Es macht einen großen Unterschied, ob eine Gesellschaft überzeugt ist, dass alle Menschen an politischen Entscheidungen beteiligt sein sollten, oder ob sie glaubt, dass einige wenige stellvertretend für alle anderen „Politik machen können“.

Denn die Konsequenzen dieses Unterschieds sind derart weitreichend und verästeln sich in so vielen Folgen und Folgefolgen, dass – bei gleicher Ausgangslage – völlig verschiedene Gesellschaften aus diesen beiden unterschiedlichen Überzeugungen hervorgehen.

Liberalismus ohne Demokratie?

Letztlich macht die zweitere Auffassung: dass Stellvertretungs-Politik sehr gut möglich oder sogar die bessere Wahl sei, politisches Engagement zur Privatsache. Wer kann und wer Lust darauf hat, macht das eben. Und wer das von seinen privaten Rahmenbedingungen her nicht kann, keine Lust darauf hat oder sich das nicht zutraut, macht das eben nicht. – In der Konsequenz machen dann immer die gleichen Menschen Politik, während andere Menschen faktisch in der aktiven Politik so gut wie überhaupt nicht vorkommmen. Zumindest nicht einmal ansatzweise in Relation zu ihrem Vorkommen in der Bürgerschaft. „Repräsentanz“ ist dann mehr eine Behauptung als eine Tatsache.

Die erstere Auffassung, dass Politik nicht delegierbar sei und daher alle Bürger selbst immer wieder aktive Politiker sein müssen, ist für eine liberale Gesellschaft in ihren ersten Schritten eine echte Zumutung: Die bürgerschaftliche Pflicht zum politischen Engagement erscheint in einer liberalen Gesellschaft nämlich wie ein Eingriff in die fundamentalen privaten Freiheitsrechte. Drastischer noch als die staatlichen Steuern wird die Verpflichtung zum politischen Engagment empfunden, die jedem einzelnen Bürger nicht sein Geld, sondern seine Zeit abverlangt.

Die wünschenswerten Konsequenzen einer solchen, originär demokratischen Auffassung sind einer liberalen Gesellschaft vielleicht weitaus weniger klar und deutlich vor Augen. Also die z.B. weitaus größere Verbundenheit der Bürger untereinander. Die Fähigkeit zum Auffangen von bürgerschaftlichen Konflikten, oft noch in ihrem Anfangsstadium, bevor sie „groß“ und „dramatisch“ werden. Auch die Fähigkeit, die die Gesellschaft dadurch gewinnt, sich selbst zielsicher aktiv gestalten zu können und neuen Entwicklungen und Veränderungen elegant anzupassen, ohne die emotionalen und materiellen Kosten solcher Anpassungen einseitig auf ganz bestimmte Teile der Bürgerschaft abzuwälzen.

Ist eine Gesellschaft nicht nur liberal, sondern zugleich auch zutiefst demokratisch gesonnen, dann drängt sie auf Institutionen, die aktive politische Beteiligung aller nicht nur erzwingen, sondern vor allem ermöglichen. D.h. sie baut die Beteiligungsformen sowohl so, dass die Einflussmöglichkeiten aller Bürger auf die Politik exakt gleich groß sind, als auch so, dass sich die individuellen Kosten des politischen Engagements für den einzelnen Bürger in vertretbaren Grenzen halten und nicht zu einer unerträglichen Zumutung werden.

Vor allem aber achtet eine entschieden demokratische Gesellschaft darauf, dass sich Politik in Formen ereignet, die der Verfestigung von politischen Parteien in der Bürgerschaft aktiv entgegenwirken. Denn Parteien sind für eine demokratische Form von Politik völlig kontraproduktiv. Politische Parteien wirken allen Absichten und positiven Effekten von Demokratie so offensichtlich entgegen, dass wir uns tatsächlich fragen müssen, wie wir jemals auf die Idee kommen konnten, Demokratie mittels Parteien organisieren zu wollen?

Demokratie aktiviert also tatsächlich alle Bürger für die Politik. Und sie bringt sie so zusammen, dass in ihren politischen Zusammenkünften die Individualität der verschiedenen Bürger nicht untergeht oder verschliffen wird (etwas durch „Parteidisziplin“), sondern dass sich die Verschiedenheit der Bürger deutlich zeigen kann und eine für alle gut hörbare Stimme hat, die von der demokratischen Gemeinschaft empathisch aufgenommen wird und zuverlässig in die gemeinsamen Entscheidungen einfließt.

