Ganz banal kommt es bei Demokratie darauf an, dass sich alle voneinander angemessen behandelt fühlen. In jenem „angemessen“ liegt natürlich der Hund begraben, denn das wirft Gerechtigkeitsfragen auf. Und die sind tricky:

Geometrische oder arithmetische Gerechtigkeit? Nach den Bedürfnissen oder nach den Fähigkeiten? Und selbst wenn das mal festgelegt ist, wer soll das einschätzen ist, ob der jeweilige Maßstab eingehalten ist? Usw.

Demokratie würdigt, dass Macht ganz natürlich, dass Macht von ganz allein dazu neigt, sich bei bestimmten Personen oder Personengruppen zu „akkumulieren“: Wer Macht hat, dem wird Macht gegeben.

Das ist niemandes Schuld. Es ist der Lauf der menschlichen Dinge.

Für die Frage nach der „angemessenen Behandlung“ bedeutet das jedoch: Schon nach kurzer Zeit, wenn wir unsere Dinge einfach so laufen lassen, werden alle Menschen voneinander unangemessen behandelt. Das gilt sowohl für die, bei denen sich „die Macht“ sozusagen „staut“. Als auch für die, die immer noch leerer ausgehen: Die nicht mehr die Beachtung bekommen, die sie verdienen, deren Fähigkeiten und deren Wille nun systematisch unterschätzt werden und auch deren Beiträge zum Gemeinsamen kaum noch wahrgenommen werden.

Aus diesem sich immer weiter steigernden Ungleichgewicht, das an allen Orten und zu allen Zeiten zwischen uns entsteht, wenn wir ihm nicht systematisch entgegenwirken, hat die Institution „Demokratie“ einen systematischen Schluss gezogen:

Sie schafft einen zweiten Ort, genannt „Politik“, in dem das Prinzip „Macht zieht Macht an“ außer Kraft gesetzt wird. – Und sie überträgt diesem Ort die gemeinschaftliche Handlungsmacht, also das Gewaltmonopol.

Die Demokratie ist damit in doppelter Weise „human“. Sie versucht nicht, „gegen die menschliche Natur zu arbeiten“, in dem sie etwa die ausbremsen würde, die aktiver, energischer oder vielleicht auch einfach nur lauter oder überzeugter von sich sind.

Ihnen bleibt weiterhin der vom Politischen abgesetzte Raum des Privaten, in dem sie sich nach Lust und Laune austoben und in ihre Vollen gehen können.

Aber darüber gibt es eben jenen zweiten Raum, den Raum des Politischen, in dem prinzipiell Gleiches Beteiligtsein institutionalisiert ist. In dem alle gleich präsent, gleich aktiv, gleich wichtig, etc. sind.

Und indem dort, in diesem Raum der Gleichheit, sowohl die Gesetze gemacht, ihre Einhaltung überwacht und die gemeinsamen Mittel verwaltet werden, gibt es einen gesellschaftlichen Ausgleich:

Der Raum des Politischen erkennt die Würde aller Menschen gleichermaßen an, indem er alle gleichermaßen als „Aktivposten“ behandelt. Das ist der zweite Teil der „Humanität“ der Demokratie. Sie erkennt an, dass alle Menschen das Gemeinsame gleichermaßen mitbestimmen müssen.

Das bedeutet aber auch: Der politische Raum darf nicht privatisiert werden, soll Politik noch funktionieren. Soll Demokratie noch das leisten, das zu leisten sie ursprünglich einmal erfunden wurde.

Spill-Over-Effekte privater Macht in den politischen Raum müssen systematisch unterbunden werden, und zwar nicht nur „ein bisschen“, sondern äußerst streng, 100%ig, damit die Demokratie arbeitsfähig ist und der Raum des Politischen noch irgendeinen Wert hat.

Demokratie sagt also einerseits: „Es ist nicht gut für uns alle, wenn wir die Machtdynamiken, die sich zwischen uns entfalten, einfach überall laufen lassen. Wenn wir das tun, leiden am Ende alle.“

Und Demokratie sagt andererseits: „Es ist nicht gut für uns alle, wenn wir die Machtdynamiken völlig zum Erliegen bringen und stillstellen. Es muss einen Raum für beides geben: Einen Raum für unsere Gleichheit. Und einen Raum für unsere Ungleichheit. Den ersteren haben wir in der Politik. Den zweiteren im Privaten.“

Das Mittel aber, um in der Politik Gleichheit herzustellen, besteht darin, dass man die gemeinsame gesellschaftliche Macht („die Staatsmacht“) in Gremien verlagert, die per Los besetzt sind. Denn nur der Zufall macht uns alle gleich. Alle anderen Formen der Besetzung politischer Ämter sind privaten Machtdynamiken ausgesetzt und zerstören so unweigerlich den politischen Raum. Oftmal sogar völlig ohne Absicht. Es passiert einfach. Weil nur das Losen Gleichheit herstellt und Cliquenbildung wirksam entgegenwirkt..

Es ist das Ergebnis eines großflächigen Einsatzes des Losverfahrens in der Politik, dass sich alle Mitglieder einer Gesellschaft angemessen behandelt fühlen. Und das sind interesssanterweise nicht nur die, die durch das Los und nur durch das Los „zu Amt und Würden“ kommen. Sondern ganz genauso die, denen das Losen vermeintlich „etwas wegnimmt“, weil sie ohne das Losen einen weitaus häufigeren, privilegierten Zugang zu diesen Ämtern hätten.

Interessanterweise finden auch diese Menschen in einem solchen, demokratischen Gemeinwesen deutlich mehr Befriedigung.

Insgesamt ist die Demokratie Ausdruck einer Gesellschaft, die sich selbst ins Gleichgewicht zu bringen und im Gleichgewicht zu halten versteht: Indem sie den größeren Ehrgeiz und das Mehr-Können der einen anerkennt, aber ohne den vorhandenen Ehrgeiz und das Auch-Können der anderen völlig zu verdrängen, wie es ohne Demokratie immer wieder und wieder und wieder geschieht.

Die Demokratie beteiligt alle Bürger GLEICH an der Politik, weil…

A) …Politik eben NICHT „alles“ ist. Es gibt daneben nach wie vor auch den Raum des Privaten, in dem Platz für tausenderlei menschliche Ungleichheiten ist.

B) …die politische Kompetenz vor allem beim „Machen“ entsteht. Das heißt: Jeder Mensch ist „politikfähig“. Und es ist keine gute Idee, irgendwen „aus der Politik herauszuhalten“ oder künstliche Eintrittsschwellen in die Politik zu bauen. Denn diese wirken sich stets ungleich aus auf uns privat ungleiche Menschen.

Das Losverfahren und die Übertragung der Staatsmacht an geloste Bürgergremien erleichtert gewählten Politikern die Arbeit. Diese werden gleichsam „von sich selbst befreit“: Von ihrem privaten Fokus, dem sie unweigerlich erliegen müssen, wenn das Gemeinwohl nur eine gedachte Größe bleibt. In das leer bleibende Allgemeine projiziert jeder von uns von seinen privaten, besonderen Voraussetzungen her, etwas anderes hinein. Das heißt auch: Ganz unvermeidlich hält jeder von uns etwas ANDERES für das Gemeinwohl, wenn nicht alle gleichermaßen, durch das Losverfahren, an der Politik beteiligt sind.

Gemeinwohlorientierte Politik wird möglich, wenn wirklich das „Gemeine“ im Raum ist, wenn jeder von uns gleich stark vertreten kann, mit was ihm überhaupt „Wohl“ ist. Erst wenn sich alle unmittelbar miteinander abstimmen können, wissen wir überhaupt, worin das „Gemeinwohl“ wirklich besteht, und was wir in der Politik tun und was wir in ihr lassen wollen.

Mit der Demokratie hat erstmals eine menschliche Gesellschaft verstanden, dass gesellschaftliche Gleichgewichte und Angemessenheiten niemals entstehen können, wenn Menschen künstlich aus der Politik herausgehalten werden. Sondern dass Politik einfacher, vernünftiger und auch handlungsstärker wird, wenn alle in sie integriert und gleichermaßen an ihr beteiligt sind.

Diese Einsicht ist, von vor-demokratischen Gegebenheiten her kommend, eher kontra-intuitiv.

Vor der Gegebenheit demokratischer Institutionen: Vor dem Erleben von Losverfahren, Isonomie und Isegorie glauben wir meist, dass Politik dadurch einfacher würde, dass möglichst viele Menschen aus ihr herausgehalten werden. „Das verkompliziert die Dinge nur, wenn wir XYZ auch noch einbeziehen und mitreden lassen…“

Wie wir uns täuschen können.