Warum eine #Wahlpflicht die Repräsentationskrise unserer Demokratie nicht löst

Unsere Demokratie befindet sich in zwei Krisen: Einer Repräsentationskrise und einer Innovationskrise.

Die Repräsentationskrise hat mit dem von uns gewählten Prinzip der Repräsentation selbst zu tun: Allgemeine Abstimmung über Parteien und Personen, die dadurch in ein Feld politischer Konkurrenz geschickt werden, die uns aber alle gleichermaßen repräsentieren und dazu dann am Ende doch irgendwie zusammenarbeiten sollen. Diese Methode der Repräsentation benachteiligt Menschen ohne Eigentum und ohne Studium systematisch und schließt sie überaus wirksam vom politischen Prozess aus. – Es sind gleich drei Effekte, durch die wohlhabende Menschen in unserer finanziell stark ungleichen Gesellschaft im derzeitigen politischen Prozess zu Alleinregierenden gemacht werden. Und alle drei Effekte fachen jede für sich die bestehende Repräsentationskrise unserer Demokratie an:

  • Wohlhabende Menschen gehen rein statistisch deutlich mehr und deutlich regelmäßiger zu Wahlen als Menschen ohne nennenswertes Eigentum. Sie sind weit überrepräsentiert im Vergleich ihrer Zahl in der Bevölkerung und führen damit die eigentliche demokratische Absicht hinter dem Prinzip „one person – one vote“ ad absurdum. Dieser Effekt: Die so entstehende Repräsentationslücke entlang Eigentum/Kein Eigentum hat die letzten Jahrzehnte kontinuierlich zugenommen. Die Bundestagswahl 2017, die angefacht durch das Auftreten der AfD, ein neues, breiteres Interesse an Politik geweckt hat, könnte aber einen Ausreisser von diesem Trend darstellen.
  • Wohlhabende Menschen werden häufiger gewählt und sind statistisch weit überrepräsentiert sowohl im Bundestag als auch in allen anderen unserer politischen Institutionen. – Die Frage, ob Menschen, die selber reich und studiert sind, und beinahe ausnahmslos Freunde, Bekannte und Verwandte haben, die ebenfalls reich und studiert sind, Menschen repräsentieren können, die aus völlig anderen Schichten kommen, in denen sie mit unserem Gemeinwesen völlig andere Erfahrungen machen, wird zwar manchmal gestellt, jedoch werden bisher keinerlei institutionelle Konsequenzen aus diesem Repräsentationsproblem gezogen.
  • Gleich welche Politiker gleich welcher Parteien gewählt werden: Sie werden vom Start weg bis hin zu den Aussichten auf ihr persönliches Wohlergehen nach den Ausscheiden von ihren demokratischen Ämtern intensivst von Lobbygruppen bearbeitet. – Hinter diesen Lobbygruppen stecken wiederum ganz überwiegend: Menschen mit viel Eigentum und viel Geld, die es sich eben leisten können, dass ihre spezifischen Interessen durch bezahlte Lobbyisten vertreten werden, die gewählten Politikern bestimmte Entscheidungen und Maßnahmen nahelegen, aufbereiten und „schmackhaft“ machen.

Aufgrund aller 3 Effekte können wir feststellen, dass die politischen Bedürfnisse und Wünsche von Menschen ohne oder mit nur sehr geringem Eigentum in unseren derzeitigen demokratischen Prozessen nicht vertreten werden. Dieser Effekt darf mittlerweile als wissenschaftlich nachgewiesen gelten und ist im Grunde unstrittig, auch wenn er in der politischen Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit bekommt im Vergleich zu vielen anderen Themen, mit denen wir politisch beschäftigt sind. Das System selbst, nicht einzelne Menschen in ihm, lenkt uns ab davon, das System selbst in den Blick zu nehmen. Wer ständig mit vermeintlich wichtigen „politischen Themen“ vollgeballert wird: Wer bekommt nun in der neuen Regierung welchen Posten und was tut sich da eigentlich gerade intern bei Partei XY, der kommt kaum mehr dazu, das politische System selbst zum politischen Thema zu machen. Vor allem aber können Menschen in Parteien wenig Interesse daran, die negativen Effekte von Parteien und Wahlen zu einem zentralen Teil ihrer politischen Agenda zu machen. Probleme, die Parteien und Wahlen selber erzeugen, können nur außerparteisch und allparteilich verhandelt werde.

Dieser Effekt ist völlig unabhängig von irgendwelchen Absichten irgendwelcher Menschen, er ist, wie man so schön sagt: „systemisch“. Daher taugt der Gedanke auch nicht zur Befeuerung irgendwelcher naiver Verschwörungstheorien, die immer und überall Strippenzieher vermuten, weil sie sich Systemeffekte nicht vorstellen können und daher alles, was nicht wirklich rund läuft auf unserer Welt ein paar Oberbösewichte als letzte Ursache braucht. „Hollywoodisierung unserer politischen Vorstellungswelt“ könnte man das nennen. Sie ähnelt der Gedankenwelt des christlichen Spätplatonismus: Es muss es immer irgendwo eine letzte Ursache geben, und am besten personalisiert man sie auch noch. Dort war der liebe Gott letzte Ursache der Welt, heute sind böse Menschen die Letztursache unguter politischer Effekte. Nun ja.

Bezogen auf die Frage, warum ärmere Menschen in unserer Gesellschaft weniger zur Wahl gehen, können wir jedenfalls von einem „zirkulären System“ sprechen, in dem die Frage nach „was war zuerst da Henne oder Ei“ wenig Sinn macht. Gleich ob arme Menschen weniger wählen, weil sie sich nicht repräsentiert fühlen, oder ob sie weniger repräsentiert werden, weil sie weniger wählen: Fakt bleibt, dass sie in einer Demokratie, die politische Parteibildung und Wahlen zum Prinzip demokratischer Repräsentation gemacht wird, keine politische Repräsentation finden.

In vielen Erörterungen der Wahlpflicht schwingt mit, ob es denn überhaupt wünschenswert sei, dass Menschen, die „arm und ungebildet“ sind, in unseren demokratischen Prozessen Repräsentanz finden sollen. – Ich kann mir keinen undemokratischeren Gedanken vorstellen als eben diesen. Er beruht auf einem uralten Vorurteil, dass heute leider noch von vielen reichen Menschen mit akademischem Abschluss geteilt wird, und leider ganz genauso von vielen eigentumslosen Menschen ohne Studium, die „sich politische Mitbestimmung nicht zutrauen“, denn „ich habe ja keine Ahnung von sowas“.

Doch wer den Satz „die Masse ist dumm“ geschluckt hat, sehnt sich entweder heimlich oder unheimlich nach einem weisen, autoritären Führer, nach „dem guten König“. Wer glaubt, man müsse die Demokratie vor dem Volk verschonen und das Volk vor seiner politischen Verantwortung, kann von seinem inneren Glaubenssystem her kein Demokrat sein. Er ist dann wahrscheinlich eher ein Fan einer Aristokratie, Oligarchie, Plutokratie, die sich vermittelt über Parteibildung und Wahlen gegenüber „den Vielen“ zu legitimieren versucht. Alibidemokratie, Scheindemokratie, Showdemokratie und Zuschauerdemokratie sind für mich noch die freundlicheren Bezeichnungen, die ein politisches System verdient hätte, das aus dem Mindset entspringt, man müsse das politische System vor der effektiven Einflussnahme der Menschen schützen, die es repräsentieren soll. Der Verweis auf die Machtübernahme des Nazifaschismus, der in Deutschland an dieser Stelle gemacht wird, ignoriert, dass die Machtübernahme auf völlig verfassungsmäßigem Weg: über Wahlen zustandekam. Das Argument soll hier sein: „So schlecht unser derzeitiges demokratisches System auch ist, es verhindert einen erneuten Faschismus. Damit müssen wir zufrieden sein!“ – Jeder mag selbst entscheiden, ob das genug ist, um ein System „demokratisch“ zu nennen, dass einen Großteil seiner Bürger systematisch von politischer Mitbestimmung und seine Teilnahme auf ein nichtsbedeutendes Kreuz alle 4 Jahre reduziert.


Mit all dem ist die Innovationskrise unserer Demokratie noch gar nicht addressiert. Nicht nur fehlende Repräsentation weiter Bevölkerungskreise ist ein drängendes politisches Problem, ist gibt zahlreiche weitere politische Probleme, auf die eine Demokratie, die sich auf Parteien und Wahlen verlässt, nicht einmal halbwegs befriedigenden Antworten zu finden vermag:

Weder auf die dringenden technischen, logistischen, industriellen und gesetzesmäßigen Umstellungen, die der Klimawandel erforderlich macht, wenn wir nicht weite Teile der Erde unbewohnbar machen und riesige Fluchtbewegungen unter über 8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten auslösen wollen.

Noch auf die Krise der Arbeit, die mit der weiter fortschreitenden Digitalisierung bereits heute vollkommen absehbar ist.

Noch auf die Frage nach einer Weltregierung, die internationale Konflikte endlich ähnlich befrieden kann, wie wir es mit innernationalen Konflikten bereits von unseren demokratischen Institutionen gewohnt sind.

Noch auf die Frage einer immer weiteren Auflösung der „Mittelschicht“ und einer Zunahme des superreichen und des superarmen Anteils in den Bevölkerungen nahezu aller Länder. – Wobei mit steigender finanzieller Ungleichheit stets eine Abnahme der Lebenszufriedenheit in der Gesamtbevölkerung einher geht, wie ebenfalls immer wieder von Studien gezeigt wird.

Die Liste drängender und im Demokratie-durch-Wahlen-System unlösbarer Probleme ließe sich beliebig verlängern. Die Gründe dafür sind ebenfalls nicht so komplex, dass sie sich nicht leicht beschreiben ließen:

  • Ein extrem begrenzter zeitlicher Horizont der bestimmenden politischen Akteure: Entscheidungen nur mit Blick auf die jeweils nächsten Bundestagswahlen, wenn nicht sogar nur bis zu den dazwischen stattfindenden Landtagswahlen.
  • Demokratie wird durch Wahlen etabliert als ein Konkurrenzsystem mit Debatten, nicht als Kooperationssystem mit Dialogen. Zuhören und Empathie können in diesem System aus rein strukturellen Gründen gar keinen Platz haben, weil jedes Handeln und Reden zu Schachzügen in einem von uns angefeuerten und häufig sogar von uns bejahten politischen Kampf wird.
  • Im von uns durch Wahlen gesetzten „politischen Spiel“ haben diejenigen Berufspolitiker gegenüber ihrer Konkurrenz strategische Vorteile, wenn sie beliebige Themen hochpuschen, die sich gut emotionalisieren lassen, die aber wenig mit den Fragen zu tun haben, die uns a) in unserem Alltag wirklich stören und der Verbesserung bedürfen oder b) uns mit Blick auf die Zukunft wirklich beunruhigen und dringend langfristiger Strategien bedürfen, die von einem breiten Konsens in der Bevölkerung getragen werden.
  • Berufspolitiker müssen, qua Solidarität mit den Parteien, die sie in Ämter bringen, den „politischen Markenkern“ der jeweiligen Partei beachten. Dieser Effekt geht weit über den reinen Fraktionszwang bei Abstimmungen hinaus. Dadurch entstehen künstliche, unpolitische Interessen, die rein auf den Erhalt von Parteien abzielen, die aber mit nötigen politischen Entscheidungen nichts zu tun haben und sogar wenig mit Repräsentanz der Wählerschaft. Anders gesprochen: Es entsteht ein Eigeninteresse von Parteien an ihrem Bestehen; ein Eigeninteresse, das vielen politischen Innovationen systematisch im Wege steht. Der Hinweis, in einer Wahldemokratie könnten sich ja als Antwort auf solche Innovationslücken leicht neue Parteien bilden, die die Arena das politischen Wahlkampfes betreten können, missversteht das Problem, das hier auf dem Tisch liegt: Parteien als künstliche Entitäten unterbrechen systematisch die direkte Übersetzung der Situation und des Horizonts von Menschen in demokratische politische Prozesse, die zu verbindlichen, allgemeinen Entscheidungen führen. Es ist die Dauerhaftigkeit, die Institutionalisierung von Parteien selbst, die zur Innovationsfeindlichkeit einer Demokratie führt, die sich an erster Stelle über Wahlen zu organisieren versucht. Unabhängig davon, ob sich neue Parteien gründen und ob sie gewählt werden oder nicht, haben wir hier stets einen Verzerrungseffekt, der nicht auf die Innovationskraft schaut, die aus dem Versuch hervorgehen muss, verschiedensten Menschen in verschiedensten Lebenssituationen gleichzeitig gerecht zu werden. Denn gerade ein empathischer Bedürfnisausgleich erfordert oft ganz neuartige politische Wege und Lösungen. Stattdessen werden im derzeitigen politischen System Parteierhalt und Machterhalt zu einem Selbstzweck. Parteien sind in sich selbst ein Problem, wenn Demokratie sowohl Repräsentation aller bedeuten als auch politische Innovationen ermöglichen soll, die an den gegebenen Bedürfnissen, Wünschen und Horizont der Menschen ankoppeln .

Demokratie, wenn sie funktioniert, bringt nicht nur Menschen über das, was alle betrifft, miteinander in ein kooperatives Gespräch, sie ist auch Ort des Ausgleichs zwischen unseren kurzfristigen und unseren langfristigen Bedürfnissen; wiederum: soweit sie uns alle betreffen. Da unsere derzeitige gemeinsame Entscheidung, Demokratie über Wahlen und Parteien zu organisieren, gelegentlich garniert mit ebenso unsinnigen Volksentscheiden, sich notwendige politische Innovationen systematisch blockiert, kommt es zu dem Effekt, dass seine Bürger als einzelne Menschen regelmäßig für viel innovativere und einschneidendere politische Lösungen offen wären, als sie unsere „Demokratie“ in ihren Entscheidungen spiegelt.


Gegenüber all diesen Problemen, die die derzeitige Form unserer Demokratie erzeugt und die sich in den Worten Repräsentationskrise und Innovationskrise zusammenfassen lassen, ist das Instrument der Wahlpflicht vergleichsweise ohnmächtig und wirkungslos.

Das scheinen sogar ihre Befürworter wahrzunehmen. Dieser Eindruck ergibt sich zumindest, wenn man gerade den letzten Absatz eines Artikels zur Kenntnis nimmt, den die Bundeszentrale für politische Bildung kürzlich veröffentlich hat.

Eine nüchterne Aufzählung prominenter Agrumente pro und contra Wahlpflicht findet man wenn man möchte bei Wikipedia. – Aus meiner Sicht gehen all diese Argumente am Kern der meisten drängenden Probleme vorbei, die uns unsere derzeitigen politischen Institutionen bereiten. Nach meiner Einschätzung brauchen wir eine viel weitreichendere Demokratisierung unsere politischen Prozesse, als deren nächsten Schritt ich die Einführung und Institutionalisierung des Losentscheids sehe.

„Mehr Demokratie wagen“ ist ein Slogan, der aktueller ist denn je.

 

 

 

 

 

Der Schock des Verstanden-Werdens – Spiele der Macht und Sehnsucht nach emotionaler Nähe

Vielleicht ist es Zeit für ein weiteres Coming Out: Ich bin ein Mensch, der mit starken und anhaltenden Ohnmachtsgefühlen groß geworden ist. Dadurch habe ich eine Schlüsselfähigkeit im Übermaß entwickelt, die nahezu allen Menschen eigen ist, die lange in Ohnmachtsverhältnissen leben mussten: Ich kultivierte Verstehen; Motive zu erkennen, Stimmungslagen, Gefühle und Bedürfnisse bei anderen Menschen, in fremde Gedankenwelten einzutauchen und sie von innen heraus nachzuvollziehen. Wenn sie Ohnmacht kennen, wissen sie, wie überlebenswichtig einem Verstehen werden kann.

Ja, Verstehen kann man lernen und man kann darin besser werden. Ich gehe davon aus, dass im Prinzip ausnahmslos jeder Mensch Verstehen kultivieren kann, zumindest jeder Mensch, der keine schwersten Gehirnschäden erleiden musste. Viele Menschen sehen allerdings kaum Grund dazu, es mit dem Verstehen so weit zu treiben, wie es mir erging. Und ich denke, man kann daraus ausnahmslos niemandem einen Vorwurf machen, weder jenen Menschen, die kaum Gründe dafür haben, verstehen zu wollen. Noch jenen Menschen wie mir, die allzu viel Grund dazu hatten. Wir Menschen haben keine „Verstehenspflicht“. Und wir haben genausowenig eine „Nichtverstehenspflicht“. Die Kategorie „Pflicht“ macht für mich in Bezug auf Verstehen einfach überhaupt keinen Sinn.

Verstehen – Eine Tugend?

Um nicht falsch verstanden zu werden 😉 – Ich beklage mich nicht über mein Leben und meine Gewordenheit. Was ich erleben musste und durfte, kommt mir bereits seit längerer Zeit zu Gute. Ich profitiere davon. Z.B. in meinem Beruf als Coach.

Sie mögen es mir glauben oder nicht, ich glaube das täglich zu erleben: Im Verstehen bin ich richtig gut. Ich durfte es in den Beziehungen meiner Kindheit kultivieren, ich las früh, gierig und viel, ich durfte als junger Erwachsener lange und intensiv Fächer studieren, die an allererster Stelle hermeneutische Tugenden verlangen, ich durfte zahlreiche Coaching- und Zusatzausbildungen machen. Das alles blieb nicht ganz ohne Auswirkungen. Zumindest was kognitive und soziale Empathie angeht, überrascht es mich daher einfach nicht, dass ich bei fragwürdigen Online-Tests nicht ganz schlechte Werte erreiche. Was dagegen emotionale Empathie angeht, habe ich eher meine Zweifel, ob die Tests bei meinen guten Werten wirklich richtig liegen. – Ich glaube mich da besser zu kennen. Und eine gewisse soziale Ungeschicklichkeit und Nerdigkeit tun ihr übriges, dass ich sagen kann: Bestimmte Formen von Verstehen machen noch lang keine überragenden Social Skills. Schon gar nicht in allen Beziehungen und Situationen. Was dennoch bleibt, ist ein Kernsatz meiner Identität, wie ich sie selber verstehe: Ich kann vieles nicht sonderlich gut (z.B. Vorträge halten) und manches so richtig schlecht (z.B. würde ich mir selber nie eine Führungsposition geben, nirgendwo). Aber Verstehen, das liegt mir.

Eine Erfahrung, die ich als „professioneller Versteher“ nun schon seit ein paar Jahren regelmäßig mache, ist Folgende: Viele meiner Kunden sind wahrnehmbar schockiert über das Ausmaß und die Schnelligkeit, in denen sie sich von mir verstanden fühlen. Den Eindruck, umfassend verstanden zu werden, haben selbstverständlich keineswegs alle meine Kunden bei mir. Es gibt durchaus Kunden, wo kein Draht entsteht und ich weder der richtige Ansprechpartner bin, noch sein kann. Aber es sind doch sehr viele Kunden, die sich ertappt, erkannt, richtig gespiegelt fühlen und die mir das auch offen sagen und zeigen. Und fast alle sind sichtbar geschockt darüber.

Und genau dieses Geschockt-Sein ist aus meiner Sicht erklärungsbedürftig, denn in der Regel ist Verstanden-Werden ein schönes, ein erleichterndes Gefühl.

Was schockt da eigentlich so?

Ich habe zwei Hypothesen, die ich zur Diskussion stellen möchte, warum und wieso die Erfahrung des Verstanden-Werdens Menschen in unserer heutigen Gesellschaft schockieren kann (und das nach meinen Erfahrungen wie gesagt in bemerkenswerter Regelmäßigkeit auch tatsächlich tut):

1.) Wir sind es in unserer Gesellschaft mittlerweile so gewohnt, uns in Beziehungen mit asymmetrischen Machtverhältnissen zu bewegen, in denen wir regelmäßig dadurch bedroht sind, von einem anderen Menschen bestraft oder belohnt werden zu können, dass Verstanden-Werden selbst bedrohlich wird.

Was in machtfreien oder machtsymmetrischen Beziehungen erleichternd und erfüllend wäre, ist es in Beziehungen mit stark ungleicher Macht eben gerade nicht.

Die Hypothese lautet hier also: Meine Kunden realisieren, wie leicht und schnell ein ihnen völlig fremder Mensch u.U. ihre Motive, Gefühle und Bedürfnisse nachvollziehen kann. Und als die intelligenten Wesen, die sie sind, verallgemeinern sie diese Erfahrung sofort und fragen sich, was das für ihre anderen (für sie durchaus relevanteren) Beziehungen heißen kann.

Die Erfahrung des Verstanden-werdens kann so den Gedanken auslösen: Ich brauche eine bessere Maske, ich muss das Visier noch viel fester runterklappen, meine soziale Panzer-Rüstung ist undicht, ich muss lernen, noch viel besser zu schauspielern. – Andernfalls, wenn mich etwa alle Menschen so schnell verstehen können wie dieser komische Coaching-Kerle da…

…dann bin ich all den Menschen in meinen Alltagsbeziehungen, die Macht über mich haben, ja völlig ausgeliefert! Meiner Chefin! Vertretern von Behörden und Institutionen! Meinem Nachbarn! Ich kann die ja vielleicht gar nicht so gut täuschen, wie ich bis eben annahm! Bis eben, bis damals, als ich mich noch sicher fühlte! Als ich noch glaubte, meine Gefühle und Gedanken seien ein gut gehütetes Geheimnis, zu dem nur ich selber den Schlüssel habe. Und dieser Schlüssel sei im Safe meines Bewusstseins bombensicher… – Oh Gott!

2.) Wenn ich in vielen meiner Nah-Beziehungen erlebe, dass ich dort nicht das gleiche Ausmaß von Verständnis erlebe, wie ich das bei einem Wildfremden nach einer halben Stunde habe (ein solcher Wildfremder bin ich für die meisten meiner Kunden), dann hat auch das Schockpotential: Es stellt, auch völlig unbeabsichtigt, die Qualität dieser Beziehungen in Frage. Ich spüre womöglich plötzlich, wonach ich ich in meinen eigentlich für mich deutlich relevanteren Beziehungen sehne – und was ich dort womöglich schmerzlich vermisse.

Die Hypothese lautet hier also: Verstanden-werden durch „fremdere“ fördert Sehnsucht nach Verstanden-werden durch nähere Menschen. Im ersten Moment aber ist das Realisieren dieser Sehnsucht ein Schock.

Dieser Schock wäre dann allerdings nur ein Übergang für mich als Coaching-Kunde. Vielleicht ein unvermeidlicher, notwendiger Durchgang. Ein Durchgang dahin, in denjenigen Beziehungen wieder mehr zu wagen, die mir deutlich mehr bedeuten als eine Coaching-Beziehung es jemals kann.

Skepsis und Dialog

Wie gesagt: das sind zur Zeit reine Hypothesen für mich. Es kann alles auch ganz anders sein. Meine Wahrnehmung kann mich trügen: Womöglich fühlen sich viele meiner Kunden deutlich weniger verstanden als ich mir das einbilde. Womöglich spielen sie mir etwas vor, ohne dass ich das mitbekomme (auch wenn mir dafür kaum nachvollziehbare Gründe einfallen, warum sie das tun sollten. Aber wer weiß? Das menschliche Wesen ist unergründlich). Womöglich täusche ich mich auch einfach über ihr Schockiert-sein. Und natürlich und vor allem können meine beiden Interpretationen, mit denen ich für mich nachvollziehbar zu machen versuche, warum Kunden schockiert sind, wenn sie sich verstanden-fühlen, viel zu undifferenziert oder schlichtweg unzutreffend.

Vielleicht frage ich meine nächsten Kunden einfach mal, ob sie wirklich schockiert sind. Und wenn ja: was sie selbst glauben, warum sie das so schockiert, was sie bei mir erleben…

Das Leiden der Männer, das Leiden der Frauen

Es lässt sich schlecht darüber streiten, ob es grausamer ist, was wir heute nach wie vor unseren kleinen Jungen antun: Den Kontakt zu weiten Gefühlsbereichen ihres Selbst systematisch zu unterbrechen, indem wir das bei ihnen drastisch sanktionieren, indem wir die meisten ihrer Gefühle in Beziehungen zu ihnen nicht spiegeln und indem wir ihnen stattdessen Imperative in Richtung Handlungs- und Außenorientierung mit auf den Weg geben.

Oder ob es grausamer ist, was wir unseren kleinen Mädchen antun: Den Kontakt zu explorativem Verhalten, guter Selbstsorge und einem Gefühl von Selbstwert systematisch zu unterbrechen, indem wir all das bei ihnen drastisch sanktionieren, während wir sie zugleich ermuntern, mit ihren sonstigen Gefühlen in gutem Kontakt zu bleiben, um dann mit diesem „empathischen Apparat“ ständig nur für Andere da zu sein.

Das Ergebnis ist jedenfalls: Männer haben in der Regel als erwachsene Menschen nur noch rudimentären Anschluss zu ihrem emotionalen Innenleben, dafür setzen sie sich im Außen gut für „sich“ ein. Bzw.: Dafür, was dann von ihrem „Selbst“ noch übrig ist.

Frauen haben in der Regel als erwachsene Menschen sehr guten Anschluss zu einem großen Teil ihres Gefühlsspektrums, aber ein nahezu unüberwindbares inneres Verbot darauf, die Handlungsimpulse, die diese Gefühle ja eigentlich sind, auch im Außen auszuagieren.

Als Formel: Männer sind taub, aber machen und tun in völliger Selbstblindheit. Frauen nehmen sich durchaus noch wahr, aber können nichts mehr für sich machen.

Ganz ehrlich: Beides empfinde ich als derart grausam, dass ich niemals sagen könnte, was ich als schlimmer beschreiben sollte.

Fest steht auch: Menschen beiderlei traditionellen Geschlechts wird es heute vorgeworfen, wenn sie sich entsprechend ihrer traditionellen Zurichtung verhalten. Männer werden dann als gefühlskalte Machos und dumme Haudraufs und Lautsprecher beschimpft. Frauen werden dann als unemanzipierte Heimchen, Frauchen und Dummchen beschimpft, die noch nicht mitgekriegt hätten, wo im 21. Jahrhundert der weibliche Hammer hängt.

Das heißt allerdings nicht, dass es ihnen nicht genauso vorgeworfen würde, wenn sie sich aus ihren traditionellen Rollenbildern zu emanzipieren versuchen. Männer, die das versuchen, werden nicht mehr ernstgenommen (dann ungefähr exakt gleich wenig, wie Frauen in der traditionalen Geschlechterordnung schon immer). Sie werden als Schluffis, Weicheier, Angsthasen und Versager beschimpft. Frauen, die das versuchen, werden als Kampfemanzen, Mannweiber, kaltherzige karrieregeile Egoistinnen beschimpft, und gerne auch gleich als Rabenmütter mit dazu.

Damit haben wir bezogen auf die Kategorie „Geschlecht“ einen weitgehend vollständigen gesellschaftlichen Double Bind erreicht, in der keiner mehr irgendetwas tun kann, ohne mit Vorwürfen rechnen zu müssen. Es ist möglich festzuhalten: Sowohl als Mann genauso wie als Frau kannst Du heutzutage nur alles falsch machen. Das alte, „gesellschaftlich auf der sicheren Seite sein, wenn ich nur…“ existiert nicht mehr.

Mussten früher Männer und Frauen nur Kriege gegen sich selbst führen, um den klaren und weitgehend eindeutigen gesellschaftlichen Erwartungen an sie als Menschen gerecht zu werden, so kommt zu diesen weiterhin fortbestehenden Erwartungen und Selbstzerfleischungen nun auch noch völlige Unklarheit hinzu, wie man „geschlechtliche Akzeptanz“ erwerben kann. Was es nun denn eigentlich heißen soll, „ein guter Mann“ oder „eine gute Frau“ zu sein.

Man kann Hobbypsychologie anwenden und vorhersagen, dass dieser Zustand auf Dauer großer Wahrscheinlichkeit zu einer allgemeinen Kriegsmüdigkeit, zu einer Friedenssehnsucht bei allen Beteiligten führen wird. Ich vermute also, dass das ständige Auf-die-Mütze-kriegen-egal-wie-mensch-es-anstellt zu einer allgemeinen Müdigkeit hinsichtlich der Kategorie „Geschlecht“ führen wird. Dass diese Kategorie durch ihre Überspannung und ihr völliges Unklar-Geworden-Sein für uns Menschen in Zukunft stetig unwichtiger werden wird. – Mit Blick auf die „Laws of Form“ könnte man sagen: Die Kategorie des Geschlechts wird durch ständiges Hin- und Her-Kreuzen nach und nach überschrieben und dadurch ausgelöscht.

Ich persönlich empfinde diese Aussicht nicht mehr als Verlust, sondern nur noch als Gewinn. Das Spektrum dessen, was Menschen möglich ist, braucht keinerlei Begrenzung durch Geschlechterkategorien mehr. Auch nicht durch neue, neu aufgeladene, neu verstanden oder neu interpretierte.

Das Leiden, das wir Menschen mit den Mitteln der Kategorie „Geschlecht“ zufügen, ist heute ein nur noch sinnloses Leiden.

Und ja: Natürlich können wir doch darüber streiten, wer nun doch vielleicht mehr unter ihrer/seiner geschlechtskonformen Zurichtung leidet: Frauen oder Männer.

Doch dieser Streit ist genauso sinnlos wie die Kategorie Geschlecht an sich und die künstliche Aufladung, die diese Kategorie in unserer Gesellschaft nach wie vor erfährt.

Bei überflüssigem Leiden von Menschen geht es bloß um eins: Es nach Möglichkeit zu beenden. Es mit dem anderen Leiden anderer Menschen zu vergleichen, hat von jeher nur einem Zweck gedient: Es zu bagatellisieren und so den Fortbestand dieses Leidens zu sichern.

Wir tun gut daran, Frauen wie Männer, Männer wie Frauen ganz einfach als Menschen zu betrachten. Als „welche von uns“, die unserer Empathie, Zuwendung und Verständnis bedürfen und die wir mit ihren Ängsten und Schmerzen nicht allein lassen.

Dass die Herausforderungen für uns als Uns-selbst-Zuwendende unterschiedliche sind – aus der traditionellen Geschlechterordnung kommend – ist dabei zweitrangig gegenüber der Anerkennung, dass es „Leiden am Geschlecht“ gibt und dass das ein absolut hinreichender Grund ist, dieses Leiden zu beenden.

Männer werden mit Zuwendung aktiv wie passiv nichts anfangen können, wenn sie „echte“ traditionelle Männer zu sein versuchen.

Frauen werden sich mit aktiver und passiver Zuwendung ebenso traditionell leicht tun – nur eben nicht, solange es um Männer geht: Von Männern bekommen sie keine Empathie und Männern geben sie keine Empathie (womit traditionelle Männer auch überaus einverstanden sind, denn Zuwendung zu bekommen ist in ihrer Welt gleichbedeutend mit einer Beleidigung und mit einem schmerzhaft schambesetzten Eingeständnis, „es nicht alleine zu schaffen“).

Was in dieser völlig verfahrenen Lage getan werden kann, ist mir rätselhaft. Ich setze wie gesagt auf reine Ermüdungseffekte und auf den Verdruss aller Beteiligten am überdeutlich spürbaren Double Bind, der heute beide Geschlechter mit erbarmungsloser Härte trifft.

Gender is war.

 

 

 

 

 

Expertenwissen und Angst vor Demokratie

Wenn man mit Menschen über die Einführung des Losentscheids in unsere politischen Verfahren spricht, also über eine weitere Demokratisierung unserer Gesellschaft, dann bekommt man heute noch häufig zu hören:

„Ne, ne, das traue ich mir nicht zu. Ich hab ja keine Ahnung von…“ – Man hört dann viele solche Sätze, und das in allen möglichen Schattierungen und Geschmacksrichtungen.

Ich weiß nicht, wie es in anderen Gebieten des Planeten ist, aber in Deutschland scheinen Glaubenssätze sehr tief verankert zu sein, die uns in Richtung Expertenhörigkeit und „Fachexpertise“ bewegen.

Nun ist wenig zu sagen gegen tiefes Wissen über bestimmte Sachverhalte und Zusammenhänge, die man nur dadurch erwerben kann, dass man viele Meinungen zu einem Thema gehört hat, dass man sich mitunter über Jahre mit der Materie beschäftigt hat. – Im Raum der Politik scheint mir aber ein handfestes Missverständnis viel zu viel Renommee zu haben. Ein Missverständnis darüber, welche Form von Wissen spezifisch im Raum der Politik das Wichtigste ist.

Schon überhaupt auf die Existenz von „Formen des Wissens“ hinzuweisen, scheint in diesem Kontext ein geradezu revolutionärer Akt zu sein.

A) Wissen, das wir in Fachgebieten erwerben ist Wissen über Nicht-Menschliches. Oder manchmal sagen wir: „Über die Natur“.

B) Wissen, das in der Politik in erster Linie relevant ist, ist Wissen über das innere Erleben heute lebender Menschen, ihre Erfahrungen, ihre Perspektive, ihre Gefühle und ihre Bedürfnisse.

Beide Formen des Wissens spielen eine Rolle in politischen Prozessen. Leider sind unsere derzeitigen politischen Institutionen gut dafür geeignet, Menschen, die politische Entscheidungen für uns alle treffen müssen, sehr effektiv von beiden Formen des Wissens abzuschneiden.

Natürlich kann man beim Wissen vom Typ B) auf Befragungen setzen. Nur nähert man sich dann dem Wissen über das innere Erleben von Menschen so, als wären Menschen nur „weitere Gegenstände neben anderen“ und nicht die Autoren und die Subjekte politischer Prozesse. Man erforscht sie wie naturwissenschaftliche Forschungsgegenstände. Man redet über sie, anstatt mit ihnen. Man lässt sie nicht zu Wort kommen und man hört ihnen niemals wirklich zu. Nicht so wie sie sich gegenüber vertrauten Menschen äußern, wenn echter Raum da ist. Wenn relevante Erfahrungen mitgeteilt werden. Manche davon sind schambesetzt, mache sind schmerzhaft, manche machen Angst. Immer aber weisen sie auf neuartige Lösungen hin, auf mögliche Innovationen, durch die das Leben von mehr Menschen besser wird als nur von diesem einen, der den Mut hat „aufzumachen“, sich verletzlich zu zeigen, und seine Erfahrungen und Perspektiven zu teilen. – The quality of the listening forms the quality of the speaking.

Eine deutlich effektivere Form der Einspeisung dieses Wissens in politische Prozesse besteht darin, diese Menschen selbst zu unmittelbaren Akteuren des politischen Austauschs und politischer Entscheidungen werden zu lassen. – Eben genau das leisten Bürgerparlamente, die per Losentscheid repräsentativ aus der ganzen Bevölkerung zusammengesetzt werden.

Die große Angst vor der Unwissenheit der Bevölkerung, die manchmal mehr eine Angst vor echter eigener politischer Verantwortung ist, schiebt nun oft die Uninformiertheit vieler Menschen über bestimmte „Sachthemen“ vor, die in politischen Prozessen verhandelt werden müssen. – Das geschieht so, als ob in unseren derzeitigen politischen Institutionen Berufspolitiker in erster Linie der Beratung durch wissenschaftliche Experten folgen würden und nicht etwa, wie wir eigentlich sehr gut wissen, strategischem Wahlkalkül, persönlichem Politkarriere-Kalkül und Lobbyisten-Kalkül, wobei sich diejenigen Institutionen und Bevölkerungsgruppen die wirksamsten Lobbyisten kaufen können, die gerade zufällig das meiste Geld haben.

In der Wirtschaft gibt es mittlerweile gut erprobt das Prinzip des „Konsultativen Einzelentscheids“ und manchmal auch des „Konsultativen Mehrheitsentscheids“: Jemand ohne Ahnung berät sich mit Experten und Betroffenen und wird dadurch als hinreichend ermächtigt gesehen, um eine für alle verbindliche Entscheidung zu treffen. Dem gleichen Prinzip folgen Richter, die nur in den seltensten Fällen „Experten“ für die Themen sind, über die sie Entscheidungen treffen.

Man lehnt sich nicht sonderlich weit aus dem Fenster, wenn man heute behauptet, dass Experten, die auch in der heutigen Demokratie beständig benötigt werden, in einem Bürgerparlament weit leichter Gehör finden als bei Berufspolitikern, die den vielen Kalkülen politischer Karriere und parteistrategischer Entscheidungen mit Blick auf kommende Wahlen ausgesetzt sind.

Sieht man mit diesen Augen auf unsere derzeitigen politischen Institutionen, so kann man sagen, dass wir derzeit zulassen, dass unsere politischen Entscheidungen aus einer groben Unterinformiertheit, um nicht zu sagen in einer großen Unwissenheit erfolgen. „Demokratie“, wie wir uns derzeit angewöhnt haben, sie zu verstehen, trifft dumme Entscheidungen, weil wir politische Institutionen geschaffen haben, die beide Formen des Wissens gezielt von den politischen Prozessen fernhalten.

Insbesondere das Außenvorbleiben der Perspektiven, Erfahrungen, Gefühle und Bedürfnisse der Vielen („des Volkes“) lässt es gut begründet erscheinen, unser derzeitiges politisches System keinesfalls als „Demokratie“ bezeichnen zu können.

Aber auch die Sorge, die viele von uns davon abhält, über eine Demokratisierung politischer Prozesse nachzudenken, die genau diesem Wissensmangel abhelfen würden, scheint bei näherem Hinsehen völlig unbegründet, ja geradezu ideologisch: Dass Expertenwissen in einer über Losentscheid organisierten, echten Demokratie zu kurz kommen würde.

So haben wir also ein dummes politisches System geschaffen. Wir beklagen uns auch beinahe täglich über seine dummen Effekte, seine dummen Ergebnisse, seine dummen Entscheidungen und seine dummen Maßnahmen. Aber wir dulden diese systemische Dummheit dennoch weiterhin. – Vermutlich, weil wir uns nach den totalitären politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts erzählt haben, „das System ist zwar unperfekt, aber es gibt nunmal kein besseres“. Als ob eine weitere Demokratisierung, die klügere politische Institutionen schafft, irgendetwas mit einem Rückbau von Demokratisierung gemein haben könnte. Als ob kein politischer Fortschritt denkbar wäre. Als ob jede Veränderung unserer demokratischen Institutionen nur eine Verschlechterung sein könnte.

Wir können heute wahrnehmen, dass unsere Demokratie von sich selbst bedroht wird. Indem sie nicht in der Lage ist, durchaus vorhandenes Wissen in ihre politischen Verfahren aufzunehmen, indem sie sich gegen die beiden für Politik relevanten Formen des Wissen immunisiert hat, schafft sie große Unzufriedenheit.

In dieser selbstinduzierten Unzufriedenheit gibt es Rufe: Rufe nach autoritären Führern, die die Gefühle der Menschen besser spiegeln sollen. Rufe nach einer Expertokratie, die die Menschen vor ihrer eigenen vermeintlichen Dummheit schützen soll (Platon lässt hier schön grüßen).

Diese Rufe werden solange nicht verstummen, bis wir entweder in der nächsten politischen Katastrophe landen, die mit reformierten demokratischen Institutionen durchaus vermeidbar gewesen wäre. Oder bis wir eben so eine autoritäre Herrschaft oder eine Experten-Dikatur haben, der wir uns demütig unterwerfen, weil wir ja gar so dumm glauben zu sein und unsere ureigene politische Verantwortung gar so gerne an Menschen abgeben, die sich da aus kontingenten Gründen mehr zutrauen (Trump lässt hier schön grüßen).

Die Alternative liegt auf der Hand: Unsere derzeitigen politischen Institutionen sind eben nicht der Weisheit letzter Schluss, wir befinden uns eben nicht am „Ende der Geschichte“. Sondern wir leben in einer Zeit, in der es offensichtlich wird, dass sich unsere demokratischen Institutionen weiterentwickeln müssen, wenn wir eine informiertere Politik haben wollen, die bessere Entscheidungen zum Wohle aller treffen kann.

Der Losentscheid ist hier in jeder Hinsicht dem Prinzip „Parteibildung –> Wahlen –> Berufspolitikertum –> Lobbydruck“ überlegen.

Gerade in Deutschland scheinen wir aber ein Problem zu haben, uns auf diesen Gedanken einzulassen. Gerade hierzulande scheinen wir zu glauben, es könne für alles Experten geben. Auch für das innere Erleben der Bürger. – Dabei ist der Raum des Politischen gerade dadurch bestimmt, dass sich hier alle als Freie und Gleichwertige begegnen können. Dass hier keiner vom Mitentscheiden ausgeschlossen werden kann, ohne dass der Raum des Politischen selbst zerstört wird. Dass keiner ein „argumentum auctoritatis“ anwenden und auf persönliche Fachexpertise hinweisen und mit diesem Argument andere vom Mitreden, Mithören und Mitenscheiden ausschließen kann. Dass hier, im Raum des Politischen abgemacht ist, dass jeder betroffen ist von dem, was hier entschieden wird, und dass daher auch jeder einzelne Mensch einen gleich gewichtigen Einfluss haben muss.

Ich habe jetzt schon viele Interviews mit nationalen und internationalen Freunden des Losverfahrens, der Demarchie, der Aleatorischen Demokratie und der Ausgelosten Bürgerräte gehört und gelesen. Was mir sehr zu denken gibt, ist, dass ich in keinem dieser vielen Gespräche so wenig Bereitschaft zuzuhören wahrgenommen habe, nirgendwo ein so apodiktisches Niederbügeln der Idee des Losverfahrens wie in diesem Interview hier. Natürlich war es im deutschen Fernsehen.

Deutschland ist kein gutes Pflaster für echte Demokratie. Denn hier glauben noch viele an das überlegene Wissen der Philosophen und seine Bedeutung für politische Prozesse. Hier glauben immer noch viele „die Masse ist dumm“ und wollen sie daher systematisch von Mitbestimmung ausschließen. Und hier wollen sich immer noch viele vor ihrer politischen Mitverantwortung drücken. Auch, weil das ganz einfach bequemer ist. In einer gestandenen Zuschauerdemokratie ist immer was geboten, immer was los, es gibt immer was zu schimpfen und zu beklagen, während man bei all dem nie von Mitverantwortung bedroht ist. Wenn die, „die man gewählt hat“, erkennbaren Mist bauen, dann ist man eben von den bösen, bösen Politikern betrogen worden und damit fein raus. Man wählt dann einfach jemand anderen (oder auch nicht), der dann wiederum genauso unterinformiert politische Entscheidungen treffen muss. Mit einem Kreuzchen in der Wahlkabine kann man sich vollkommen seiner politischen Mitverantwortung entlasten. Eigentlich müssten diejenigen Menschen, die sich unter solchen Bedingungen wählen lassen, auf die Barrikaden gehen. Denn wie über diese Menschen geschimpft wird (also über Berufspolitiker), und zwar von Menschen, die sich selber so vollkommen verantwortungsfrei verhalten (also von uns), das ist tatsächlich ein handfester Skandal. Ganz ehrlich: Wäre ich Berufspolitiker und würde derart schlecht behandelt, ich würde mich auch durch die eine oder andere Sache selbst dafür entschädigen. Hart verdientes Schmerzensgeld.

Und ja: Das solches Wählerverhalten ist ebenfalls psychologisch nur zu gut nachvollziehbar. Nur sich über Politik beklagen, dass darf man aus meiner Sicht nicht, wenn man demokratische Reformen ablehnt, die genau dem abhelfen würden, worüber man sich beklagt.

Von Ländern wie Irland, die das Losverfahren erprobt haben, wird jedenfalls berichtet, dass Menschen, die dort daran mitwirken mussten, danach deutlich mehr Respekt vor Demokratie, Politik und ja: auch vor Politikern hatten.

Wir können ja mal darüber nachdenken, ob das wirklich ein wenig versprechendes Indiz ist. Mir scheint es darauf hinzuweisen, dass die meisten Menschen situativ klüger sind als wir sie im Alltag erleben. Auch die Menschen, die wir selber sind.

Macht und Empathie

Für die Kombination aus Macht und Empathie gibt es ein schönes Adjektiv im Deutschen: „gönnerhaft“.

Das empathische Verhalten eines Menschen, der sich in einem einseitigen Machtverhältnis gegenüber einem anderen Menschen befindet, wird von diesem stets als gönnerhaft empfunden werden. Dieses Verhältnis ist von den Intentionen der beteiligten Menschen unabhängig. Es ist auch von allen weiteren Faktoren der gegebenen Situation unabhängig. Anders gesagt: Befinden sich zwei Menschen in einer Beziehung, die von Machtasymmetrie geprägt ist, und ist der Machthabende gegenüber dem Ohnmächtigen empathisch, so verkommt diese „Empathie“ aus strukturellen Gründen immer zur mehr oder weniger verkappten Belohnung.

Empathie ist also in Verhältnissen, die von Machtasymmetrien geprägt sind, strukturell unmöglich. Das gilt stärker noch für Empathie, die der Ohnmächtige dem gegenüber an den Tag legt, der Macht über ihn hat. Diese Dynamik findet in einem eigenen Artikel die detaillierte Auseinandersetzung, die sie verdient hat.

Im Folgenden konzentriere ich mich darauf, im Detail nachvollziehbar zu machen, warum Machtasymmetrie und Empathie einander wechselseitig ausschließende Größen im menschlichen Leben sind. Dabei geht es mir um den Nachweis, dass, wer sich wie ich eine empathischere Gesellschaft wünscht, immer ein Interesse an systematischen Abbau von Machtasymmetrien haben muss, unabhängig von seiner eigenen konkreten „Position“ im Gesellschaftsgefüge; und unabhängig auch von allen weiteren Bestimmungen. Aufgrund des Allgemeinheitsanspruchs des Verhältnisses fällt diese Untersuchung auch nicht in den Bereich der Psychologie oder Soziologie, die immer nur Konkretes untersuchen können und aus guten Gründen unzulässige Verallgemeinerungen fürchten.

Ich benutze dabei erneut einen Machtbegriff, wie wir ihn in der „Gewaltfreien Kommunikation“ Marshall Rosenbergs finden. Dort hat das hier Gemeinte die Bezeichnung „Power over“. Dieser Machtbegriff ist weitgehend deckungsgleich mit der Definition von „Macht“ bei Thomas Gordon: „Fähigkeit eines Menschen, einen anderen Menschen einseitig zu etwas zu bewegen, das er möchte, indem er seine Fähigkeit zu einseitiger Bestrafung und/oder Belohnung benutzt“.

Dieser spezifische Machtbegriff hat auch starke Berührungspunkte zu den Analysen David Graebers, der in seinem Buch „Bürokratie“ zeigt, dass Gewalt das einzige Mittel ist, bei dem ein Mensch auf einen anderen Menschen einen ganz bestimmten und vorhersagbaren Effekt auslösen kann, ohne dafür gleichzeitig diesen Menschen verstehen zu müssen.

Akzeptiert man diesen Gedankengang, wird man auch annehmen müssen, dass die scheinbar so neutrale Bezahlung in Verhältnissen extremer finanzieller Ungleichheit strukturell ein Gewaltakt ist: Der Reiche muss niemals den Armen verstehen, um von ihm irgendetwas zu bekommen, was er sich gerade wünscht. Geld als nur scheinbar neutrales Mittel ist unter den Bedingungen extremer finanzieller Ungleichheit ein Mittel zur Belohnung/Bestrafung, oder in anderen Begriffen: Ein Machtmittel, das Empathie verzichtbar macht, um zu bekommen, was man bekommen möchte, solange man es sich leisten kann.

Um das Verhältnis von Macht und Empathie greifbar zu machen, können wir jedes Verhältnis durchspielen, in dem uns heute immer noch starke Machtasymmetrien begegnen. Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf drei davon und möchte zugleich die Behauptung aufrecht erhalten, dass die an diesen Beispielen gezeigten Gesetzmäßigkeiten – mutatis mutandis – auch für alle anderen Arten von Beziehungen gelten, in der Machtungleichheit strukturgebend ist.

1.) Macht und Empathie im Verhältnis Eltern-Kind

Unsere Gedanken rund um das unselige Wort „Erziehung“ kreisen nach wie vor um die wenig produktive Opposition autoritär vs. Laissez-faire. Innerhalb dieser Entgegensetzung wird vorausgesetzt, dass ein engagiertes Elternsein ohne den Einsatz von Machtmitteln undenkbar ist. Ebenso, dass ein engagiertes Elternsein möglicherweise den Einsatz von Machtmitteln verzichtbar machen könnte.

Eltern verfügen ohne Zweifel über zahlreiche Möglichkeiten „ihre“ Kinder zu belohnen und zu bestrafen. Unsere Anführungszeichen sollen hier andeuten, dass das Thema der Kinderemanzipation heute noch keinen starken Platz in unserem Bewusstsein hat, jedoch absehbar auf den Tisch kommen dürfte. Wir kommen aus gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Kinder als Besitz betrachtet wurden. Wir bewegen uns aber auf gesellschaftliche Verhältnisse zu, in dem die Anerkennung von Kindern als vollwertige Personen von Anfang an deutlich weiter gehen dürfte als wir uns das heute – mitten in der Transformation – vorstellen können.

Eltern, die die ihnen heute verfügbaren Machtmittel häufig und intensiv zum Einsatz bringen, erzielen damit zahlreiche Effekte. Einer der Effekte, den wir zuverlässig beobachten und vorhersagen können, ist der psychische Rückzug der Kinder, die ihre machtgebrauchenden Eltern in diesem Fall so weit sie vermögen von der Teilhabe an ihren innerlichen Prozessen ausschließen. Die Machtmittel, die Eltern anwenden, führen damit strukturell zunehmend dazu, dass die Eltern immer weniger verstehen können, warum ihre Kinder sich so verhalten, wie sie es eben tun und in welche konkrete, individuelle und subjektive Situation ihre Machtinterventionen eingreifen. Der große Vorteil von Machtmitteln aber ist zugleich genau dieser: Macht muss gar nicht verstehen, um gewünschte Effekte zu erzielen. Die Entfremdung ist absolut. Verständnis und Empathie der – möglicherweise durchaus wohlwollenden – Eltern sind faktisch auf einem Nullpunkt.

Besonders interessant werden die Effekte von Machteinsatz im Eltern-Kind-Verhältnis während der Pubertät der Kinder. Hier kehren sich die Machtverhältnisse nämlich aus strukturellen Gründen zugunsten der Kinder um. Dabei spielt die kleinere Rolle, dass Eltern bis zu diesem Alter der Kinder bereits „viel in sie investiert haben“. Der eigentliche Machtgrund von Kindern im Jugendalter ist vielmehr, dass Eltern dann in einer Situation sind, in der sie nur selten „Chance auf neue, andere Kinder“ haben. Das heißt: Unabhängig davon, was Kinder dann tun oder nicht tun – Die Eltern sind damit konfrontiert, dass diese Kinder die einzigen sind, die sie haben können.

Diese Machtumkehr im Eltern-Kind-Verhältnis In der Regel rächen sich Kinder, die bis zum Jugendalter durch Belohnung/Bestrafung „geführt“ wurden, intensiv an ihren Eltern. Um es mit den Worten eines befreundeten Berater-Kollegen zu sagen: „In der Jugend Deiner Kinder erntest Du, was Du bis dahin gesät hast – Im Guten wie im Schlechten“.

Natürlich steht es Eltern auch in der Jugend ihrer Kinder offen, weiter starke Machtmittel (verstärkte, drastische Strafen und Kontrollen / verstärktes Abhängig machen von finanziellen Zuwendungen und Androhung ihres Entzugs) Gebrauch zu machen. Häufig erfahren Eltern dann aber sehr deutlich, dass sie nun plötzlich am kürzeren Ende des Hebels sind und mangels Alternativen nun hochgradig erpressbar sind.

Die Frage ist nun: Müssen Kinder ebenfalls Machtmittel einsetzen, um zu bekommen, was sie möchten und brauchen? Also z.B. Belohnung der Eltern durch Teilhabe, schmeichlerische Verführung, Kokettieren mit bestimmter Kleidungs-, Bechäftigungs-, Partner- und Berufswahl. Die möglichen Mittel gehen gegen unendlich.

Eltern, die die keinesfalls zu unterschätzenden Beziehungs-Anstrengungen auf sich nehmen, auf Machtmittel so weit wie nur irgend möglich zu verzichten (bis zu jener sehr scharfen Grenze, die in der GfK „schützende Gewalt“ heißt) dürfen damit rechnen, dass sich ein wechselseitig empathisches Verhältnis zwischen Eltern und Kindern etabliert hat. – In dem Moment, in dem die Machtverhältnisse kippen: In der Jugend, profitieren sie davon.

Wir können das Eltern-Kind-Verhältnis pauschalisierend festhalten: Auch dort, wo faktisch eine massive Machtasymmetrie zwischen Menschen vorliegt, sind Beziehungen mit wechselseitiger Empathie etablierbar, lebbar und aufrecht erhaltbar. Sie leben davon, dass die Seite, die gerade am jeweils längeren Hebel sitzt, bewusst auf den Einsatz der Machtmittel verzichtet, die ihr prinzipiell durchaus zur Verfügung stehen. Stattdessen fällt eine Form von Tätigkeit an, die wir wenig euphemistisch „harte, tägliche Beziehungs-Arbeit“ nennen können, die viel Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit kostet. Alles Faktoren, die wir uns mittels des Einsatzes von Machtmitteln sparen zu können glauben.

Machtmittel sind für den Mächtigen in einer Beziehung auch deswegen dauerhaft attraktiv, weil sie schlicht und einfach effizient und effektiv zugleich sind. Solange der Mächtige nicht selbst in eine Ohnmächtige Position zu kommen droht, mag er die Kosten des Einsatzes seiner Machtmittel noch nicht einmal wahrnehmen. Spätestens aber in dem Moment, in dem sich Machtverhältnisse enden, ändert sich das aber massiv.

Das Problem im spezifischen Verhältnis Eltern-Kinder ist: Wenn wir es merken, ist es in der Regel deutlich zu spät und kann kaum mehr korrigiert werden. Es gibt wenig Erbärmlicheres aus Kindersicht als Eltern, die massiven Gebrauch von Macht machten, solange es ihnen möglich war, die aber nun, da die Macht auf Seiten der Kinder liegt, Empathie erwarten. – Auch aus diesem Grund kommt dieser Fall höchst selten vor. Die meisten Eltern versuchen in dieser Situation verzweifelt, „ihrer Linie“ treu zu bleiben. Faktisch befinden sie sich dann aber einfach in einer Situation ohne Optionen. Die elterliche Ohnmacht ist offensichtlich trotz ihrer weiterhin intensiven Versuche, Machtmittel zu gebrauchen. Wir als Eltern spielen uns dann vor allem selbst etwas vor, um unsere Ohmmachtsgefühle „operativ zu bekämpfen“. Meist auch dies mit zunehmend geringer werdendem Erfolg.

2.) Macht und Empathie im Verhältnis Chef-Mitarbeiter

Im Beziehungsgefüge Chef-Mitarbeiter tut man allen Beteiligten einen Gefallen, wenn man bei seiner Analyse nicht das große Ganze aus den Augen verliert. – „Der Chef“ ist nur relativ zu seinen Mitarbeitern ein Chef, relativ zum Unternehmen ist er in der Regel selbst ein Mitarbeiter und hat seinerseits einen Chef. Handelt es sich beim Chef um den Geschäftsführer, so ist die Frage entscheidend, ob er selbst in der Form von Investoren und Firmeneignern faktische „Vorgesetzte“ hat, die ihm gegenüber eine sehr wirksame Chefrolle einnehmen, so dass es sich bei ihm formal um den Geschäftsführer des Unternehmens handeln mag, faktisch aber auch in seinem Fall eben bloß um einen weiteren Angestellten, der – leichter und schneller als so mancher Mitarbeiter – austauschbar ist, wenn er den Herren des Unternehmens nicht gefällt.

Wir sehen sofort: Die meisten unserer heutigen Unternehmen sind bis ins tiefste Mark hinein durchzogen von „Macht“ in unserem oben definierten Sinne. Gleichgültig, was wir über sie denken, was in Websites und in Broschüren steht: Das Ausmaß von Belohnen/Bestrafen in Unternehmen entscheidet sich an ganz anderen Stellen. U.a. an der angedeuteten Stelle: Wie ist die Beziehung des Unternehmens zu Eignern/Investoren? Was sind hier die rechtlich-politischen Rahmenbedingungen? Werden Unternehmen als Handelsware wie jede andere auch betrachtet und gehandhabt? Oder begründet, ermöglicht und fördert die Gesellschaft, die sie trägt, andersartige Beziehungen zwischen Besitzern und „Geschäftsführung“, sofern es sich zwischen beiden eben nicht um die gleiche natürliche Person in Personalunion handelt?

Bezogen auf die Seite des Mitarbeiter, der mit einem Chef konfrontiert ist, stellen sich ähnliche Fragen, die allesamt entscheidend dafür sind, ob, inwieweit und in welcher Form in der Beziehung Mitarbeiter-Chef das Phänomen Macht eine Rolle spielt: Wie sieht eine Gesellschaft „Arbeit“? Welchen Druck baut sie auf den Einzelnen auf, „Arbeit zu haben“? Ist ein Mensch nur mit Arbeit oder nur mit bestimmten Arbeiten von Arbeit ein „vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft“? Welche Alternativen hat ein Mensch tatsächlich, wenn er in seinem Unternehmen mit einseitiger Macht konfrontiert wird? – Hier hilft es wenig, z.B. auf das deutsche Arbeitsrecht zu verweisen, das faktisch eine marginale Randgröße dafür darstellt, wie die Situation in Unternehmen von Menschen erlebt wird. Viel entscheidender ist die Frage nach den relevanten Alternativen, die ein Mensch subjektiv erlebt.

In diesen Kontexten, die sich sehr verschieden gestalten können, begegnen sich nun also „Chef“ und „Mitarbeiter“. Gebraucht der Chef offensiv seine gegebenen Machtmittel, ergeben sich automatisch die den meisten von uns wohl bekannten Phänomene: Der Mitarbeiter wird aufhören, sein Wissen mit seinem Chef zu teilen. An erster Stelle sein Wissen um seine inneren Zustände: um seine Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse.

Ähnlich wie im Verhältnis Eltern-Kind ist die Folge, dass nun auf der Seite des Machthabenden nur noch „uninformierte Entscheidungen“ getroffen werden können. Der Gebrauch von Macht schneidet diejenige Seite von notwendigem Wissen ab, die auf der stärkeren Seite der Machtasymmetrie angesiedelt ist. Im Fall von Chef-Mitarbeiter hat das Folgen, die über die unmittelbare Beziehung hinausgehen, aber zugleich wieder auf die Beziehung rückwirken. In der Regel geht es in Unternehmen dann um ein Spiel rund um „Schuldfragen“ für nicht-erreichte Ziele, abgesprungene Kunden, fehlerhafte Produkte, u.ä.m.

Strukturell können wir festhalten, dass der Einsatz der gegebenen Machtmittel in Unternehmen dazu führen, dass Menschen auf beiden Seiten der Machtasymmetrie beginnen, eine Absicherungsmentalität zu entwickeln. Diese „Mentalität“ hat wenig bis nichts mit den konkreten, involvierten Menschen zu tun. Sie ist in der dann gegebenen Situation ein rationales Erfordernis. Im Sinne von: Jedes antizipationsfähige Wesen würde eine solche Haltung entwickeln. Mit Sicherheit z.B. auch Artificial Intelligence (AI) die sich mit „Schuldfragen“ konfrontiert und von ihnen bedroht sähe.

Eine mittelbare Spätfolge von sowohl Wissensvorenthaltung als auch Schuldfokus ist das Unmöglich-Werden von Empathie in der Beziehung Chef-Mitarbeiter. Sofern wir für kognitive Empathie den Vorgang der Perspektivenübernahme ansetzen und für emotionale Empathie den Vorgang körperlich empfundenen Mitfühlens mit dem Anderen, werden wir keine der beiden Formen bei keinem der beiden Beziehungspartner mehr antreffen, nachdem das Spiel der Macht bereits eine Zeit lang in Gange ist. In vielen Unternehmen genügen aufgrund des gesamtgesellschaftlichen Umfelds sogar seltene Einzelereignisse, in denen von Macht Gebrauch gemacht wird, um wechselseitig Empathie nachhaltig unwahrscheinlich zu machen. – Auch hier spielt Antizipation wieder eine Rolle: Wenn sowohl Chef als auch Mitarbeiter fest damit rechnen (können), dass ihrer spezifischen Situation und ihren spezifischen Bedürfnissen keine Empathie entgegengebracht wird, wird die einseitige Pflege zur einer Art Selbstauslieferung innerhalb eines Spiels der Macht.

Empathie kann dann nur noch Schachzug innerhalb eines handfesten kalten Kriegs zwischen Mitarbeiter und Chef sein. – Und wir auch von beiden Seiten zuverlässig als genau das interpretiert.

Insofern ist es wenig überraschend, wenn Führungskräften in den Standardformen von Führungstrainings und Führungsratgebern regelmäßig empfohlen wird, ihre Gedanken und Gefühle von der Empathie mit Mitarbeitern zu lassen. – Innerhalb gegebener Rahmenbedingung ist auch das schlicht und einfach rational. Pflegt eine besonders empathisch veranlagte Führungskraft gegen solche naheliegenden Intuitionen Empathie mit Mitarbeitern, sind die spätestens mittelfristigen Folgen katastrophal für alle Beteiligten. Empathie einer Führungskraft kann das Verhältnis nicht aufheben, dass alle Mitarbeiter wissen und fest damit rechnen, dass von Machtmitteln Gebrauch gemacht wird, wenn ein Streit- oder Konfliktfall eintritt. Formulierungen wie „Jetzt hat sie ihr wahres Gesicht gezeigt“ sind noch die freundlicheren Formen der Enttäuschung, mit der Vorgesetzte konfrontiert sind, wenn sie unter hohem Aufwand und auf eigene Rechnung einen empathischen Führungsstil gepflegt haben. – Ohne systemische Unterstützung durch die „Kultur“ eines Unternehmens, die Verzicht auf den Gebrauch von Machtmitteln für den Mitarbeiter zuverlässig erwartbar macht, ist Empathie im Verhältnis von Chef und Mitarbeiter unwahrscheinlich.

Warum aber überhaupt Empathie in Unternehmen? Fehlt dort überhaupt etwas und ist sie nicht eigentlich völlig verzeichtbar, solange wir in einem Arbeitskontext sind und es um Ziele, Ergebnisse und Erfolge geht?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns kurz damit befassen, was in einem Unternehmen als „Erfolg“ gilt. – Und was in einem Unternehmen als Erfolg gelten sollte. – Wir können natürlich eine rein betriebswirtschaftliche Brille aufsetzen und die messbare Wertsteigerung eines Unternehmens auf Märkten, die mit Unternehmen handeln, als Erfolg ansetzen. Wir können aber auch vom Sinn von Unternehmen her denken, und die wirksamere oder umfassender Befriedigung von Kundenbedürfnisse zu geringeren Kosten als Unternehmenserfolg verstehen. In letzterem Fall ist Empathie unweigerlich ein Faktor. Es ist unmöglich für ein Unternehmen in diesem Sinne „erfolgreich“ zu sein, wenn es „seine Kunden nicht versteht“. Auch Innovationen sind in dieser Sichtweise das Resultat von Bedürfniserfüllungskonflikten (GfK-Sprech: „Strategie-Konflikten“): Aus der Unmöglichkeit zwei Bedürfnissen gleichzeitig mit den gegebenen Mitteln gerecht zu werden, entsteht ein natürlicher Innovationsdruck auf die Mittel. Denn die Alternative wäre dann immer nur, eines der gegebenen Bedürfnisse zu bagatellisieren und für „weniger wichtig“ zu erklären. Sprich: Jemanden zu enttäuschen oder zu verärgern.

Nehmen wir die Annahme hinzu, dass Empathie für andere Menschen, also auch für Kunden, nur möglich ist, wenn die handelnden Personen eine gute Selbstempathie pflegen, dass Selbstempathie und Anderempathie also stets gemeinsam ansteigen und gemeinsam absinken, so haben Unternehmen, die im Verhältnis Chef-Mitarbeiter einen strategischen Nachteil beim Versuch, „unternehmerisch erfolgreich zu sein.“

Dies gibt ein starkes Argument gegen den Gebrauch von Macht im Unternehmenskontext.

Dieses Argument hat allerdings keinerlei Zugkraft, solange wir von einer klassisch betriebswirtschaftlichen Definition von Erfolg ausgehen. Wertsteigerungen sind auch ohne Empahtie im Verhältnis Kunde-Mitarbeiter, im Verhältnis Chef-Mitarbeiter und im Verhältnis Investor-Manager möglich. Aus einer großen Anzahl von benennbaren Gründen, die ebenfalls über das hier umrissene Thema hinaus führen. – Für den Moment behelfen wir uns daher mit dem Verweis auf empirische Beobachtungen, die jeder von uns einfach machen kann, indem er Wertsteigerungen von Unternehmen damit vergleicht welches Empathie-Niveau er bei den betroffenen Unternehmen wahrzunehmen glaubt. Zumindest ich kann hier keinerlei zuverlässige Relation wahrnehmen. Es gibt Unternehmen mit hohem Empathie-Niveau, die Wertverluste hinnehmen müssen oder sich auf stabilem Niveau bewegen (ohne nennenswerte Wertsteigerung). Genauso gibt es Unternehmen, die mit Blick auf ihr internes und externes Empathieniveau als „Unternehmenshöllen“ bezeichnet werden können, die dabei hohe Wertzugewinne verbuchen können.

Aus diesen Gründen sind auch alle Ambitionen, anderen Menschen Anstrengungen in Richtung „menschlichere Unternehmen“ damit schmackhafter zu machen, dass diese dann auch wirtschaftlich erfolgreicher seien, zum Scheitern verurteilt. Unternehmen ohne Machtgebrauch und mit hohem Empathieniveau werden von den meisten Menschen zwar subjektiv als deutlich sinnhafter, belebender und gesünder erlebt. Wirtschaftlich schlagkräftiger sind sie nicht unbedingt. Und das u.a. deswegen, weil Empathie sich sowohl neutral als auch negativ auf bestimmte Unternehmensaktivitäten auswirken kann, mit denen sich aber faktisch hohe Wertsteigerungen auf den Unternehmensmärkten hervorrufen lassen.

Dass Macht gebrauchendes Management regelmäßig dann regelmäßig auf Probleme trifft, die Empathie gebrauchende Führung durch hohen Beziehungsaufwand vermeiden kann, fällt demgegenüber kaum ins Gewicht. Zumindest solange wie der Unternehmenswert der alles andere dominierende Fokus unseres Unternehmens ist.

Natürlich ahnen viele Menschen, dass Empathie sämtliche Vorgänge in Unternehmen, an denen Menschen in irgendeiner Form beteiligt sind, einfacher, angenehmer und schneller machen würde. Doch gegen die systemischen Effekte institutionalisierter Machtasymmetrien können sich solche Einsichten im Arbeitsalltag nur höchst selten durchsetzen. – Der wichtigste unter diesen Gründen ist wiederum unsere Antizipationsfähigkeit: Wir wissen aus Erfahrung, dass wir zwar in Einzelsituationen den Mehraufwand betreiben können, den Empathie im ersten Schritt erfordert. Aber auf Dauer können wir dieses Niveau ohne systemische Unterstützung nicht halten. Und so führt die Tugend der einen Situation zur Enttäuschung der anderen Situation. – Es ist rational, gar nicht erst Erwartungen aufkommen zu lassen, von denen man weiß, dass man sie enttäuschen muss.

Noch „fataler“ für die Möglichkeit von Empathie des Chefs für seine Mitarbeiter wirkt sich die Antizipationsfähigkeit der Mitarbeiter aus: Selbst die ehrlich gemeinteste Empathie des Vorgesetzten seinerseits mit Empathie zu beantworten, muss deswegen als unfreier Akt empfunden werden, weil am Ende immer die Möglichkeit steht, dass sich diese „Freundlichkeit“ irgendwie auf den Einsatz der vorhandenen Machtmittel auswirkt: „Der Chef wird mich seltener bestrafen und häufiger belohnen, wenn ich mich gut mit ihm stelle.“

Bleibt mit David Graeber nur festzustellen, dass für die Chef-Mitarbeiter-Beziehung das gleiche gilt wie für alle machtasymmetrischen Beziehungen: Die kognitive Empathie der Mitarbeiter für den Chef ist stets höher als die kognitive Empathie der Mitarbeiter für den Chef. Eine ohnmächtige Position zwingt zur Fähigkeit der Perspektivenübernahme. Eine Machtposition enthebt uns von der Notwendigkeit, uns in andere Menschen hineinversetzen zu müssen. Wir sparen uns das, weil wir es uns sparen können. Der Mensch ist ein ökonomisches, um nicht zu sagen: faules Wesen. – Und ich denke, das kann man keinem von uns zum Vorwurf machen.

In jedem Fall geht das bei Mitarbeitern allgemein verbreitete Wissen über die Asymmetrie kognitiver Empathie in machtasymmetrischen Beziehungen uns binnen Tagen, wenn nicht binnen Stunden verloren, sobald wir selbst von Institutionen an die längere Seite einer Machtasymmetrie „befördert“ werden.

Chefs wissen nie, wie wenig sie wissen. Chefs wissen nie, wie wenig sie über ihre Mitarbeiter wissen. Und Chefs wissen nie, wie viel ihre Mitarbeiter über all die Allzu-Menschlichkeiten des Chefs wissen.

Machtasymmetrien verunmöglichen nicht nur Empathie. Sie verdummen Menschen in Machtpositionen auch systematisch. Zumindest soweit es die menschliche Seite der Arbeit betrifft.

3.) Macht und Empathie im Verhältnis Berufspolitiker-Bürger

An dieser Stelle möchte ich etwas persönlicher werden und mit einem konkreten „Ereignis“ jüngeren Datums einsteigen: Vor zwei Tagen begegnet mir auf dem Heimweg von meiner Arbeit ein Plakat. Ein Plakat einer unserer politischen Parteien, welcher, spielt keine Rolle. Es macht keinerlei Unterschied.

Auf diesem Pakat werde ich als Bürger meines Staates eingeladen. Es kommen mehrere Politiker. Von einigen habe ich schon einmal über Medien die Namen gehört. Auf dem Plakat steht: „Wir hören Ihnen zu“.

Wer mir ein wenig näher steht, weiß, dass ich mich seit mehreren Monaten intensiver genau damit beschäftige: Wie wir in unserer Demokratie das entscheidungs-wirksame, wechselseitige Zuhören besser institutionalisieren können. Ich hätte mich also über die Botschaft jenes Plakates freuen müssen. – Habe ich aber nicht. Und die Gründe dafür haben genausowenig mit mir etwas individuell zu tun wie irgendetwas sonst, das im Raum des Politischen geschieht.

Warum also löst es Unbehagen aus, wenn uns eine unserer Parteien die Botschaft entgegenbringt, dass sie uns einlädt und uns nun wirklich wirklich Zuhören möchte?

Der Grund ist erkennbar einfach: Wir alle wissen, dass Parteien in Parlamenten einer Fraktionsdisziplin unterliegen, dass sei einen „Markenkern“ haben, dem sie treu bleiben müssen, weil sie sonst bei nächsten Wahlen „abgestraft“ werden, und dass sie sich generell in einem Raum der erbarmungslosen Konkurrenz (nach innen wie nach außen) ereignen, der keinerlei Raum für empathisches Zuhören lässt.

Parteien sind eingespannt in ein Feld der Macht und Kontrolle, das dazu dienen soll, uns vor Machtmissbrauch zu schützen. Der Erfolg dieses Systems der „Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle“ hinsichtlich seiner Schutzeffekte vor Machtmissbrauch ist, sagen wir es freundlich: so lala.

Was dieses von uns etablierte und von uns nach wie vor geduldete System dagegen sehr gut leistet ist: Empathischen Dialog zu verunmöglichen. Das geht soweit, dass wir ernsthaft glauben, „Politik“ und „Empathie“ seien einander wechselseitig ausschließende Größen des menschlichen Lebens. Stattdessen identifizieren wir „Politik“ mit „Spielen der Macht“. Man kann uns das gut nachsehen: Wir kennen es ja nicht anders.

Es ist also reiner Hohn oder eben eine sehr gönnerhafte Haltung, wenn eine politische Partei Signale des Zuhörens und der Empathie ausstrahlt. In einem Feld, das von Macht im strengen, Gordonschen Sinn geprägt ist: Belohnen/Bestrafen, ist keine Empathie zu erwarten. Wir alle wissen das.

Berufspolitiker können Empathie nur vortäuschen. Und versuchen sie auch ständig vorzutäuschen, „um wiedergewählt zu werden“. Und man kann ihnen das schlecht vorwerfen. Immerhin ist genau das ihre Aufgabe: Wiederwahl sicherzustellen. So haben wir unser derzeitiges System gebaut. – Noch die populistischste Politik, ja gerade sie, kann als verzweifelt scheiternder Versuch von Berufspolitikern angesehen werden, den einzigen empathischen Akt zu performen, der ihnen im gegebenen politischen System möglich ist: Das Spiegeln vermeintlicher Wähleremotionen. Und manche Berufspolitiker sind dabei ja durchaus treffsicherer und schauspielbegabter als andere.

Faktisch sind unsere bestehenden politischen Institutionen, die wir im Zuge eines ebenso globalen wie historischen Etikettenschwindels „demokratisch“ nennen, Formen systematischer Blockade von Empathie, soweit sie uns als Bürger betrifft. Über die Etablierung eines Systems aus Berufspolitikertum, Parteien, Wahlen und geduldetem Lobbyismus haben wir unseren politischen Raum mit Machtasymmetrien durchzogen, die uns heute ganz deutlich spürbar auf die Füße fallen:

Statt Dialog, wechselseitige Information und Austausch bekommen wir Konkurrenz, Debatte und systemischem Zwang zur Täuschung und Lüge. Mir ist wichtig, dass das nicht als moralisches Urteil über Menschen missverstanden wird. Ich halte jeden einzelnen Berufspolitiker für einen ganz normalen Menschen, „für einen von uns“. Menschen, die Berufspolitiker sind, machen nichts falsch. Sie machen nur ihren Job im Rahmen eines Systems das sie zu dem macht, was sie dann eben auch sind: Berufspolitiker, denen wir Zwänge auferlegt haben, die sie unserer Kontrolle unterwerfen sollten, die aber stattdessen den Effekt haben, Politik und Empathie zu erlebbaren Gegensätzen zu machen.

Das betrifft nicht nur das ebenso unwürdige wie politisch völlig irrelevante Geschachere um Posten oder um Koalitionsverinbarungen. Es betrifft vor allem das, was man eigentlich demokratisch nennen könnte: Unsere Selbstbeherrschung. Demokratie, wenn sie den Namen denn verdient hat, ist ein Netzwerk von Institutionen, das uns ermöglicht, uns selbst so zu beherrschen, dass wir uns allen gleichermaßen gerecht werden können. – In diesem Satz, ist das „uns“, das Objekt des Satzes ist, ein Wesen mit Gefühlen und Bedürfnissen. Ein Wesen, das Empathie braucht, damit auf seine Gefühle wirklich eingegangen und seine Bedürfnisse im Rahmen des politisch Möglichen so gut es eben gerade geht erfüllt werden. – In diesem Satz ist das „uns“, das Subjekt des Satzes ist, ein Wesen, das ebenfalls Gefühle hat und das diese Gefühlserfahrungen aktiv nutzt, um auf vorhandene Gefühle einzugehen und diese in politische Entscheidungen und Handlungen umzusetzen. Demokratie heißt, mit anderen Worten: „Mit uns selbst empathisch sein.“ Oder technischer: Echte Demokratie besteht aus einem Netz von politischen Institutionen, die es uns ermöglichen, unsere naturgegebene Empathiefähigkeit gemeinsam zu kultivieren und in verbindliche Entscheidungen zu überführen.

Wenn sich heute „Menschen von der Politik unverstanden fühlen“, so ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass hier nicht Berufspolitiker versagen, sondern dass hier unser bisheriges politisches System versagt, dass wir alle gemeinsam etablieren und in seinen jetztigen Formen dulden oder sogar mit Nachdruck bestätigen.

Politikerbashing ist daher Unsinn und trägt vielmehr selber dazu bei, ein unsinniges System am Laufen zu halten. Ein solches Bashing erweckt den Anschein, als würde es irgendeinen politischen Unterschied machen, ob nun dieser oder jener Berufspolitiker ein Amt bekleidet. Dieses Bashing hält ein künstliches Interesse an Parteien und Wahlen aufrecht. Dabei erleben wir ja, dass es weder Wahlen noch Parteien noch Mandatsträger irgendwelche relevanten Unterschiede machen. Und „relevant“ heißt hier: Unterschiede, die wir dann in unserer Lebenswelt wahrnehmen, die wir in unserem Alltag spüren. – Wir ignorieren diese immer wieder neu gemachte Erfahrung der Unterschiedslosigkeit nur geflisstenlich, weil wir uns erzählen, es gäbe keine Alternative dazu, wir müssten damit Leben und uns damit abfinden. Auch der neue Populismus, der seit 2014 viel Staub aufwirbelt, führt keineswegs zu einer Renaissance von Politik oder gar Demokratie. Er peppt nur die Show etwas auf und generiert neue Aufmerksamkeit für Vorgänge, die keinerlei Unterschiede machen. Das Wirkungsloseste, das man als politikinteressierter Mensch heute machen kann, ist: Eine neue Partei zu gründen. Es ist exakt gleich wirkungslos wie in eine vorhandene politische Partei einzutreten und sich dort „zu engagieren“.

Kein Einzelner kann die Entfremdungseffekte von Machtasymmetrien aufheben, während die Machtasymmetrien selbst fortgestehen. Und neue Machtasymmetrien zu etablieren, um andere Machtasymmetrien „in Schach zu halten“, ist völlig sinnlos, wenn es letztlich darum geht, politische Empathie ermöglichen. Die bekommt man so nämlich nicht. Was man dann bekommt: Neue Spiele der Macht, neue Kämpfe, neue Zerfleischungen, neue Konkurrenz, neue Konflikte, neue Debatten. – Für die Show ist das gut. Die braucht Ereignisse. Allerdings füttert sich diese Show selbst, als Selbstzweck. Mit unserem Leben, mit dem, was wir voneinander brauchen, mit dem, was wir tun müssten und was wir lassen müssten, um unseren Gefühlen und Bedürfnissen besser gerecht zu werden. – Mit all dem kann diese Show nichts zu tun haben. Und das völlig unabhängig davon, wer in ihr gerade auftritt. Man kann unsere Show- und Zuschauer-Demokratie also nicht den Berufspolitikern zum Vorwurf machen. Dieser Vorwurf ist völlig sinnlos. Was wir uns dagegen gemeinsam überlegen können, ist die Frage, welche besseren Institutionen wir etablieren können. Institutionen, die das leisten, was Parteien, Wahlen und Berufspolitiker aus systematischen Gründen niemals leisten können werden. Unsere Erwartung, Berufspolitiker sollten es doch auf irgendeine magisch-heroische Weise können, sie sollten „das Volk besser verstehen“ oder ähnlicher Unsinn mehr, ist pure Überforderung. Das gilt im Übrigen auch dann, wenn Berufspolitiker selbst glauben, das sei ihnen irgendwie möglich und daher ihre Aufgabe.

Kein Berufspolitiker hat den Raum oder wird ihn jemals haben, um empathisch auf Bürger eingehen zu können. Solange wir glauben, dass der Raum des Politischen ein Raum der Machtasymmetrien ist und sein muss, werden wir ein System schaffen, wie wir es derzeit haben und täglich neu in seinen Effekten auf uns sehr gut kennenlernen.

Empathie kann nur zwischen Bürgern entstehen: Als Freie und Gleiche, in einem Raum, der vorhandene Machtasymmetrien systematisch ausschaltet anstatt sie im (dann überflüssigen) Raum des Politischen noch einmal 1:1 abzubilden und fortzusetzen.

Wenn ich als Mensch spreche, dem man ermöglicht hat, politische Philosophie studieren zu dürfen, dann würde ich sagen: Wir haben derzeit nicht nur keine Demokratie. Wir haben derzeit nicht einmal Politik. Wir nennen zwar das, was sich rundherum um Parteien, Wahlen, Berufspolitiker und weitere, damit zusammenhängende Institutionen abspielt „Demokratie“ und „Politik“. Worte allein stellen aber keine Sachverhalte her, schließlich sind wir keine Zauberkünstler, auch nicht dann, wenn man unsere kollektiven Fähigkeiten zur kollektiver Selbsthypnose abruft.

Der Raum des Politischen braucht, damit er überhaupt erst entsteht, Orte relevanter Begegnung, relevanten Austauschs, relevanten Dialogs. Und „relevant“ heißt hier wie immer im Fall von Empathie: Sie hat Konsequenzen im Entscheiden und Handeln.

Sieht man auf das systematische Verhältnis von Macht und Empathie, so wird klar, dass verfassungsmäßige Institutionen, wie sie beispielsweise das Land Vorarlberg in Österreich geschaffen hat, nur ein Anfang sein können.

4.) Warum Empathie heute wichtiger für uns geworden ist – Und Macht heute fatale Konsequenzen für uns hat

Empathie bedeutet für uns als Menschen nicht nur etwas Oberflächliches, Gefühliges, das am Rande unseres Bewusstseins geschieht. Vielmehr ist Empathie für uns eine zentrale Erfahrung, sowohl wenn sie gegeben ist als auch wenn uns ein Mangeln an Empathie entgegenschlägt.

Empathie entegegengebracht zu bekommen, bedeutet für uns: Wir gehören dazu, wir sind wichtig, wir zählen. Das ist in unserer heutigen Gesellschaft möglicherweise deutlich wichtiger für uns als annodazumals in Stammesgesellschaften, in der menschliche Gemeinschaftszugehörigkeit absolut war. Heute gehört jeder von uns von Geburt an mehreren Gemeinschaften und sozialen Kreisen an. Und in jeder ist seine Zugehörigkeit fragwürdig, kann erlöschen oder erneuert werden. Positiv gesprochen verteilen sich die Zugehörigkeitsbedürfnisse, die eine menschliche Eigentümlichkeit sind, in unserer heutigen Gesellschaft stets auf mehrere Gemeinschaften und geben uns daher Optionen und machen uns von diesen Gemeinschaften unabhängiger. Dies ist auch der eigentliche Fortschritt moderner Gesellschaften und vielleicht der Kern dessen, was wir manchmal „Emanzipation“ nennen.

Für unsere fundamentalen Wünsche nach Zugehörigkeit ist das zugleich aber auch eine Situation, die emotional als bedrohlich empfunden wird. Wir leben in einer Welt bedingter Zugehörigkeiten. Und auch wenn die Möglichkeit, „die Gemeinschaft zu wechseln“ uns Freiheit gegenüber diesen Gemeinschaften verschafft, ist diese Freiheit bezogen auf unsere emotionalen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit niemals für sich allein schon beruhigend für uns. – Damit sie beruhigend ist, brauchen wir mindestens eine Gemeinschaft, in der wir fest damit rechnen können, dass uns Empathie entgegengebracht wird, wann immer wir sie brauchen. Viele Menschen suchen diese Empathie in privaten Beziehungen, bei Freunden und in ihren Familien. Nicht ganz so viele Menschen finden sie dort in der Form, die sie dort suchen und bräuchten.

Unter diesen Umständen kann sich Empathie nie in einem rein gefühlsmäßigem Austausch erschöpfen. Jedes Signal anderer, das uns sagt: „Ich verstehe“, wird als nur vorgeschoben, als Heuchelei oder eben als unempathisch empfunden, wenn es nicht in entsprechende Handlungen mündet, die das Gleiche ausdrücken. – Empathie hat Konsequenzen im Handeln. Das Gespräch und der emotionale Austausch über Bedürfnisse hat allein den Zweck, Handlungen zu ermöglichen, die uns eigentlich Empathie bedeuten: Dinge, die uns dann nicht (mehr) angetan werden. Bedürfnisse, denen der andere dann besser gerecht wird.

Dass Empathie anderes Handeln bedeutet wird besonders deutlich dort, wo wir heute aus systemischen Gründen nicht mehr mit Empathie rechnen, weil wir dort Macht institutionalisiert haben, also z.B. in unseren Unternehmen oder in unserer Politik. Während die Frage, wie viel Empathie und erlebte Zugehörigkeit ich in meiner Familie gebe und bekomme, größere individuelle Spielräume zu haben scheint, sind in den beiden anderen Verhältnissen den individuellen Spielräumen strukturelle Grenzen gesetzt.

Wenn beispielsweise in Unternehmen „Mitarbeiterbefragungen“ durchgeführt werden, so ist die für uns über Empathie/Macht entscheidende Frage, ob unsere Antworten auf die uns dort gestellten Fragen auch Konsequenzen haben. Ob also Entscheidungen anders getroffen oder revidiet werden, weil wir signalisiert haben, dass bestimmte Dinge für uns wichtig sind, uns als emotionale, bedürftige Wesen berühren.

Oft ist bereits die Form, in der uns diese Fragen erreichen, ein starkes Machtsignal/ein Anti-Empathie-Signal. Uns wird vermittelt, dass wir nicht wichtig sind, dass wir nicht zählen, dass unsere Zugehörigkeit einer extremen Bedingtheit unterliegt: Sie kann jederzeit in Frage gestellt werden. Das ist auch der Hauptgrund für das Phänomen der „inneren Kündigung“ oder zahlreicher Stressphänomene, die heute im Arbeitskontext auftauchen. Im Grunde erleben wir Mitarbeiterbefragungen oft als Heuchlerisch oder als Gönnerhaft. Empathisch wäre, wenn wir schon die Fragen mitbestimmen könnten, die uns dort gestellt werden. Und wichtiger noch: Wenn wir sicher sein könnten, dass unsere Antworten wichtigste Größe bei anstehenden Entscheidungen wären. – Ich weiß nicht, wie oft Sie beides bisher in Unternehmen erlebt haben. Ich persönlich habe das noch nie erlebt. Ich weiß aber, dass es Unternehmen gibt, die diesen Weg eingeschlagen haben, ohne sich dabei betriebswirtschaftlich zu Grunde zu richten. Es ist also nicht nur rein theoretisch, sondern rein praktisch möglich, Macht aus Unternehmen zu verbannen und in Unternehmen Empathie und stabile Empfindungen von Zugehörigkeit zu institutionalisieren, ohne dass daraus eine reine Show-Veranstaltung wird, die nur Mittel ist, dass eine Machtasymmetrie vordergründig angenehmer gestaltet wird, sich in Wahrheit aber noch deutlich perfider auf uns auswirkt als offene Diktatur oder offenes Durchregieren.

Ähnliches gilt – wie wir oben in Abschnitt 3.) gesehen haben – auch für die Politik. Weit entfernt davon, dass sich Politik „um Macht dreht“, wie wir oft glauben, weil wir es schlicht nicht anders kennengelernt haben, ist es selbstverständlich möglich, dass Macht aus dem Raum der Politik verbannt und Empathie dort kultiviert wird. Es gibt sogar namhafte politische Theoretiker, die behaupten, dass der Raum des Politischen überhaupt dort erst beginnt, wo wir auf Machtmittel verzichten und empathischer Austausch über das, was uns alle gemeinsam betrifft, an der Tagesordnung ist.

Auch hier ist es so, dass wir alle sofort und sehr eindeutig zwischen „nur vorgetäuschter Empathie“ und „echter Empathie“ unterscheiden können. Und genauso wie im Privatbereich und in Unternehmen so schauen wir auch hier auf die Handlungen, die sich an unseren vorgeblich empathischen Austausch anschließen. Erst die Handlungen, ob Konsequenzen gezogen werden, entscheiden rückwirkend darüber, ob wir den vorausgegangenen Austausch als „wirklich empathisch“ erleben. Empathie ist kein Selbstzweck. Sie ist Mittel zur Zugehörigkeit genauso wie Mittel zur besseren Handlungskoordination zwischen uns allen. Ohne Empathie fühlen wir uns nicht zugehörig, sind „politikverdrossen“ und desengagiert, ganz einfach deswegen, weil sich unser politisches System auch nicht wirklich auf uns einlässt, sich nicht mit uns und durch uns engagiert. Ohne Empathie ist aber auch keine gute Handlungskoordination zwischen uns als Bürgern möglich. Sofern wir unsere demokratischen Institutionen als Mittel zur bestmöglichen Handlungskoordination verstehen, kann Macht dort keinen Platz haben. Denn Macht blockiert die Möglichkeit empathischen Austauschs systematisch und macht empathischen Austausch stets zur reinen Show. Wir brauchen daher verfassungsmäßige und handlungswirksame Institutionen, die Machtasymmetrien systematisch ausschalten und dadurch Räume zu wechselseitig empathischem Austausch schaffen. Einem aneinander interessierten Austausch „auf Augenhöhe“, wie es so schön heißt.

Diese Institutionen fehlen uns heute immer noch. Und sie fehlen schmerzhaft.

5.) Ableitung allgemeiner Konsequenzen aus den erfahrenen Verhältnissen von Macht und Empathie

Diese Ausführungen zum Verhältnis von Macht und Empathie haben einen großen Pferdefuß: Sie setzen voraus, dass er Leser eigene Erfahrungen mit der großartigen Wirkung von Empathie in Beziehungen hat, auch in sogenannten „schwierigen Situationen“ und unter widrigsten Umständen.

Diese Voraussetzung ist meiner Ansicht nach recht gewagt. Im Grunde kann man es nicht einfach für selbstverständlich setzen, dass Menschen eigene Erfahrungen mit gewalt- und machtfreien Beziehungen machen konnten. Dazu sind Phänomene von Machtasymmetrie viel zu verbreitet und zu normal in unseren derzeitigen Gesellschaftsformen.

Es bleibt also möglicherweise eine leere Aussage und ein ungedeckter Scheck, wenn ich sage: Empathische, machtfreie Beziehungen sind der Anfang und das Ende aller wirklich guten Dinge, die wir als Menschen erfahren können. – Und Machtasymmetrien können als „Wurzel alles menschenverursachten Übels“ identifiziert werden, also jener Probleme, deren Lösung wir selbst in der Hand haben und die in einem umfassenden Sinn „vermeidbar“ sind.

Ich selbst lebe in einer Welt, in der selbst eine gedachte, „ideale“ Gesellschaft noch lang kein „Paradies auf Erden“ ist. Ich halte es auch für völlig ausgeschlossen, dass ein solcher Zustand jemals erreicht werden kann. Ich bin mir zudem sicher, dass ein solcher Zustand nicht einmal erstrebenswert wäre, wenn er für uns erreichbar wäre. – All das hat keine Bedeutung für das Problem der gezielten Aufhebung von Machtasymmetrien, wo auch immer sie gerade auftreten oder sich etabliert haben mögen. Eher schon kann man auf das Problem eingehen, ob es uns denn langweilig würde in einer solchen Gesellschaft, die die systematische Aufhebung von Machtasymmetrien als kulturellen Grundkonsens hat. Doch auch das halte ich für sehr unwahrscheinlich: Es wird immer hinreichend viele uns Menschen unverfügbare Probleme geben, an denen wir uns abarbeiten werden. Wir haben auch dann „genügend zu tun“, wenn wir unsere vermeidbaren Probleme gezielt vom Tisch bringen, was ebenfalls eine bleibende Arbeit sein dürfte. Denn Machtasymmetrien werden nicht nur „vererbt“ und „pflanzen sich fort“. Sie werden auch immer wieder neu, spontan aus sich heraus entstehen. Mit allen Verhaltensanreizen und Selbststabilierungstendenzen, die oben angedeutet wurden.

Gemeinsam auf einem Planeten durchs kalte All rasend, einem Planeten, der nur oberflächlich gesehen menschen- und lebensfreundlich ist, sind gute zwischenmenschliche Beziehungen das, was uns Geborgenheit, Sinn, Ziel und Halt gibt, während wir gemeinsam sowohl ums Überleben wie um die vielfältigen Formen eines „guten Lebens“ ringen. Dieses „planetare Bewusstsein“ ist neu. Es ist ein Novum in der Menschheitsgeschichte. Ich denke, dass der neuartige Blick auf „uns“, der erst vor Kurzem möglich geworden ist, mit einem neuartigen Blick auf Beziehungen, das Phänomen Empathie und das Phänomen Machtasymmetrien korrespondiert.

Und ich halte es für sicher, dass die Welt von morgen nicht die Welt von heute sein wird. Ob sie sich uns als „Fortschritt“ darstellt und uns damit rückblickend als „rückschrittlich“ verstehen muss, ist sicher nicht gewiss. Aber wir können genau das als unsere gemeinsame Aufgabe verstehen.

Wir alle – Einer von uns – Niemandes Feind

Wir stehen heute an einer interessanten Stelle in der politischen Geschichte der Menschheit: Die planetare Weltgesellschaft ist bereits Realität. Aber sie hat noch nicht die für sie passenden politischen Institutionen gefunden, sondern versucht sich derzeit  noch mit Formen zu behelfen, die sinnvoll waren, als politische Gemeinschaften noch ein Außen hatten.

In dieser Situation macht es Sinn, sich immer wieder mal zu vergegenwärtigen, was „Wir“ „ursprünglich“ mal für „uns“ bedeutet haben mag – Also produktive Fantasien über die menschliche Vergangenheit und menschliche Gemeinschaften der Vergangenheit zu spinnen. Philosophische history fiction hat eine lange Tradition. Sie beginnt nicht erst mit Hobbes‘ und Rousseaus vermeintlich gegensätzlichen Naturzustands-Fantasien. Bereits in der griechischen Antike hatten solche Fantasien über die „Wurzeln“ des eigenen Gemeinwesens eine feste Tradition, „Ursprungs“-besessen wie diese Antike uns heute erscheint.

In allen Sprachen der Menschheit bedeutete das Wort „Mensch“ einst nicht das, was es uns heute bedeutet. Es bedeutete nicht: „homo sapiens“. Es war nicht durch ein sehr weitgehend geteiltes Genom bestimmt.

Es bedeutete stattdessen: „Einer von uns“. Wer als „Mensch“ bezeichnet wurde, war verhandlungs- und dialogfähig, war geschäftsfähig, war Teil einer „Wir-Gruppe“, außerhalb derer es nur eine wenig berechenbare und in weiten Teilen bedrohliche Natur gab, deren Begriff ebenfalls noch nicht erfunden war.

Gruppen, die wir heute als „unterschiedliche Stämme“ bezeichnen würden, verhielten sich wechselseitig zueinander wie Naturkatastrophen. Sie standen in keinerlei politischem Verhältnis zueinander, sondern in einem Verhältnis absoluter, naturaler Konkurrenz. Die „Völkermorde“, die sich damals regelmäßig ereigneten, wurden nur deswegen nicht so bezeichnet, weil der Begriff „Volk“ in dieser historischen Situation wenig Sinn machte. Damit es Völkermord als Begriff geben kann, muss anerkannt sein, dass es überhaupt verschiedene Völker gibt. – Und eben das war nicht der Fall.

Für jede, in-sich-isolierte Gruppe von Menschen (wie wir heute sagen) gab es nur sie selbst. Das „da draußen“ waren eben gar keine Menschen. Es waren „die Anderen“ oder eben: „Keine von uns“. Man konnte mit ihnen nicht reden, nur selten handeln, sie waren anders, man konnte sie nur vertreiben oder von ihnen vertrieben werden. Für diese Anderen galten nicht die Regeln und Schutzimperative, die für die galten, die eben dazugehörten und „Menschen“ waren. – Und so in jeder einzelnen Gruppe.

Diesen Zustand der wechselseitigen absoluten Isolation überwanden im europäischen Raum erstmals die Römer, allerdings nicht mit dauerhaftem Erfolg. Das Imperium Romanum war der Ort, an dem in Europa der Begriff des „Volks“ erstmals Sinn machte und zugleich die „unterschiedlichen Völker“ mit hervorbrachte. – Noch bei den Griechen hat man beim Studium der von ihnen überlieferten Texte den Eindruck, dass Nicht-Griechen von ihnen kaum als „Menschen“ ernstgenommen werden konnten. Und selbst der griechische Anspruch, dass eben „die Griechen“ (= die Menschen) eine Art kultureller Wertegemeinschaft bilden sollten, konnte politisch niemals eingelöst werden. Spätestens mit dem Peloponnesischen Krieg realisierte man, dass man im Zustand wechselseitiger „Barbarisierung“ hängen geblieben war. Bei Thukydides ist das Erschrecken darüber greifbar, dass Griechen in diesem 30-jährigen Krieg Griechen Dinge antaten, die sie nach politischem Selbstverständnis nur Nicht-Griechen hätten antun dürfen. Ein kultureller Anspruch, der politisch nie eingelöst werden konnte. Daher das Entsetzen.

Es gibt Parallelen in der jüngeren europäischen Geschichte zu diesem thukydideischen Erschrecken, z.B. beim Zerfall Jugoslawiens.

Dass wir heute alle Menschen als Menschen erkennen ist also eine relativ neue Errungenschaft. Noch bis vor Kurzem gingen z.B. die beiden schwerpunktmäßig im europäischem Raum ausgetragenen „Weltkriege“ (man verzeihe mir meinen Eurozentrismus) mit einer psychologisch-politisch notwendigen Entmenschung des Gegners einher. Und es scheint heute Konsens zu sein, dass es uns als Menschen nur sehr schwer möglich ist, überhaupt Kriege gegen andere Menschen zu führen, ohne dass wir uns dabei wechselseitig eben nicht mehr als Menschen betrachten.

Wir können daran ablesen, wo wir heute stehen: Wir haben ein all-inklusives „Wir“ herausgebildet, zu dem jeder dazu gehört. Und das ist ein echte Novum in der Menschheitsgeschichte. Es besteht – zumindest von unserem inneren Selbstverständnis  her – eine globale Menschheitsgemeinschaft. Ein all-inklusives Wir, das kein politisches Außen mehr kennt.

Zwar gibt es noch Staaten, die Außengrenzen ziehen und verteidigen, aber sie gleichen mehr föderalen Verwaltungseinheiten. Zwar gibt es noch Politiker, die nicht müde werden, „Wir-gegen-Die“-Geschichten erzählen. Aber es ist für uns alle sehr leicht durchschaubar, dass sie das tun, um auf psychologische Reflexe abzuzielen, die wir Menschen noch aus ancient times mit uns herumschleppen: Wenn wir uns bedroht fühlen, sind wir geneigter, wenigen Menschen viel Macht und „Befehlsgewalt“ über uns zu geben als wenn wir uns sicher und in Frieden fühlen

Auch heute noch wird in unserer Weltpolitik gerne von Kampf, Mobilisierung und Krieg gesprochen: Im Zuge von Kampagnen, im Zuge von Protest, von Bewegungen und von institutionalisierter politischer Konkurrenz über Parteien. – Man versteht dann Politik als interne Fortsetzung des einstmals absolut-äußerlichen Kriegs. Wie man so unschön sagt: „Politik als Fortsetzung von Krieg mit anderen Mitteln.“

Allerdings nimmt man die Entmenschung, die Kriegsführung unweigerlich an sich hat, dann immer mit hinein in den Raum des Politischen. – Und wie wir heute wissen können: Mit Nicht-Menschen ist eigentlich keine Politik zu machen. Sondern nur ein Wechsel von Krieg und vorübergehendem Waffenstillstand. Keine Seite hat dann ein Interesse, „die Waffen aus der Hand zu geben“, denn jede Seite hat begründete Angst, dass ihre eigene politische (= nicht-kriegerische) Haltung die Grundlage des eigenen Untergangs ist. Wir vergessen oft, dass in der Politk existentielle Ängste verhandelt werden. Und das auch dort, wo das absurd oder zumindest nicht ganz offensichtlich ist.

Wir Menschen haben viel Grund, vor anderen Menschen Angst zu haben. Denn Menschen haben die ganze Menschheitsgeschichte über anderen Menschen Schlimmstes angetan – Und tun das auch heute immer wieder.

Die Frage, ob wir alle ein all-inklusives Wir bilden, ob wirklich alle „einer von uns“ sind und ob wir damit im Grunde niemandes Feind sind, zielt auf Antworten, die letztlich institutioneller Natur sein müssen. Wir brauchen heute politische Institutionen, in denen wir uns in nicht-kriegerischer Haltung begegnen können. In denen klar ist, dass wir diesen Planeten gemeinsam bewohnen wollen. Dass wir zu Lösungen kommen wollen, in denen es allen gleichermaßen gut geht und keiner „heimlich besiegt“ worden ist. In denen wir uns als Freie und Gleichwertige begegnen. Nicht nur als Verhandlungspartner, die ein ständiges Tauziehen betreiben und die darum ständig aufpassen müssen, nicht „von der anderen Partei“ über den Tisch gezogen müssen. Sondern als Einzelne, die aus wirksamen Gründen darauf hoffen können, dass ihre Bedürfnisse bei „allen anderen“ auf echtes Interesse treffen. Ein Interesse, das über reines „Gehör finden“ noch hinaus geht, obgleich uns schon das heute noch völlig zu überfordern scheint.

Wie aber baut man jenen Institutionen vor, wenn sie noch nicht existieren? Wie bereitet man sie vor? Wie arbeitet man auf sie hin?

Ich denke, hier sind sehr viele sehr unterschiedliche Antworten möglich. Aber es erscheint mir als sicher, dass die Sprache des Krieges vermieden werden muss, wenn man auf die Errichtung sinnvoller planetarer politischer Institutionen abzielt. All jene, die heute eine „bessere Zukunft“ vorbereiten, können nicht mehr auf Kriegsrhetorik zurückgreifen, wenn sie nicht nur alte Feind- und Frontstellung reproduzieren und damit künstlich in die Zukunft hinein verlängern wollen.

Es kann uns heute kaum mehr darum gehen irgendwen „zu bekämpfen“. Denn der, den wir da jeweils gerade bekriegen: Der ist ja „einer von uns“. Die Weltgesellschaft, die kein außen mehr kennt, löst, wie schon vor ihr die Stammesgesellschaft, die nur außen kannte, den Begriff des „Volks“ vollständig auf. Der begriffliche Mechanismus ist in beiden Fällen der gleiche: Wenn es nur ein Volk gibt, macht der Begriff schlicht keinen Sinn. Das Denken „in Völkern“ zeigt sich uns heute als menschheitsgeschichtlicher Zwischenzustand. Als vorübergehendes Denken, das typisch war für eine Phase, in der es keine vollkommen exklusiven Stämme mehr gab, aber noch keine Weltpolitik. Jene „römische“ Phase der Menschheitsgeschichte, in der es so etwas wie „Außenpolitik“ gab. Heute gehört jeder zur Gemeinschaft der Menschen auf dem Planeten. Und es erscheint als unausweichlich, dass er von „uns“ auch so behandelt wird, und nicht als „Feind“.

Wenn also Gewalt auftritt und wir Gewalt entschieden entgegentreten müssen, um uns nicht selbst bedroht zu fühlen, so tun wir gut daran, die Nerven zu behalten und unser Gewicht nicht durch überlegene Waffengewalt ins Spiel zu bringen, sondern mit Beziehungsangeboten, die so verlockend sind, dass keine Aussicht auf „Sieg“ in einem Krieg sie überstrahlen kann.

Diesen Weg haben wir in vielen Punkten bereits nach dem II. Weltkrieg eingeschlagen. Und er hat unsere Weltgesellschaft in einem so drastischen Tempo vorangebracht, dass es für viele schlicht zu schnell gewesen sein mag.

Was wir heute an uns und um uns erleben, sind jene tiefsitzenden kriegerischen Reflexe, die in der Weltgesellschaft, die sich eben erst herausgebildet hat, keinen dauerhaften Bestand haben können.

Wer heute schon Weltbürger sein will, tut gut daran, sein eigenes kriegerisches Empfinden, Reden und Handeln im Blick zu behalten. – Und sich in denjenigen Situationen, die diese erlernten Reflexe bei ihm auslösen, andere Verhaltensweisen offen zu halten, die das Gleiche auf deutlich bessere Weise leisten.

Für „The war against XYZ“ sind heutige Weltbürger jedenfalls nicht mehr zu begeistern. – Aus systematischen Gründen, wie es sich hier möglicherweise gezeigt hat. „Mobilisierung“ sieht heute anders aus. Und sie fühlt sich so anders an, dass auch dieser Ausdruck erkennbar wird als das, woher er „stammt“: Aus dem Bereich der Kriegsrhetorik.

Jene neuen sozialen Bewegungen, die sich bereits in vollem Bewusstsein des eigenen Weltbürgertum herausbilden, verstehen sich stets als Einladungen zu bestimmten Beziehungen. Sie gewinnen genau dadurch, dass sie nicht versprechen, „bei einem grandiosen Sieg mit dabeizusein“ oder „final über die Mitmenschen XYZ zu triumphieren“.

Den wichtigen Unterschied zwischen solchen finiten politischen Zielen und infiniten politischen Zielen hat Simon Sinek in einem schönen, kurzen Ted Talk überaus klar herausgearbeitet. Und man kann gar nicht übertreiben damit, wenn man betont, wie über alle Maßen bedeutungsvoll das Verständnis dieses Unterschieds für die weitere politische Entwicklung unserer Weltgesellschaft ist:

In einer planetaren Weltgemeinschaft, in der wir auf allgemeine Kooperation und Kriegsverzicht angewiesen sind, kann auch das Neue nicht im Kampf- und Kriegsmodus in die Welt kommen, sondern nur als neuartiges Beziehungsgeflecht. Als nicht-exklusives Wir im Wir, dass sich niemals gegen irgendein anderes Wir im Wir richtet, sondern das den Einzelnen einlädt, sich zu beteiligen und beizutragen. – Zum Wohle von ausnahmslos allen.

Jede soziale Bewegung, die diesem Anspruch nicht genügt oder sich noch nicht einmal dieses Anspruchs bewusst ist, den die heutige Zeit an sie stellt, reißt das bereits bestehende Niveau an sozialer Kooperation. – Und darf daher gerne als ein Moment gesehen werden, dass die Entwicklung einer auch politisch institutionalisierten Weltgemeinschaft verzögert. Möglicherweise gegen die eigenen Absichten.

Fortschrittliche soziale Bewegungen können wir heute also zuverlässig daran erkennen, dass sie keine Feindbilder mehr pflegen, um in Schwung zu kommen, um Menschen zur Teilnahme zu bewegen und sich kurzfristig oder dauerhaft Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Die Zukunft gehört jenen Menschen, denen es bereits heute gelingt, keine Feinde mehr zu haben.

Das ist – zumindest in meinem persönlichen Erleben – ein Knochenjob, der jedem, der das unter den gegebenen Umständen versuchen möchte,  wahrscheinlich mehr abverlangt, als man von einem Menschen verlangen kann.

„Wirs im Wir“ können hier sehr hilfreich, unterstützend und vielleicht sogar notwendig sein. Solange sie eben „Wir im Wir“ bleiben. Was ihnen wiederum gelingt, solange sie sich nicht gegen ein anderes „Wir im Wir“ herausbilden.

Wie gesagt: Das ist ein Novum in der Menschheitsgeschichte.

Aber wir sind ja auch an einem ganz und gar neuartigen Punkt angekommen. An einer noch nie zuvor dagewesenen Stelle. Hier mag durchaus möglich werden, was bisher völlig unmöglich schien.

Ein #Feminismus, der erfolgreicher sein will, wird sich deutlich mehr mit Männlichkeitserfahrungen beschäftigen

…und natürlich weiterhin wie bisher auch intensiv mit Weiblichkeitserfahrungen.

Bei aller Gefahr als Mansplainer wahrgenommen zu werden, denke ich, dass es Aspekte von Feminismus gibt, zu denen wir Männer produktiv beitragen können. Einer davon betrifft die Frage, wie Feminismus noch einmal deutlich erfolgreicher agieren könnte als bisher. – Ohne seine bisherigen Aktivitäten aufzugeben oder zu modifizieren.

Das paternalistische Gender-System, das wir nur all zu gut kennengelernt haben und täglich neu schmerzhaft kennenlernen, und viele bisher entwickelte Formen von Feminismus haben eins gemeinsam: Sie interessieren sich gleich wenig für das männliche Innenleben, sprich: Für die Erfahrungen, die Jungen und Männer mit dem Mann-Sein machen.

Man kann das dem Feminismus schlecht vorwerfen. Es ist gewissermaßen nicht „sein Job“, sich auch noch darum zu kümmern, zumal Feminismus alle Hände voll damit zu tun hat, weibliche Erfahrungen mit Gesellschaft, wie sie bisher ist, zur Sprache zu bringen und ihnen Gehör zu verschaffen.

Es ist allerdings auch ein interne Grenze des möglichen Erfolgs von Feminismus. Um nachvollziehen zu können, warum das so ist, müssen wir uns für einen Moment in das Innenleben eines „typischen Durchschnittsmanns“ einklinken, also in eine gedankliche Konstruktion, die in der Realität nie vorkommt, und der gegenüber jeder reale Mann unter uns nur eine Abweichung sein kann.

Jungen und Männer erleben große Teile des Mann-Seins wie folgt: Wir werden von allen und allem: unseren Mitmännern, Vätern, Brüdern, Freunden, Kollegen, Chefs, genauso wie auch von Büchern, Filmen, Werbung, öffentlichen Äußerungen, politischen Insitutionen, und auch von unseren Frauen, Freundinnen, Chefinnen, Schwestern, Müttern, Kolleginnen Zeit unseres Daseins auf diesem Planeten dazu aufgefordert, folgendes erfolgreich darzustellen:

Wir sollen durchsetzungsstarke, wettbewerbsorientierte, auf irgendeinem Feld des gesellschaftlichen Lebens sichtbar erfolgreiche, nie zurücksteckende Krieger (um das Wort „Arschlöcher“ zu vermeiden) sein, die möglichst schmerzbefreit und bitte nicht zu sensibel durchs Leben gehen. Auf Frauen und Kindern sollen wir „gentlemanlike“ Rücksicht nehmen und finanziell für sie sorgen, aber sie ansonsten bitte auch nicht zu Ernst nehmen. Die Sorge um unser eigenes Wohlergehen als Menschen haben wir in die Sorge um unser männliches Ego zu transformieren, das sich im Erwerb von Statussymbolen ausdrückt. Oder, wie es Bernhard Ludwig mal ausgedrückt hat: Wir Männer sollen das Spiel spielen „wer mit den größten Spielzeugen stirbt, hat gewonnen“. – Ein Spiel, zu dem annodazumals nur Männer zugelassen waren und in dem seit nun schon geraumer Zeit auch Frauen mitmischen. Mit drastischen Folgen auch für diese Frauen übrigens…

Das Ausmaß und die Wucht, mit der die Nicht-Einhaltung dieses „ideal-männliches Lebens“ bei jedem einzelnen Mann sanktioniert wird – erneut: von allen Seiten – wird nach meiner Wahrnehmung von nahezu allen feministischen Äußerungen und Texten, die mir bekannt sind, grob unterschätzt. Wir Männer durchlaufen eine in meinen Augen nichts anderes als brutal und grausam zu nennende individuelle Sozialisation, der wir in der Realität natürlich niemals wirklich genügen. Was am Ende sanktioniert wird, ist auch nicht die Verkörperung dieses Ideals: Die wenigsten von uns kriegen auf die Ohren und auf den Körper, weil sie nicht Superman, Bruce Willis oder John Wayne sind. Sanktioniert wird das Aufgebens dieses Versuchs, dem bestehenden Krieger-Ideal hinterherzuhecheln. Ein Mann, der diesen Versuch erkennbar aufgibt, wird nicht mehr ernstgenommen, nicht als Mann, nicht als Mensch – und das von niemandem: Weder von Männern, noch von Frauen, nicht von der Politik, nicht von der Öffentlichkeit und auch nicht von unseren formellen Institutionen.

Vielen Frauen dürfte diese Erfahrung bekannt vorkommen. Und was Männern bleibt, die das aufgeben, ist: nichts. Nicht einmal die zu Recht stark im Schwinden begriffenen Privilegien von Frauen, die sich ihrerseits selbst-verletztend bemühen, dem traditionellen Ideal von Weiblichkeit hinterherzukommen… Männer, die den Versuch aufgeben, „einen Krieger“ (aka ein Arschloch) zu verkörpern, stehen buchstäblich vor dem Nichts. Es gibt bisher keine Rolle, die wir ihnen in der Gesellschaft anbieten. Zumindest keine, die nicht mit heftigen Demütigungen und tödlicher Verachtung verbunden wäre. Wer einen konkreten Eindruck von diesen Erfahrungen bekommen möchte, kann sich diese in Björn Süfkes Buch „Männer erfindet Euch neu“ zu Gemüte führen. Dort findet man sehr eindrückliche Beschreibungen davon, was einen Mann zuverlässig erwartet, der sich von den vergifteten Angeboten der Traditionellen Männlichkeit zu emanzipieren versucht.

Stellen wir uns nun einen Menschen vor, der, weil er zufällig äußerliche Merkmale eines Mannes an sich hat, 18, 25, 30, 50, 70 Jahre lang diese Bespielung durch seine Umwelt ausgesetzt war. Stellen wir ihn uns vor, wie er bisher sein ganzes bewusstes Leben darum gerungen hat, „ein guter Krieger“ zu sein. Am besten noch „im Kampf für irgendeine gerechte oder zumindest irgendwie halbwegs ehrenwerte Sache“. Er hat das getan, weil ihm alle, durch die Bank alle immer signalisiert haben, in Taten und Worten: „Wenn Du das nicht tust, bist Du ein nichts. Dann bist Du es nicht wirklich wert zu leben.“ – Er baut also „Expertise“ in irgendeinem Gebiet auf, in dem er Chancen hat, sichtbar erfolgreich zu sein, er bezahlt brav seine Rechnungen, füttert in seiner Wahrnehmung brav seine Familie durch und ist brav im Business erfolgreich, ohne dabei in offensichtlicher Form irgendwelche Unschuldigen zu Tode zu bringen. Er weiß natürlich, dass er eigentlich nur ein verletzlicher Mensch ist. Deswegen hat er im Grunde die ganze Zeit Angst, als solcher aufzufliegen. Ein „Schwächling“ zu sein. Ein „Nichtsnutz“, ein „Versager“, ein nicht-ehrenwerter Mann.

In dieser Gemengelage trifft unser ausgedachter Durchschnittsmann nun auf feministische Forderungen, die im Kern sagen: „Du sollst Frauen stärker respektieren, Du sollst sie ernster nehmen als Du das bisher getan hast, Du sollst Dich dafür interessieren, wie es ihnen geht, in dieser Welt, die DU PERSÖNLICH MIT DEINEN PRIVILEGIEN geschaffen hat. Du bist ein unmoralisches Schwein, wenn Du das weiter ignorierst!“

Wer jetzt noch in das Innenerleben jenes Mannes eingeklinkt ist, kann vielleicht nachvollziehen, welche Handlungsoptionen ihm da nun angeboten werden: 1) Er kann sich kasteien und innerlich wie öffentlich Besserung geloben. 2) Er kann das mit vorgeschobener, männlich-angepasster Arroganz belächeln und es als „Unfug von Emanzen abtun, die nur mal wieder ordentlich gepimpert werden müssten, wenn sie dafür nicht einfach viel zu hässlich wären“. 3) Und er kann sich wie bisher „auf sein Ding“ konzentrieren und noch die berechtigtste feministische Forderung in seinem persönlichen Alltag einfach ignorieren.

Nur eins, die angestrebte Wirkung nämlich: etwas bei ihm auszulösen, ist ausgeschlossen. Wirklich erreichen und berühren tut ihn das alles nicht mehr. Und das hat einen psychologisch leicht nachvollziehbaren Grund: Da ist nichts in ihm nichts mehr, das von den genannten feministischen Forderungen noch berührt werden könnte. Die gesellschaftliche Programmierung, die er bis zu jenem Punkt Tag für Tag für Tag durchlaufen hat, zielte genau darauf ab, ihm diese Berührbarkeit, Verletzlichkeit und Empathie zu nehmen, die er nun auf einmal mobilisieren soll.

Heraus kommen kann in dieser Situation nur: Schauspielerei und Heuchelei. – Auf die bereits erfolgte gesellschaftliche Zurichtung und Überanpassung wird nun noch eine weitere Zurichtung und Überanpassung drauf gepackt. „Der dressierte Mann“. Der ist nun aber noch weniger Mensch als der Mann war, der nur allein den entmenschenden Dressuren der Traditionalen Männlichkeit ausgesetzt war. So mancher männliche Hochleistungs-Feminismus erklärt sich so: Auch aus Feminismus wird ein männliches Spiel gemacht, in dem es darum geht „höher, weiter, besser“ zu sein (wer diesen Text und die in ihm verwendeten Worte aufmerksam zur Kenntnis genommen hat, wird bemerken, dass er auch selbst von diesem Phänomen betroffen ist).

Dass wir Jungen und Männern ihre natürliche Fähigkeit zu Mitgefühl und Empathie systematisch aberziehen, ist uns in den allermeisten Alltagssituationen allerhöchstens halbbewusst. Diese unsere tägliche Erziehung zur Männlichkeit macht genau dann Sinn, wenn wir die Traditionale Geschlechterordnung so auffassen, dass sie bezweckt, eine Kriegerkaste bereitzustellen („die Männer“), die die Dinge tun können soll, „die im Krieg halt so gemacht werden müssen“ ( = andere Menschen töten und selbst bereit sein, dabei draufzugehen). Und andererseits eine Pflegekaste bereitzustellen, die sich um Kinder, Kranke, Alte und den Haushalt kümmert („die Frauen)“, die dazu bitteschön kreuzempathisch sein sollen und zu allerletzt an sich selber denken dürfen. Am besten nie.

Männer haben in der Regel schlicht kein Mitgefühl, weil das letzte Mal, dass sie es zulassen konnten, dass ihnen selbst jemand Mitgefühl entgegenbrachte, damals war, als sie noch eindeutig „ein kleiner Junge“ waren. Bei sich selbst Zugang zu menschlich-allzumenschlichen Regungen freizulegen, läuft für unseren Durchschnittsmann nicht nur darauf hinaus, „kein echter Mann mehr zu sein“, sondern auch darauf, sich selbst nicht mehr als erwachsener Mensch wahrnehmen zu können. Hinter der Maske der Männlichkeit lauert eine massive Verletzlichkeits- und Ohnmachtserfahrung, die sogleich mit dem absoluten Imperativ konfrontiert ist: „Ein Mann darf so ziemlich alles irgendwie sein – Aber auf keinen Fall jemals ohnmächtig und verletzlich. Period.“

Aus diesem Grund laufen nahezu alle feministischen Appelle, die ich kenne, bei uns Männern weitgehend ins Leere. Sie docken schlicht nicht bei den Erfahrungen an, die wir kennen und die wir täglich mit uns machen. Stattdessen wollen sie uns für die Erfahrungen interessieren, die Mädchen und Frauen tagtäglich mit den komplementären Weiblichkeits-Zurichtung in unserer Gesellschaft machen müssen. Um uns für diese Erfahrungen interessieren zu können, müssten wir uns jedoch für vergleichbare Erfahrungen bei uns selbst interessieren können.

Genau diese Möglichkeit, uns wirklich für uns und durch unsere eigenen Erfahrungen hindurch für andere Menschen zu interessieren, genau diese Möglichkeit wurde uns systematisch verstellt und höchst praktisch weggenommen.

Ohne die Kriegerkultur zu transformieren, die wir über Jahrtausende etabliert haben, wird Feminismus sich schlicht und einfach irgendwann totlaufen, weil er dann nicht weiterkommt und stagniert. Es wird uns irgendwann einfach ermüden, wenn wir die immer gleichen Forderungen hören, ohne dass dadurch erkennbare gesellschaftliche Fortschritte erzielt werden. Feminismus wird die Kraft des Neuen fehlen, also derjenigen Kraft, die bei uns Aufmerksamkeit generieren kann. Eine Kraft, die er derzeit noch in Teilen hat. Unsere Gesellschaft wird sich ohne substantielle Fortschritte irgendwann einfach an Feminismus gewöhnen und sich genau dadurch gegen seine transformative Kraft immunisieren. – Ich persönlich glaube, dass der Blick über den Zaun auf die andere innere Seite unserer Kriegerkultur der nächste Schritt sein kann, den Feminismus gehen kann und gehen muss, um weitere Fortschritte zu erzielen.

Um die überfällige Entwicklung der Überwindung unserer Kriegerkultur anzustoßen, müsste es also auch ein echtes Interesse an den Menschen geben, die hinter und in den „privilegierten Kriegern“ stecken, einbetoniert in den vielgerühmten männlichen Körperpanzer, begraben unter jahrzehntelangen Praktiken der Gefühlsunterdrückung und wirksam gefesselt von der Annahme, dass Männer im Grunde gar keine so richtigen menschlichen Wesen sind, dass sie keine Seele haben und dass ihr Innenleben daher nicht die geringste Aufmerksamkeit verdient hat. Außer natürlich: Mann ist eine Memme. Aber wer von uns will sich schon mit Memmen beschäftigen? Meiner inneren Memme ist zumindest bisher kein solcher Mensch begegnet.

Ein Feminismus, der jenseits davon, dass er Frauensolidarität aufbaut, dass er Frauen ermächtigt und ermutigt, zusätzlich auch Männer erreichen will, wird sich für männliche Ohnmachtserfahrungen und Verletzungen interessieren müssen. Er wird immer deutlicher machen, dass männliche Privilegien auf Gewalt beruht, die Menschen angetan werden, sobald sie als Frauen und Männer erkennbar werden.

In einem Feminismus, der über das bereits Erreichte hinaus weitere Fortschritte machen will, wird es nicht darum gehen, dass Männer verlieren, was Frauen gewinnen. Er wird keine „Fortsetzung des Geschlechterkriegs mit anderen Mitteln sein“. Sondern er wird sich darum drehen, dass wir alle als Menschen gewinnen, wenn wir unsere alltägliche Gewalt gegen Frauen genauso beenden wie unsere alltägliche Gewalt gegen Männer.

Denn die Traditionale Geschlechterordnung ist schlicht und einfach für alle scheiße. Und das heißt nichts anderes als dass nicht nur Frauen, sondern auch wir Männer in gleichem Ausmaß davon profitieren, wenn wir diese grausame Ordnung gemeinsam beseitigen und durch deutlich menschlichere Umgangsformen ersetzen.

Ich denke, dass Feminismus im Kern ein Humanismus ist, der das Leiden aller Menschen an einer Geschlechterordnung abschaffen will, ein Leiden, das heute nur noch absurd, nutzlos und sinnlos ist. Letztlich geht es um die Steigerung von Empathie in unserer Gesellschaft und um institutionelle Konsequenzen aus diesem systematischen Streben nach einem deutlich empathischeren Miteinander.

Es ist ein oberflächlicher Irrtum, dass es als „Männer“ markierten Menschen in dieser Ordnung fantastisch ginge, während allein als „Frauen“ markierte Menschen unter dieser Ordnung leiden. Man muss schon beide Augen ganz fest zudrücken, wenn man das offensichtliche Leiden von Menschen unter unserem aus der Zeit gefallenen Männlichkeitskonzept übersehen will. Ein Augen-zudrücken, an dem an erster Stelle wir Männer aktiv beteiligt sind: Männer haben nicht zu leiden. Und wenn dann männlich still. Männlich ist allein Klaglosigkeit und vollendete Selbstbeherrschung. Täglich kultivierte Autoaggression als Basis für Außenaggression. Künstlich herbeigesellschaftete Kampfbereitschaft.

Männer, die die traditionalen Erwartungen an sie verinnerlicht haben, haben mit äußerlich starken, abenteuerlustigen Frauen, mit amazonenhaften „Wonder women“ weitaus weniger Probleme als wir glauben könnten. Denn sie erkennen sofort: Diese Kriegerinnen sind „welche von uns“. Sie befolgen das gleiche, ihnen sehr gut vertraute Kriegerideal. Probleme haben wir Männer eher, wenn uns die Kraft ausgeht, uns selbst in Hierarchien nach oben zu boxen, wenn wir Probleme haben „zu performen“. Oder wenn wir plötzlich Menschen ernst nehmen sollen, die keinerlei „Ich-bin-auch-ein-Kämpfer-wie-Du“-Signale ausstrahlen. – Solange der schöne Schein der Männlichkeit gewahrt ist, ist unsere Welt in Ordnung. Denn das Gesetz dieser von Maskulisten weiterhin begeistert propagierten Männlichen Krieger-Ordnung ist: „Respektiert zu werden ist weitaus wichtiger als geliebt zu werden. Liebe ist weich und schwach. Einzig Härte und Unerbittlichkeit zählen.“

Wenn Feminismus also kriegerisch daherkommt, werden wir traditional erzogenen Männer immer folgendes Gefühl haben: „Wenn Ihr unbedingt mit uns in den Ring steigen wollt: Her mit dem Kampf! – Dafür sind wir gemacht worden! – Aber heult halt nicht rum, wenn wir Euch schlagen – Wir sind schließlich auch genau dadurch gute Krieger, dass wir nicht rumheulen! – Also entscheidet Euch mal, ob ihr einen guten, harten, erbarmungslosen Kampf wollt oder ob wir Euch weiterhin gönnerhaft als die Untermenschen behandeln sollen, zu denen für uns jeder Mensch zählt, der dem Kriegerideal nicht entspricht!“

Möglicherweise ist es tatsächlich die Zukunft eines institutionell erfolgreichen Feminismus, sich selbst als „Equalism“ zu verstehen.

Warum ich gegen #Volksentscheide bin, obwohl ich mir deutlich mehr politische #Mitbestimmung wünsche

Heute flatterte mir ein Brief vom Wahlamt der Stadt München ins Haus. Mein erster Gedanke war: „Was? Schon wieder Wahlen?“ – Es handelte sich um die Benachrichtigung zum Bürgerentscheid „Raus aus der Steinkohle“, den wir hier am 5. November abhalten. Ob wir das wollen oder nicht.

Ich werde also informiert: Im Kern geht es bei dem Bürgerbegehren um die Frage, ob der „Block2 (Steinkohlekraftwerk) des Heizkraftwerks Nord bis spätestens 31.12.2022 stillgelegt wird?“ – Lange Begründung der Initiatoren des Bürgerbegehrens: 13 Punkte auf anderhalb Seiten, warum „der Ausstieg 2022 also möglich und notwendig ist“. – Lange Begründung des Stadtrats: 5 fette Bullet Points auf anderthalb Seiten, warum das Bürgerbegehren abzulehnen ist.

Irgendwo dazwischen bin nun ich: Nach einem langen Arbeitstag mit vielen intensiven Kundengesprächen, mit meiner Familie zusammen, die auch so ihre Themen des Tages hat. – Aktuelle Meinungslage zum Bürgerbegehren nach kurzem Überfliegen der pro und contra Argumente: „Manche sagen so, manche sagen so.“

Nun könnte ich einer jener viel beschrienen Menschen sein, denen das ganze am A… vorbeigeht und der den Zettel mit einem munter-verdrießlichen „Ihr könnt’s mi alle mal gern ham mit eurem Schmarrn“ einfach sang und klanglos in den Papiermüll wandern lässt (wird dann bestimmt CO2-neutral auf der Müllkippe verheizt, höhö). Dann wär ich jetzt fein raus. Stattdessen: Komm ich aus einer kreuzpolitischen Familie, war ich mal in ner ökologisch bewegten Partei, hab mich brav an der Uni für diverse Ämter aufstellen lassen, verfolge ich auch heute noch brav die weltwirtschaftsozialökologischen Ereignisse und hab leider auch ach ein paar allzuviele Semester die gesamte politische Theorie des Abendlandes studiert, von Platon und Aristoteles über Hobbes, Rousseau und Hegel bis Kersting, Taylor, Habermas, Rorty, Luhmann, Honneth und Rawls, rauf und runter. Ja, ich gebe zu: Ich war jung und meine Eltern und zig Studi-Jobs gaben mir das Geld. Auch nach Abzug aller meiner Ego-Themen kann man einigermaßen nüchtern feststellen: Es wird wahrscheinlich ein paar politisch desinteressiertere Mit-Volksentscheider als mich geben, da draußen in meinem München.

Z.B. meine Frau. Ich hab sie einfach mal gefragt, was sie beim Bürgerbegehren machen wird. Und sie so: „Du, ich werd‘ nicht abstimmen. Ich habe beide Positionen durchgelesen und ich weiß gar nicht was, wie, wo. Ich weiß gar nichts. Ich traue mir das nicht zu.“ Verantwortungsvolle Verantwortungs-Abstinenz könnte man das nennen. Eine politische Variante des sokratischen „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Nunja. Meine Frau ist in vielen Dingen deutlich schlauer als ich, das weiß ich auch nicht erst seit eben heute Abend.

Trotz oder gerade wegen meines relativ großen politischen Interesses – man weiß es nicht – hab ich nun also ein Problem: Auch ich habe einfach keine Ahnung, was ich von den Argumenten halten soll, die mir vom Wahlamt an meinem heutigen wohlverdienten Feierabend auf die Augen gehauen werden.

Natürlich könnte ich nun anfangen zu googeln. Mir Artikel zum Thema reinziehen. Stellungnahmen von Wissenschaftlern. Argumente und Gegenargumente aufeinander beziehen. Mich ins Thema reinarbeiten. Die Mittel dazu habe ich ja. Und vielleicht ist das nun auch meine Pflicht als verantwortungsvoller Bürger unseres Gemeinwesens. Kann ja froh sein, dass wir überhaupt Bürgerbegehren haben, dass man mich also überhaupt fragt, statt mir einfach irgendeine hochherrschaftliche Entscheidung vor die Nase zu knallen und mir hinterher zu erklären, warum genau das genau so gut für mich ist, für alle, für die, die das genau so und nicht anders entschieden haben. – Bin ich aber nicht. Werde ich aber nicht. Ich bin müde. Ich habe keine Ahnung, wie viel ich recherchieren muss, bis ich wirklich das Gefühl habe, „ein Anrecht auf eine eigene Meinung zu haben“, weil ich mich dann wohlinformiert fühle.

Stattdessen hab ich nun die Wahl, die alle haben, denen heute dieser Wisch ins Haus geflattert ist: Ich kann völlig ahnungslos meiner Intuition folgen, meinen politischen Befindlichkeitsreflexen, fordere gleich noch online die Briefwahlunterlagen an und bring’s hinter mich. Hinterher – wenn mich dann aus Versehen Informationen ereilen, die mir eine informierte Meinung ermöglichen – werde ich „meine Entscheidung“ dann möglicherweise bereuen und mich ganz schrecklich schämen, dass ich mich nicht vorher informiert habe. Dass ich zu faul war, um ein mündiger Bürger gewesen zu sein.

Oder ich lass es eben und überlasse die Entscheidung anderen uninformierten Bürgern, die sich die Arbeit auch nicht machen werden. Also eine Entscheidung, die möglicherweise mit dazu beiträgt, ob und wann unser Planet für uns alle unbewohnbar wird, ob wir in eine Energiekrise schlittern, ob Wohnraum in München noch halbwegs bezahlbar bleibt und und und… …ohne wohlinformiert zu sein ist’s ja noch nicht mal ansatzweise möglich, die Tragweite der eigenen Nicht-Mitentscheidung zu überreißen.

Mist.

Und dann ist da ja noch das Thema, dass ich „Gegen Wahlen“ bin. Dass ich David van Reybroucks Argumente voll und ganz gekauft habe, dass wir wirklich dringend viel mehr Partizipation und Bürgerbeteiligung brauchen, wenn wir unsere Demokratie erhalten wollen. Dass einmal alle 4 Jahre bei irgendwelchen wildfremden Menschen ein Kreuzchen machen ungefähr so viel mit Demokratie zu tun hat wie rituelle Regentänze mit irgendwelchen spontanen Wetterveränderungen. Dass Wahlen reiner Voodoo sind. Ein politischer Cargo-Kult, der Demokratie spielt anstatt echte Teilhabe und Mitbestimmung zu ermöglichen. – Wie kann ich nun also gegen Bürgerentscheide sein, wenn die doch genau diese Lücke zu füllen scheinen?

Aber das ist eben die Frage: Füllen Bürgerentscheide wirklich diese Lücke? Mit Volkentscheiden zwingen wir uns selbst und unsere Mitbürger, über Themen verbindlich zu entscheiden, mit denen wir uns intensiv auseinandersetzen müssten, um sie guten Gewissens entscheiden zu können. – Aber wir geben uns selbst zugleich nicht die Mittel an die Hand, diese Entscheidung wohlinformiert, mit hinreichend Zeit und in aller Ruhe, nach intensiver Anhörung aller Seiten und unter Berücksichtigung aller für uns relevanter Aspekte treffen zu können. Stattdessen setzen wir auf ein lebensweltlich völlig irreales „wenn es Dir wichtig genug ist, kannst Du Dich ja damit auseinandersetzen – und wenn Du Dich nicht damit auseinandersetzt, war es dann ja wohl nicht wichtig genug“. Ja, diese Logik ist stichhaltig. Unter der Bedingung, dass wir stinkig-normalen Normalbürger sonst nichts anderes zu tun haben als uns heute mit vielschichtigen energiepolitischen Fragen zu befassen und morgen z.B. mit dem bayerischen Standpunkt zur gesamteuropäischen Flüchtlingspolitik und übermorgen mit der Frage, ob wir die flächendeckende Einführung selbstfahrender Fahzeuge erlauben wollen.  Wenn wir also z.B. allesamt reiche athenische Halb-Adlige wären, von Einkommens- und Haushaltungspflichten völlig freigestellt, mit jeder Menge Zeit und Muße und engen persönlichen Bindungen untereinnader, weil man sich auf der Agora, dem städtischen Marktplatz ohnehin täglich trifft und über die ganzen Themen, „die uns alle angehen“ schon wochenlang intensiv ausgetauscht hat. – Sind wir aber leider alle nicht. Blöd.

Volksentscheide und Bürgerbegehren sind Entscheidungszwang ohne vorherige Willensbildung. Und deswegen werde ich als politisch Interessierter und ökologisch besorgter Bürger den Wahlschein jetzt in die Tonne kloppen und mich tierisch ärgern, dass wir keine Losentscheide und Bürgerräte in unserer demokratischen Verfassung verankert haben, so wie es das österreichische Bundesland Vorarlberg bereits seit 2013 getan hat. Dort haben nämlich Menschen wie Du und ich genau die Zeit, Muße und Informationsmöglichkeiten zu wohlinformierten politischen Entscheidungen, die man bei Volksentscheiden niemals hat und niemals haben kann. Seit 2006, vor der Verfassungsänderung wurde das Losverfahren intensiv angetestet. Seitdem spricht man dort von einem „Erfolgsmodell der Bürgerbeteiligung“. – Warum man in Österreich etwas kann, was wir in Bayern nicht können, muss mir jetzt auch erst mal einer schlüssig erklären.

Und nur damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Nein, die Materie ist natürlich nicht „zu komplex“, um von jedem Menschen über 10 Jahren ohne schwerste cerebrale Schädigungen verstanden und mitentschieden werden zu können. Das gilt auch für Menschen ohne Schulabschluss, für Menschen mit psychologischen Erkrankungen und für Menschen, die von sich selber sagen, dass sie das ja niemals verstehen können und dass das mal bitte andere für sie entscheidenden sollen. Und es gilt auch, keine Frage, für alte heterosexuelle weiße Männer, die ein weitläufiges Grundstück am Starnberger See besitzen und dazu eine schöne Altbauwohnung in Schwabing. Aber ausnahmslos jede politische Materie ist zu komplex, um entweder von armen überforderten Berufspolitikern unter Lobbyeinfluss oder von armen gestressten Bürgern wie Dir und mir nach Feierabend entschieden zu werden.

Mit herzlichem Gruß an alle zutiefst Mitunentschiedenen,

Ein über Volksentscheide besorgter, wenn nicht wütender Bürger

 

Demokratie durch Wahlen und durch Los – Zur sinnvollen Verbindung beider Verfahren

Unter den Befürwortern und Interessenten einer Belebung unserer Demokratie gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen dazu, inwieweit die Institutionalisierung von Losverfahren sinnvoll ist. Und insbesondere dazu, inwieweit sie heutzutage Wahlen als Mittel zur Besetzung politischer Ämter ersetzen können oder sollen.

Im Folgenden möchte ich kurz skizzieren, welche Verbindung zwischen Aleatorischer Demokratie und Elektoraler Demokratie mir derzeit – ausgehend vom status quo – sinnvoll und möglich erscheint.


Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat bereits 2014 den Vorschlag gemacht, einen Teil der Parlamentarier, die unsere die Exekutive kontrollierende Legislative bilden, per Losentscheid zu besetzen. – Das war noch vor dem Aufkommen des neuen Populismus in den europäisch geprägten Demokratien und vor dem Offenbar-Werden des Ausmaßes unserer derzeitigen Repräsentationskrise.

Angesichts der Ausmaße des Repräsentationsproblems, das Wahlen systematisch und völlig unvermeidlich erzeugen (genauso wie Volksentscheide) scheint mir dieser Vorschlag nicht weit genug zu gehen. – Dass die, v.a. „Väter“ unseres Grundgesetzes hier andere Vorstellungen hatten, kann man zur Kenntnis nehmen. Daraus allerdings abzuleiten, dass unsere Verfassung im Punkt bestmögliche demokratische Willensbildung niemals weiterentwickelt werden könne, scheint mir dann noch etwas gewagt. Eine solche Ontologisierung von Institutionen ist aus meiner Sicht immer hochproblematisch: Institutionen sollen menschliche Zwecke erfüllen. Und sie sollten verändert werden, wenn bessere Institutionen zur Verfügung stehen, die das Gleiche auf bessere Art zu leisten vermögen. Dass es für Verfassungsänderungen hohe Hürden gibt, ist sicher sinnvoll. Aber Verfassungsänderungen – auch in zentralen Punkten unserer Verfassung – für alle Zeit für undenkbar zu erklären, ist ebenso sicher politisch grob fahrlässig und mit unseren historischen Erfahrungen mit der Wandelbarkeit und Weiterentwicklung von Gesellschaften nicht in Übereinklang zu bringen.

Gegenüber einer Schmalspurvariante des Losverfahrens, in der ein kleiner, nicht-repräsentativer Teil des Parlaments per Losentscheid besetzt wird und die per Wahlen, Parteien und politischer Konkurrenz abgeordneten Menschen ergänzt, scheint eine andere Idee weitaus zielführender, wenn man die klaffende Repräsentationslücke schließen und das himmelschreiende Demokratiedefizit beseitigen will, unter dem unser derzeitiges politisches System leidet:

Wir sollten das gesamte Parlament aus der Gesamtbevölkerung  per Losentscheid besetzen. Allein dieses Bürgerparlament beschließt nach Anhörung von Betroffenen aller Seiten und wissenschaftlichen Experten Gesetzesänderungen. Und allein dieses Bürgerparlament kontrolliert die Exekutive, die weiterhin per Wahlen, vermittelt über Parteien bestimmt wird.

Die Vorteile dieser „Verfahrensteilung“ sind offensichtlich: Die Bürger werden dadurch zum wirklichen „Volkssouverän“, sie haben Kontrolle über die Politik.

Zugleich kommen wir aber um ein Verbot von Parteien und Berufspolitikertum herum und damit um den Zwang, auch Ministerposten per Losverfahren besetzen zu müssen.

Um zudem demokratische Entscheidungen sabotierenden Lobbyeinfluss auf ein solches souveränes Bürgerparlament von vornherein auszuschließen, empfehlen sich folgende Institutionen rund um das per Losverfahren bestellte Parlament:

  • Die „Legislaturperiode“ dieses wirklich demokratischen Bürgerparlaments ist begrenzt auf 2 – 3 Monate.
  • Kein Mensch kann zweimal in seinem Leben für das gleiche Parlament ausgelost werden
  • Das Parlament, seine Anhörungen und Entscheidungswege werden zwar durch die Öffentlichkeit überwacht, indem all das genauestens aufgezeichnet und protokolliert wird – Aber seine Angehörigen werden für die Dauer ihrer Teilnahme streng von allen weiteren Außeneinflüssen abgeschottet. Bei Anhörungen gilt wie vor Gericht grundsätzlich das Prinzip „aude et altera pars“, um den Parlamentariern eine möglichst umfassendes Bild der Situation der von ihren Entscheidungen betroffenen Menschen zu geben.
  • Die „Vergütung“ der Parlamentarier ist eine echte Aufwandsentschädigung, die sich am Normaleinkommen der ausgelosten Bürger bemisst, ähnlich wie bei der Berechnung des heutigen Elterngelds oder Arbeitslosengeld I – allerdings in voller Höhe. Keiner der ausgelosten Bürger sollte von seiner Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess einen finanziellen Nachteil oder Vorteil haben. – Dieses Ideal wird in Wirklichkeit wahrscheinlich nie erreichbar sein (z.B. bei selbständigen Unternehmern), es sollte aber immer ernsthaft angestrebt werden.

Neben der Bundesebene sollte es Bürgerparlamente und Bürgerräte auf Landes- und Gemeindeebene geben. Auf diese Weise  – kurze Legislaturperioden und Losverfahren auf allen politischen Ebenen – erhöht sich die Wahrscheinlichkeit immens, dass wirklich jeder Mensch mindestens einmal in seinem Leben aktiver Politiker werden kann und muss, der zum Wohle der Allgemeinheit und auf der Basis seiner individuellen Lebenserfahrung politische Entscheidungen treffen muss. Also nicht nur als hypothetische Möglichkeit, sondern als spürbare Realität im Leben jedes Einzelnen von uns.

Minister, Berufspolitiker, Vertreter der Exekutive müssen sich hingegen beim Volk „bewerben“, so wie wir es bereits aus unserer gut verankerten Wahldemokratie gewöhnt sind. Parteien können dann endlich offen das werden, was sie unter der Hand bereits heute sind: Karrierewege für Menschen, die ihr Berufsleben dem Gemeinwohl widmen wollen.

Parteien müssen dann nicht mehr das sein, was sie – wie wir mittlerweile nur zu gut wissen – niemals sein können: Repräsentativer Spiegel der Bedürfnisse, Situationen und politischen Meinungen aller Bürger.

Das Prinzip „Konkurrenz über Wahlen kann in einer Demokratie der politischen Willensbildung dienen“ ist gescheitert.

Die Verankerung des Losentscheids als Prinzip der Besetzung gesetzgebender und die Exekutive kontrollierender Parlamente erkennt das an und operationalisiert diese Einsicht in sinnvoller und leicht umsetzbarer Weise.

Um dem ausgelosten Bürgerparlament wirksame Kontrolle über Minister und die Exekutive zu geben, ist es zwingend erforderlich, dass es Personen aus dem Staatsdienst entlassen und ausschließen kann. Das Vorschlagsrecht zur Neubesetzung bleibt bei den Parteien, die aufgrund der Kontrolle des Parlaments nun aber ein Interesse haben, aus den Gründen der Entlassung Schlüsse zu ziehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wenn sie nicht bald schon wieder neues Regierungspersonal hervorbringen müssen wollen.

Zudem lässt sich in einer durch ein Bürgerparlament bestimmten politischen Ordnung ein weiteres demokratisierendes Element einführen: Die Themen, mit denen sich das Parlament in seiner Legislaturperiode befassen soll, werden ebenfalls nicht mehr von den Parteien gesetzt, sondern durch Volksbefragungen, die sich mit den heute verfügbaren technischen Mitteln leicht in real time durchführen lassen. Liquid Democracy ist die Folge: Wir alle bestimmen gemeinsam die politische Agenda und „welche von uns“ beratschlagen im ausgelosten Parlement über diese unsere Agenda unter Einbezug von Betroffenen der Entscheidung und wissenschaftlichen Experten.

Auch diese Veränderung: Politische Agenda-Setzung durch permanente Erfragung, was die Themen sind, die uns wirklich beschäftigen, anstatt durch Parteien, werden die politischen Parteien befähigt, zu reinen Regierungsbesetzungs-Instrumenten zu werden. Sie werden davon entlastet, eine Meinungsbildung leisten zu müssen, die sie unter heutigen Bedingungen gar nicht mehr leisten können, da unsere Gesellschaft dazu viel zu vielfältig und viel zu veränderlich geworden ist. Parteiapparate sind zu träge, um mit dieser Vielschichtigkeit und Dynamik in Kontakt bleiben zu können. Politischer Auftrag der Parteien ist nun nicht mehr, Beiträge zur Repräsentation zu leisten, sondern ausschließlich, geeignetes Personal für die politischen Ämter an der Spitze von Regierungen hervorzubringen. Eine Funktion, die Parteien und Wahlen auch derzeit schon leisten, nur leider ohne eine wirksame direkte Kontrolle durch uns alle als politischer Souverän.

Agenda-Setzung heißt: Wir bestimmen alle gemeinsam zwar die politischen Themen, die uns am meisten unter den Nägeln brennen, aber wir müssen sie nicht verbindlich entscheiden, solange wir kein Teil des per Losverfahren besetzten Bürgerparlaments sind. Anders als bei Volksentscheiden, mit denen wir uns zwingen, uns uninformiert und aus dem Stress des Alltags heraus entscheiden zu müssen, bedeutet eine Arbeitsteilung zwischen 1) Befragungen in Liquid-Democracy-Manier, 2) ausgelosten Beratenden Parlamenten mit Zeit und Richtlinienkompetenz und 3) klassisch, über Parteien besetzten Staatsämtern, dass wir Kontrolle über Politik haben, ohne uns selbst dabei zu überfordern.

Das Herzstück einer solchen Demokratie, ist das ausgeloste, kurz-zyklische Bürgerparlament, das hinreichend Zeit hat, sich mit den Themen zu befassen, da Menschen wie Du und ich von ihren Alltagsaufgaben freigestellt sind und damit die notwendige Zeit erhalten, sich austauschen, anhören und gemeinsam entscheiden zu können. Dieses Parlament erhält seine Themen von uns allen über digitale und nicht-digitale Befragungen, was die aktuell drängendsten politischen Themen für uns sind. Und es übt Kontrolle über jene exekutiven Ämter aus, die sinnvollerweise langfristiger personell besetzt sein müssen als das Parlament selbst.