die sie trägt, andersartige Beziehungen zwischen Besitzern und „Geschäftsführung“, sofern es sich zwischen beiden eben nicht um die gleiche natürliche Person in Personalunion handelt?
Bezogen auf die Seite des Mitarbeiter, der mit einem Chef konfrontiert ist, stellen sich ähnliche Fragen, die allesamt entscheidend dafür sind, ob, inwieweit und in welcher Form in der Beziehung Mitarbeiter-Chef das Phänomen Macht eine Rolle spielt: Wie sieht eine Gesellschaft „Arbeit“? Welchen Druck baut sie auf den Einzelnen auf, „Arbeit zu haben“? Ist ein Mensch nur mit Arbeit oder nur mit bestimmten Arbeiten von Arbeit ein „vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft“? Welche Alternativen hat ein Mensch tatsächlich, wenn er in seinem Unternehmen mit einseitiger Macht konfrontiert wird? – Hier hilft es wenig, z.B. auf das deutsche Arbeitsrecht zu verweisen, das faktisch eine marginale Randgröße dafür darstellt, wie die Situation in Unternehmen von Menschen erlebt wird. Viel entscheidender ist die Frage nach den relevanten Alternativen, die ein Mensch subjektiv erlebt.
In diesen Kontexten, die sich sehr verschieden gestalten können, begegnen sich nun also „Chef“ und „Mitarbeiter“. Gebraucht der Chef offensiv seine gegebenen Machtmittel, ergeben sich automatisch die den meisten von uns wohl bekannten Phänomene: Der Mitarbeiter wird aufhören, sein Wissen mit seinem Chef zu teilen. An erster Stelle sein Wissen um seine inneren Zustände: um seine Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse.
Ähnlich wie im Verhältnis Eltern-Kind ist die Folge, dass nun auf der Seite des Machthabenden nur noch „uninformierte Entscheidungen“ getroffen werden können. Der Gebrauch von Macht schneidet diejenige Seite von notwendigem Wissen ab, die auf der stärkeren Seite der Machtasymmetrie angesiedelt ist. Im Fall von Chef-Mitarbeiter hat das Folgen, die über die unmittelbare Beziehung hinausgehen, aber zugleich wieder auf die Beziehung rückwirken. In der Regel geht es in Unternehmen dann um ein Spiel rund um „Schuldfragen“ für nicht-erreichte Ziele, abgesprungene Kunden, fehlerhafte Produkte, u.ä.m.
Strukturell können wir festhalten, dass der Einsatz der gegebenen Machtmittel in Unternehmen dazu führen, dass Menschen auf beiden Seiten der Machtasymmetrie beginnen, eine Absicherungsmentalität zu entwickeln. Diese „Mentalität“ hat wenig bis nichts mit den konkreten, involvierten Menschen zu tun. Sie ist in der dann gegebenen Situation ein rationales Erfordernis. Im Sinne von: Jedes antizipationsfähige Wesen würde eine solche Haltung entwickeln. Mit Sicherheit z.B. auch Artificial Intelligence (AI) die sich mit „Schuldfragen“ konfrontiert und von ihnen bedroht sähe.
Eine mittelbare Spätfolge von sowohl Wissensvorenthaltung als auch Schuldfokus ist das Unmöglich-Werden von Empathie in der Beziehung Chef-Mitarbeiter. Sofern wir für kognitive Empathie den Vorgang der Perspektivenübernahme ansetzen und für emotionale Empathie den Vorgang körperlich empfundenen Mitfühlens mit dem Anderen, werden wir keine der beiden Formen bei keinem der beiden Beziehungspartner mehr antreffen, nachdem das Spiel der Macht bereits eine Zeit lang in Gange ist. In vielen Unternehmen genügen aufgrund des gesamtgesellschaftlichen Umfelds sogar seltene Einzelereignisse, in denen von Macht Gebrauch gemacht wird, um wechselseitig Empathie nachhaltig unwahrscheinlich zu machen. – Auch hier spielt Antizipation wieder eine Rolle: Wenn sowohl Chef als auch Mitarbeiter fest damit rechnen (können), dass ihrer spezifischen Situation und ihren spezifischen Bedürfnissen keine Empathie entgegengebracht wird, wird die einseitige Pflege zur einer Art Selbstauslieferung innerhalb eines Spiels der Macht.
Empathie kann dann nur noch Schachzug innerhalb eines handfesten kalten Kriegs zwischen Mitarbeiter und Chef sein. – Und wir auch von beiden Seiten zuverlässig als genau das interpretiert.
Insofern ist es wenig überraschend, wenn Führungskräften in den Standardformen von Führungstrainings und Führungsratgebern regelmäßig empfohlen wird, ihre Gedanken und Gefühle von der Empathie mit Mitarbeitern zu lassen. – Innerhalb gegebener Rahmenbedingung ist auch das schlicht und einfach rational. Pflegt eine besonders empathisch veranlagte Führungskraft gegen solche naheliegenden Intuitionen Empathie mit Mitarbeitern, sind die spätestens mittelfristigen Folgen katastrophal für alle Beteiligten. Empathie einer Führungskraft kann das Verhältnis nicht aufheben, dass alle Mitarbeiter wissen und fest damit rechnen, dass von Machtmitteln Gebrauch gemacht wird, wenn ein Streit- oder Konfliktfall eintritt. Formulierungen wie „Jetzt hat sie ihr wahres Gesicht gezeigt“ sind noch die freundlicheren Formen der Enttäuschung, mit der Vorgesetzte konfrontiert sind, wenn sie unter hohem Aufwand und auf eigene Rechnung einen empathischen Führungsstil gepflegt haben. – Ohne systemische Unterstützung durch die „Kultur“ eines Unternehmens, die Verzicht auf den Gebrauch von Machtmitteln für den Mitarbeiter zuverlässig erwartbar macht, ist Empathie im Verhältnis von Chef und Mitarbeiter unwahrscheinlich.
Warum aber überhaupt Empathie in Unternehmen? Fehlt dort überhaupt etwas und ist sie nicht eigentlich völlig verzeichtbar, solange wir in einem Arbeitskontext sind und es um Ziele, Ergebnisse und Erfolge geht?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns kurz damit befassen, was in einem Unternehmen als „Erfolg“ gilt. – Und was in einem Unternehmen als Erfolg gelten sollte. – Wir können natürlich eine rein betriebswirtschaftliche Brille aufsetzen und die messbare Wertsteigerung eines Unternehmens auf Märkten, die mit Unternehmen handeln, als Erfolg ansetzen. Wir können aber auch vom Sinn von Unternehmen her denken, und die wirksamere oder umfassender Befriedigung von Kundenbedürfnisse zu geringeren Kosten als Unternehmenserfolg verstehen. In letzterem Fall ist Empathie unweigerlich ein Faktor. Es ist unmöglich für ein Unternehmen in diesem Sinne „erfolgreich“ zu sein, wenn es „seine Kunden nicht versteht“. Auch Innovationen sind in dieser Sichtweise das Resultat von Bedürfniserfüllungskonflikten (GfK-Sprech: „Strategie-Konflikten“): Aus der Unmöglichkeit zwei Bedürfnissen gleichzeitig mit den gegebenen Mitteln gerecht zu werden, entsteht ein natürlicher Innovationsdruck auf die Mittel. Denn die Alternative wäre dann immer nur, eines der gegebenen Bedürfnisse zu bagatellisieren und für „weniger wichtig“ zu erklären. Sprich: Jemanden zu enttäuschen oder zu verärgern.
Nehmen wir die Annahme hinzu, dass Empathie für andere Menschen, also auch für Kunden, nur möglich ist, wenn die handelnden Personen eine gute Selbstempathie pflegen, dass Selbstempathie und Anderempathie also stets gemeinsam ansteigen und gemeinsam absinken, so haben Unternehmen, die im Verhältnis Chef-Mitarbeiter einen strategischen Nachteil beim Versuch, „unternehmerisch erfolgreich zu sein.“
Dies gibt ein starkes Argument gegen den Gebrauch von Macht im Unternehmenskontext.
Dieses Argument hat allerdings keinerlei Zugkraft, solange wir von einer klassisch betriebswirtschaftlichen Definition von Erfolg ausgehen. Wertsteigerungen sind auch ohne Empahtie im Verhältnis Kunde-Mitarbeiter, im Verhältnis Chef-Mitarbeiter und im Verhältnis Investor-Manager möglich. Aus einer großen Anzahl von benennbaren Gründen, die ebenfalls über das hier umrissene Thema hinaus führen. – Für den Moment behelfen wir uns daher mit dem Verweis auf empirische Beobachtungen, die jeder von uns einfach machen kann, indem er Wertsteigerungen von Unternehmen damit vergleicht welches Empathie-Niveau er bei den betroffenen Unternehmen wahrzunehmen glaubt. Zumindest ich kann hier keinerlei zuverlässige Relation wahrnehmen. Es gibt Unternehmen mit hohem Empathie-Niveau, die Wertverluste hinnehmen müssen oder sich auf stabilem Niveau bewegen (ohne nennenswerte Wertsteigerung). Genauso gibt es Unternehmen, die mit Blick auf ihr internes und externes Empathieniveau als „Unternehmenshöllen“ bezeichnet werden können, die dabei hohe Wertzugewinne verbuchen können.
Aus diesen Gründen sind auch alle Ambitionen, anderen Menschen Anstrengungen in Richtung „menschlichere Unternehmen“ damit schmackhafter zu machen, dass diese dann auch wirtschaftlich erfolgreicher seien, zum Scheitern verurteilt. Unternehmen ohne Machtgebrauch und mit hohem Empathieniveau werden von den meisten Menschen zwar subjektiv als deutlich sinnhafter, belebender und gesünder erlebt. Wirtschaftlich schlagkräftiger sind sie nicht unbedingt. Und das u.a. deswegen, weil Empathie sich sowohl neutral als auch negativ auf bestimmte Unternehmensaktivitäten auswirken kann, mit denen sich aber faktisch hohe Wertsteigerungen auf den Unternehmensmärkten hervorrufen lassen.
Dass Macht gebrauchendes Management regelmäßig dann regelmäßig auf Probleme trifft, die Empathie gebrauchende Führung durch hohen Beziehungsaufwand vermeiden kann, fällt demgegenüber kaum ins Gewicht. Zumindest solange wie der Unternehmenswert der alles andere dominierende Fokus unseres Unternehmens ist.
Natürlich ahnen viele Menschen, dass Empathie sämtliche Vorgänge in Unternehmen, an denen Menschen in irgendeiner Form beteiligt sind, einfacher, angenehmer und schneller machen würde. Doch gegen die systemischen Effekte institutionalisierter Machtasymmetrien können sich solche Einsichten im Arbeitsalltag nur höchst selten durchsetzen. – Der wichtigste unter diesen Gründen ist wiederum unsere Antizipationsfähigkeit: Wir wissen aus Erfahrung, dass wir zwar in Einzelsituationen den Mehraufwand betreiben können, den Empathie im ersten Schritt erfordert. Aber auf Dauer können wir dieses Niveau ohne systemische Unterstützung nicht halten. Und so führt die Tugend der einen Situation zur Enttäuschung der anderen Situation. – Es ist rational, gar nicht erst Erwartungen aufkommen zu lassen, von denen man weiß, dass man sie enttäuschen muss.
Noch „fataler“ für die Möglichkeit von Empathie des Chefs für seine Mitarbeiter wirkt sich die Antizipationsfähigkeit der Mitarbeiter aus: Selbst die ehrlich gemeinteste Empathie des Vorgesetzten seinerseits mit Empathie zu beantworten, muss deswegen als unfreier Akt empfunden werden, weil am Ende immer die Möglichkeit steht, dass sich diese „Freundlichkeit“ irgendwie auf den Einsatz der vorhandenen Machtmittel auswirkt: „Der Chef wird mich seltener bestrafen und häufiger belohnen, wenn ich mich gut mit ihm stelle.“
Bleibt mit David Graeber nur festzustellen, dass für die Chef-Mitarbeiter-Beziehung das gleiche gilt wie für alle machtasymmetrischen Beziehungen: Die kognitive Empathie der Mitarbeiter für den Chef ist stets höher als die kognitive Empathie der Mitarbeiter für den Chef. Eine ohnmächtige Position zwingt zur Fähigkeit der Perspektivenübernahme. Eine Machtposition enthebt uns von der Notwendigkeit, uns in andere Menschen hineinversetzen zu müssen. Wir sparen uns das, weil wir es uns sparen können. Der Mensch ist ein ökonomisches, um nicht zu sagen: faules Wesen. – Und ich denke, das kann man keinem von uns zum Vorwurf machen.
In jedem Fall geht das bei Mitarbeitern allgemein verbreitete Wissen über die Asymmetrie kognitiver Empathie in machtasymmetrischen Beziehungen uns binnen Tagen, wenn nicht binnen Stunden verloren, sobald wir selbst von Institutionen an die längere Seite einer Machtasymmetrie „befördert“ werden.
Chefs wissen nie, wie wenig sie wissen. Chefs wissen nie, wie wenig sie über ihre Mitarbeiter wissen. Und Chefs wissen nie, wie viel ihre Mitarbeiter über all die Allzu-Menschlichkeiten des Chefs wissen.
Machtasymmetrien verunmöglichen nicht nur Empathie. Sie verdummen Menschen in Machtpositionen auch systematisch. Zumindest soweit es die menschliche Seite der Arbeit betrifft.
3.) Macht und Empathie im Verhältnis Berufspolitiker-Bürger
An dieser Stelle möchte ich etwas persönlicher werden und mit einem konkreten „Ereignis“ jüngeren Datums einsteigen: Vor zwei Tagen begegnet mir auf dem Heimweg von meiner Arbeit ein Plakat. Ein Plakat einer unserer politischen Parteien, welcher, spielt keine Rolle. Es macht keinerlei Unterschied.
Auf diesem Pakat werde ich als Bürger meines Staates eingeladen. Es kommen mehrere Politiker. Von einigen habe ich schon einmal über Medien die Namen gehört. Auf dem Plakat steht: „Wir hören Ihnen zu“.
Wer mir ein wenig näher steht, weiß, dass ich mich seit mehreren Monaten intensiver genau damit beschäftige: Wie wir in unserer Demokratie das entscheidungs-wirksame, wechselseitige Zuhören besser institutionalisieren können. Ich hätte mich also über die Botschaft jenes Plakates freuen müssen. – Habe ich aber nicht. Und die Gründe dafür haben genausowenig mit mir etwas individuell zu tun wie irgendetwas sonst, das im Raum des Politischen geschieht.
Warum also löst es Unbehagen aus, wenn uns eine unserer Parteien die Botschaft entgegenbringt, dass sie uns einlädt und uns nun wirklich wirklich Zuhören möchte?
Der Grund ist erkennbar einfach: Wir alle wissen, dass Parteien in Parlamenten einer Fraktionsdisziplin unterliegen, dass sei einen „Markenkern“ haben, dem sie treu bleiben müssen, weil sie sonst bei nächsten Wahlen „abgestraft“ werden, und dass sie sich generell in einem Raum der erbarmungslosen Konkurrenz (nach innen wie nach außen) ereignen, der keinerlei Raum für empathisches Zuhören lässt.
Parteien sind eingespannt in ein Feld der Macht und Kontrolle, das dazu dienen soll, uns vor Machtmissbrauch zu schützen. Der Erfolg dieses Systems der „Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle“ hinsichtlich seiner Schutzeffekte vor Machtmissbrauch ist, sagen wir es freundlich: so lala.
Was dieses von uns etablierte und von uns nach wie vor geduldete System dagegen sehr gut leistet ist: Empathischen Dialog zu verunmöglichen. Das geht soweit, dass wir ernsthaft glauben, „Politik“ und „Empathie“ seien einander wechselseitig ausschließende Größen des menschlichen Lebens. Stattdessen identifizieren wir „Politik“ mit „Spielen der Macht“. Man kann uns das gut nachsehen: Wir kennen es ja nicht anders.
Es ist also reiner Hohn oder eben eine sehr gönnerhafte Haltung, wenn eine politische Partei Signale des Zuhörens und der Empathie ausstrahlt. In einem Feld, das von Macht im strengen, Gordonschen Sinn geprägt ist: Belohnen/Bestrafen, ist keine Empathie zu erwarten. Wir alle wissen das.
Berufspolitiker können Empathie nur vortäuschen. Und versuchen sie auch ständig vorzutäuschen, „um wiedergewählt zu werden“. Und man kann ihnen das schlecht vorwerfen. Immerhin ist genau das ihre Aufgabe: Wiederwahl sicherzustellen. So haben wir unser derzeitiges System gebaut. – Noch die populistischste Politik, ja gerade sie, kann als verzweifelt scheiternder Versuch von Berufspolitikern angesehen werden, den einzigen empathischen Akt zu performen, der ihnen im gegebenen politischen System möglich ist: Das Spiegeln vermeintlicher Wähleremotionen. Und manche Berufspolitiker sind dabei ja durchaus treffsicherer und schauspielbegabter als andere.
Faktisch sind unsere bestehenden politischen Institutionen, die wir im Zuge eines ebenso globalen wie historischen Etikettenschwindels „demokratisch“ nennen, Formen systematischer Blockade von Empathie, soweit sie uns als Bürger betrifft. Über die Etablierung eines Systems aus Berufspolitikertum, Parteien, Wahlen und geduldetem Lobbyismus haben wir unseren politischen Raum mit Machtasymmetrien durchzogen, die uns heute ganz deutlich spürbar auf die Füße fallen:
Statt Dialog, wechselseitige Information und Austausch bekommen wir Konkurrenz, Debatte und systemischem Zwang zur Täuschung und Lüge. Mir ist wichtig, dass das nicht als moralisches Urteil über Menschen missverstanden wird. Ich halte jeden einzelnen Berufspolitiker für einen ganz normalen Menschen, „für einen von uns“. Menschen, die Berufspolitiker sind, machen nichts falsch. Sie machen nur ihren Job im Rahmen eines Systems das sie zu dem macht, was sie dann eben auch sind: Berufspolitiker, denen wir Zwänge auferlegt haben, die sie unserer Kontrolle unterwerfen sollten, die aber stattdessen den Effekt haben, Politik und Empathie zu erlebbaren Gegensätzen zu machen.
Das betrifft nicht nur das ebenso unwürdige wie politisch völlig irrelevante Geschachere um Posten oder um Koalitionsverinbarungen. Es betrifft vor allem das, was man eigentlich demokratisch nennen könnte: Unsere Selbstbeherrschung. Demokratie, wenn sie den Namen denn verdient hat, ist ein Netzwerk von Institutionen, das uns ermöglicht, uns selbst so zu beherrschen, dass wir uns allen gleichermaßen gerecht werden können. – In diesem Satz, ist das „uns“, das Objekt des Satzes ist, ein Wesen mit Gefühlen und Bedürfnissen. Ein Wesen, das Empathie braucht, damit auf seine Gefühle wirklich eingegangen und seine Bedürfnisse im Rahmen des politisch Möglichen so gut es eben gerade geht erfüllt werden. – In diesem Satz ist das „uns“, das Subjekt des Satzes ist, ein Wesen, das ebenfalls Gefühle hat und das diese Gefühlserfahrungen aktiv nutzt, um auf vorhandene Gefühle einzugehen und diese in politische Entscheidungen und Handlungen umzusetzen. Demokratie heißt, mit anderen Worten: „Mit uns selbst empathisch sein.“ Oder technischer: Echte Demokratie besteht aus einem Netz von politischen Institutionen, die es uns ermöglichen, unsere naturgegebene Empathiefähigkeit gemeinsam zu kultivieren und in verbindliche Entscheidungen zu überführen.
Wenn sich heute „Menschen von der Politik unverstanden fühlen“, so ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass hier nicht Berufspolitiker versagen, sondern dass hier unser bisheriges politisches System versagt, dass wir alle gemeinsam etablieren und in seinen jetztigen Formen dulden oder sogar mit Nachdruck bestätigen.
Politikerbashing ist daher Unsinn und trägt vielmehr selber dazu bei, ein unsinniges System am Laufen zu halten. Ein solches Bashing erweckt den Anschein, als würde es irgendeinen politischen Unterschied machen, ob nun dieser oder jener Berufspolitiker ein Amt bekleidet. Dieses Bashing hält ein künstliches Interesse an Parteien und Wahlen aufrecht. Dabei erleben wir ja, dass es weder Wahlen noch Parteien noch Mandatsträger irgendwelche relevanten Unterschiede machen. Und „relevant“ heißt hier: Unterschiede, die wir dann in unserer Lebenswelt wahrnehmen, die wir in unserem Alltag spüren. – Wir ignorieren diese immer wieder neu gemachte Erfahrung der Unterschiedslosigkeit nur geflisstenlich, weil wir uns erzählen, es gäbe keine Alternative dazu, wir müssten damit Leben und uns damit abfinden. Auch der neue Populismus, der seit 2014 viel Staub aufwirbelt, führt keineswegs zu einer Renaissance von Politik oder gar Demokratie. Er peppt nur die Show etwas auf und generiert neue Aufmerksamkeit für Vorgänge, die keinerlei Unterschiede machen. Das Wirkungsloseste, das man als politikinteressierter Mensch heute machen kann, ist: Eine neue Partei zu gründen. Es ist exakt gleich wirkungslos wie in eine vorhandene politische Partei einzutreten und sich dort „zu engagieren“.
Kein Einzelner kann die Entfremdungseffekte von Machtasymmetrien aufheben, während die Machtasymmetrien selbst fortgestehen. Und neue Machtasymmetrien zu etablieren, um andere Machtasymmetrien „in Schach zu halten“, ist völlig sinnlos, wenn es letztlich darum geht, politische Empathie ermöglichen. Die bekommt man so nämlich nicht. Was man dann bekommt: Neue Spiele der Macht, neue Kämpfe, neue Zerfleischungen, neue Konkurrenz, neue Konflikte, neue Debatten. – Für die Show ist das gut. Die braucht Ereignisse. Allerdings füttert sich diese Show selbst, als Selbstzweck. Mit unserem Leben, mit dem, was wir voneinander brauchen, mit dem, was wir tun müssten und was wir lassen müssten, um unseren Gefühlen und Bedürfnissen besser gerecht zu werden. – Mit all dem kann diese Show nichts zu tun haben. Und das völlig unabhängig davon, wer in ihr gerade auftritt. Man kann unsere Show- und Zuschauer-Demokratie also nicht den Berufspolitikern zum Vorwurf machen. Dieser Vorwurf ist völlig sinnlos. Was wir uns dagegen gemeinsam überlegen können, ist die Frage, welche besseren Institutionen wir etablieren können. Institutionen, die das leisten, was Parteien, Wahlen und Berufspolitiker aus systematischen Gründen niemals leisten können werden. Unsere Erwartung, Berufspolitiker sollten es doch auf irgendeine magisch-heroische Weise können, sie sollten „das Volk besser verstehen“ oder ähnlicher Unsinn mehr, ist pure Überforderung. Das gilt im Übrigen auch dann, wenn Berufspolitiker selbst glauben, das sei ihnen irgendwie möglich und daher ihre Aufgabe.
Kein Berufspolitiker hat den Raum oder wird ihn jemals haben, um empathisch auf Bürger eingehen zu können. Solange wir glauben, dass der Raum des Politischen ein Raum der Machtasymmetrien ist und sein muss, werden wir ein System schaffen, wie wir es derzeit haben und täglich neu in seinen Effekten auf uns sehr gut kennenlernen.
Empathie kann nur zwischen Bürgern entstehen: Als Freie und Gleiche, in einem Raum, der vorhandene Machtasymmetrien systematisch ausschaltet anstatt sie im (dann überflüssigen) Raum des Politischen noch einmal 1:1 abzubilden und fortzusetzen.
Wenn ich als Mensch spreche, dem man ermöglicht hat, politische Philosophie studieren zu dürfen, dann würde ich sagen: Wir haben derzeit nicht nur keine Demokratie. Wir haben derzeit nicht einmal Politik. Wir nennen zwar das, was sich rundherum um Parteien, Wahlen, Berufspolitiker und weitere, damit zusammenhängende Institutionen abspielt „Demokratie“ und „Politik“. Worte allein stellen aber keine Sachverhalte her, schließlich sind wir keine Zauberkünstler, auch nicht dann, wenn man unsere kollektiven Fähigkeiten zur kollektiver Selbsthypnose abruft.
Der Raum des Politischen braucht, damit er überhaupt erst entsteht, Orte relevanter Begegnung, relevanten Austauschs, relevanten Dialogs. Und „relevant“ heißt hier wie immer im Fall von Empathie: Sie hat Konsequenzen im Entscheiden und Handeln.
Sieht man auf das systematische Verhältnis von Macht und Empathie, so wird klar, dass verfassungsmäßige Institutionen, wie sie beispielsweise das Land Vorarlberg in Österreich geschaffen hat, nur ein Anfang sein können.
4.) Warum Empathie heute wichtiger für uns geworden ist – Und Macht heute fatale Konsequenzen für uns hat
Empathie bedeutet für uns als Menschen nicht nur etwas Oberflächliches, Gefühliges, das am Rande unseres Bewusstseins geschieht. Vielmehr ist Empathie für uns eine zentrale Erfahrung, sowohl wenn sie gegeben ist als auch wenn uns ein Mangeln an Empathie entgegenschlägt.
Empathie entegegengebracht zu bekommen, bedeutet für uns: Wir gehören dazu, wir sind wichtig, wir zählen. Das ist in unserer heutigen Gesellschaft möglicherweise deutlich wichtiger für uns als annodazumals in Stammesgesellschaften, in der menschliche Gemeinschaftszugehörigkeit absolut war. Heute gehört jeder von uns von Geburt an mehreren Gemeinschaften und sozialen Kreisen an. Und in jeder ist seine Zugehörigkeit fragwürdig, kann erlöschen oder erneuert werden. Positiv gesprochen verteilen sich die Zugehörigkeitsbedürfnisse, die eine menschliche Eigentümlichkeit sind, in unserer heutigen Gesellschaft stets auf mehrere Gemeinschaften und geben uns daher Optionen und machen uns von diesen Gemeinschaften unabhängiger. Dies ist auch der eigentliche Fortschritt moderner Gesellschaften und vielleicht der Kern dessen, was wir manchmal „Emanzipation“ nennen.
Für unsere fundamentalen Wünsche nach Zugehörigkeit ist das zugleich aber auch eine Situation, die emotional als bedrohlich empfunden wird. Wir leben in einer Welt bedingter Zugehörigkeiten. Und auch wenn die Möglichkeit, „die Gemeinschaft zu wechseln“ uns Freiheit gegenüber diesen Gemeinschaften verschafft, ist diese Freiheit bezogen auf unsere emotionalen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit niemals für sich allein schon beruhigend für uns. – Damit sie beruhigend ist, brauchen wir mindestens eine Gemeinschaft, in der wir fest damit rechnen können, dass uns Empathie entgegengebracht wird, wann immer wir sie brauchen. Viele Menschen suchen diese Empathie in privaten Beziehungen, bei Freunden und in ihren Familien. Nicht ganz so viele Menschen finden sie dort in der Form, die sie dort suchen und bräuchten.
Unter diesen Umständen kann sich Empathie nie in einem rein gefühlsmäßigem Austausch erschöpfen. Jedes Signal anderer, das uns sagt: „Ich verstehe“, wird als nur vorgeschoben, als Heuchelei oder eben als unempathisch empfunden, wenn es nicht in entsprechende Handlungen mündet, die das Gleiche ausdrücken. – Empathie hat Konsequenzen im Handeln. Das Gespräch und der emotionale Austausch über Bedürfnisse hat allein den Zweck, Handlungen zu ermöglichen, die uns eigentlich Empathie bedeuten: Dinge, die uns dann nicht (mehr) angetan werden. Bedürfnisse, denen der andere dann besser gerecht wird.
Dass Empathie anderes Handeln bedeutet wird besonders deutlich dort, wo wir heute aus systemischen Gründen nicht mehr mit Empathie rechnen, weil wir dort Macht institutionalisiert haben, also z.B. in unseren Unternehmen oder in unserer Politik. Während die Frage, wie viel Empathie und erlebte Zugehörigkeit ich in meiner Familie gebe und bekomme, größere individuelle Spielräume zu haben scheint, sind in den beiden anderen Verhältnissen den individuellen Spielräumen strukturelle Grenzen gesetzt.
Wenn beispielsweise in Unternehmen „Mitarbeiterbefragungen“ durchgeführt werden, so ist die für uns über Empathie/Macht entscheidende Frage, ob unsere Antworten auf die uns dort gestellten Fragen auch Konsequenzen haben. Ob also Entscheidungen anders getroffen oder revidiet werden, weil wir signalisiert haben, dass bestimmte Dinge für uns wichtig sind, uns als emotionale, bedürftige Wesen berühren.
Oft ist bereits die Form, in der uns diese Fragen erreichen, ein starkes Machtsignal/ein Anti-Empathie-Signal. Uns wird vermittelt, dass wir nicht wichtig sind, dass wir nicht zählen, dass unsere Zugehörigkeit einer extremen Bedingtheit unterliegt: Sie kann jederzeit in Frage gestellt werden. Das ist auch der Hauptgrund für das Phänomen der „inneren Kündigung“ oder zahlreicher Stressphänomene, die heute im Arbeitskontext auftauchen. Im Grunde erleben wir Mitarbeiterbefragungen oft als Heuchlerisch oder als Gönnerhaft. Empathisch wäre, wenn wir schon die Fragen mitbestimmen könnten, die uns dort gestellt werden. Und wichtiger noch: Wenn wir sicher sein könnten, dass unsere Antworten wichtigste Größe bei anstehenden Entscheidungen wären. – Ich weiß nicht, wie oft Sie beides bisher in Unternehmen erlebt haben. Ich persönlich habe das noch nie erlebt. Ich weiß aber, dass es Unternehmen gibt, die diesen Weg eingeschlagen haben, ohne sich dabei betriebswirtschaftlich zu Grunde zu richten. Es ist also nicht nur rein theoretisch, sondern rein praktisch möglich, Macht aus Unternehmen zu verbannen und in Unternehmen Empathie und stabile Empfindungen von Zugehörigkeit zu institutionalisieren, ohne dass daraus eine reine Show-Veranstaltung wird, die nur Mittel ist, dass eine Machtasymmetrie vordergründig angenehmer gestaltet wird, sich in Wahrheit aber noch deutlich perfider auf uns auswirkt als offene Diktatur oder offenes Durchregieren.
Ähnliches gilt – wie wir oben in Abschnitt 3.) gesehen haben – auch für die Politik. Weit entfernt davon, dass sich Politik „um Macht dreht“, wie wir oft glauben, weil wir es schlicht nicht anders kennengelernt haben, ist es selbstverständlich möglich, dass Macht aus dem Raum der Politik verbannt und Empathie dort kultiviert wird. Es gibt sogar namhafte politische Theoretiker, die behaupten, dass der Raum des Politischen überhaupt dort erst beginnt, wo wir auf Machtmittel verzichten und empathischer Austausch über das, was uns alle gemeinsam betrifft, an der Tagesordnung ist.
Auch hier ist es so, dass wir alle sofort und sehr eindeutig zwischen „nur vorgetäuschter Empathie“ und „echter Empathie“ unterscheiden können. Und genauso wie im Privatbereich und in Unternehmen so schauen wir auch hier auf die Handlungen, die sich an unseren vorgeblich empathischen Austausch anschließen. Erst die Handlungen, ob Konsequenzen gezogen werden, entscheiden rückwirkend darüber, ob wir den vorausgegangenen Austausch als „wirklich empathisch“ erleben. Empathie ist kein Selbstzweck. Sie ist Mittel zur Zugehörigkeit genauso wie Mittel zur besseren Handlungskoordination zwischen uns allen. Ohne Empathie fühlen wir uns nicht zugehörig, sind „politikverdrossen“ und desengagiert, ganz einfach deswegen, weil sich unser politisches System auch nicht wirklich auf uns einlässt, sich nicht mit uns und durch uns engagiert. Ohne Empathie ist aber auch keine gute Handlungskoordination zwischen uns als Bürgern möglich. Sofern wir unsere demokratischen Institutionen als Mittel zur bestmöglichen Handlungskoordination verstehen, kann Macht dort keinen Platz haben. Denn Macht blockiert die Möglichkeit empathischen Austauschs systematisch und macht empathischen Austausch stets zur reinen Show. Wir brauchen daher verfassungsmäßige und handlungswirksame Institutionen, die Machtasymmetrien systematisch ausschalten und dadurch Räume zu wechselseitig empathischem Austausch schaffen. Einem aneinander interessierten Austausch „auf Augenhöhe“, wie es so schön heißt.
Diese Institutionen fehlen uns heute immer noch. Und sie fehlen schmerzhaft.
5.) Ableitung allgemeiner Konsequenzen aus den erfahrenen Verhältnissen von Macht und Empathie
Diese Ausführungen zum Verhältnis von Macht und Empathie haben einen großen Pferdefuß: Sie setzen voraus, dass er Leser eigene Erfahrungen mit der großartigen Wirkung von Empathie in Beziehungen hat, auch in sogenannten „schwierigen Situationen“ und unter widrigsten Umständen.
Diese Voraussetzung ist meiner Ansicht nach recht gewagt. Im Grunde kann man es nicht einfach für selbstverständlich setzen, dass Menschen eigene Erfahrungen mit gewalt- und machtfreien Beziehungen machen konnten. Dazu sind Phänomene von Machtasymmetrie viel zu verbreitet und zu normal in unseren derzeitigen Gesellschaftsformen.
Es bleibt also möglicherweise eine leere Aussage und ein ungedeckter Scheck, wenn ich sage: Empathische, machtfreie Beziehungen sind der Anfang und das Ende aller wirklich guten Dinge, die wir als Menschen erfahren können. – Und Machtasymmetrien können als „Wurzel alles menschenverursachten Übels“ identifiziert werden, also jener Probleme, deren Lösung wir selbst in der Hand haben und die in einem umfassenden Sinn „vermeidbar“ sind.
Ich selbst lebe in einer Welt, in der selbst eine gedachte, „ideale“ Gesellschaft noch lang kein „Paradies auf Erden“ ist. Ich halte es auch für völlig ausgeschlossen, dass ein solcher Zustand jemals erreicht werden kann. Ich bin mir zudem sicher, dass ein solcher Zustand nicht einmal erstrebenswert wäre, wenn er für uns erreichbar wäre. – All das hat keine Bedeutung für das Problem der gezielten Aufhebung von Machtasymmetrien, wo auch immer sie gerade auftreten oder sich etabliert haben mögen. Eher schon kann man auf das Problem eingehen, ob es uns denn langweilig würde in einer solchen Gesellschaft, die die systematische Aufhebung von Machtasymmetrien als kulturellen Grundkonsens hat. Doch auch das halte ich für sehr unwahrscheinlich: Es wird immer hinreichend viele uns Menschen unverfügbare Probleme geben, an denen wir uns abarbeiten werden. Wir haben auch dann „genügend zu tun“, wenn wir unsere vermeidbaren Probleme gezielt vom Tisch bringen, was ebenfalls eine bleibende Arbeit sein dürfte. Denn Machtasymmetrien werden nicht nur „vererbt“ und „pflanzen sich fort“. Sie werden auch immer wieder neu, spontan aus sich heraus entstehen. Mit allen Verhaltensanreizen und Selbststabilierungstendenzen, die oben angedeutet wurden.
Gemeinsam auf einem Planeten durchs kalte All rasend, einem Planeten, der nur oberflächlich gesehen menschen- und lebensfreundlich ist, sind gute zwischenmenschliche Beziehungen das, was uns Geborgenheit, Sinn, Ziel und Halt gibt, während wir gemeinsam sowohl ums Überleben wie um die vielfältigen Formen eines „guten Lebens“ ringen. Dieses „planetare Bewusstsein“ ist neu. Es ist ein Novum in der Menschheitsgeschichte. Ich denke, dass der neuartige Blick auf „uns“, der erst vor Kurzem möglich geworden ist, mit einem neuartigen Blick auf Beziehungen, das Phänomen Empathie und das Phänomen Machtasymmetrien korrespondiert.
Und ich halte es für sicher, dass die Welt von morgen nicht die Welt von heute sein wird. Ob sie sich uns als „Fortschritt“ darstellt und uns damit rückblickend als „rückschrittlich“ verstehen muss, ist sicher nicht gewiss. Aber wir können genau das als unsere gemeinsame Aufgabe verstehen.
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