Liberalismus und Demokratie: Romeo und Julia

Wenn wir in einer Demokratie leben, so leben wir in einer Gesellschaft, in der wir gemeinsam der Auffassung sind, dass die Kosten politischer Aktivität für den Einzelnen den Nutzen dieser allgemeinen politischen Aktivität für den Einzelnen bei weitem überwiegen. Und dass wir die wenigen, die das für sich anders einschätzen, mit ihrer privaten Entscheidung, sich nicht an der Arbeit der Demokratie zu beteiligen, nicht einfach so kostenlos davonkommen lassen können.

Die Staatsbürgerpflicht zur politischen Beteiligung hat in einer Demokratie also spürbares Gewicht.

Eine liberale Gesellschaft, die begriffen hat, dass sie ihre Liberalität auf Dauer nur dann erhalten kann, wenn sie eine einzige, nämlich die politische Ausnahme von ihrer ansonsten grenzenlosen privaten Liberalität macht, ist eine Gesellschaft, die sich mittels Demokratie selbst dauerhaft stabiliert.

Liberalismus und Demokratie sind keine Gegensätze. Sie bedingen einander vielmehr wechselseitig. Ohne Liberalismus ist Demokratie als gesellschaftliches Instrument und Set von Praktiken schlichtweg unnötig. Ohne Demokratie bleibt Liberalismus instabil und zerstört sich mit der Zeit selbst.

Liberale Gesellschaften, die diese historische Lektion nicht rechtzeitig lernen, sind denkbar vergängliche, instabile Gebilde. – Denn anders als heute viele glauben ist das, worin wir derzeit gemeinsam feststecken, als Menschheit nicht unser erster Versuch, eine liberale Gesellschaft zu stabilisieren und dauerhaft lebensfähig zu machen. Die Demokratie wurde in der Antike als direkte Antwort auf die ebenso dauerhaften wie drängenden Problemen erfunden, die sich aus einer liberalen Gesellschaft ganz zwangsläufig ergeben.

Ist uns unsere liberale Gesellschaft den demokratischen Preis wert, den sie von uns allen verlangt?

In der Moderne, unter Voraussetzung eines bürokratischen Staatsapparats, liegt das Kunststück der Demokratie vielleicht nur in der Frage, wie wir unsere politischen Institutionen und Verfahren gestalten, damit die politische Last für den Einzelnen nicht zu groß und erdrückend wird. Da aber Demokratie von ihrem Prinzip her gerade darin besteht, die Last der politischen Arbeit gleichmäßig über die gesamte Bürgerschaft zu verteilen, können wir in diesem Punkt überaus zuversichtlich sein, das er für uns heute sehr gut lösbar ist. Gerade weil in der Demokratie alle Bürger Politik machen, hält sich die Belastung für jeden Einzelnen von uns in vertretbaren Grenzen.

Hinzu kommt, dass die gezielte Einführung von Laienpolitik ja keineswegs heißt, dass wir zugleich auf professionelle Politik verzichten müssten. Es heißt nur, dass es überhaupt auch eine andere Politik gibt als nur professionelle Politik. – Und dass systematisch die Politik aller Bürger das Handeln der wenigen professionell politisch Engagierten „regiert“.

Es handelt sich bei der Demokratie also um eine gerade Umkehrung des Verhältnisses zwischen Bürgern und Berufspolitikern, wie wir es gerade haben. Während heute Berufspolitiker die Bürger zu regieren versuchen (mit heimlicher Verzweiflung der Politiker und sehr mäßiger Zufriedenheit der Bürger), regieren in einer Demokratie die Bürger ihre Berufspolitiker.

Es ist an der Zeit, dass wir uns für die Vorzüge öffnen, die die großflächige Einführung von Laienpolitik mit sich bringt. Und dass wir auch den Beiträgen ins Auge schauen, die wir alle erbringen können und erbringen müssen, damit wir in den Genuss dieser Vorzüge kommen.

Eine Demokratie ohne aktive Beteiligung aller Bürger an ihr gibt es nicht. Und eine liberale Gesellschaft gibt es ohne Demokratie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr lange: