Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Existenz von Beziehungen nicht mehr selbstverständlich ist. Man könnte auch vom Zeitalter der „disconnected society“ sprechen.

Schauen wir uns die Sache (unsere Lage) im Detail an:

Beziehungen zwischen uns als Menschen, die an weit voneinander entfernten Orten leben, und die dennoch schon lange miteinander eine Gesellschaft bilden: So gut wie nicht vorhanden.

Als Bürger innerhalb eines formalen Landes fehlen uns ebenfalls völlig die bürgerschaftlichen Beziehungen. Als Bürger verbindet uns im Grunde nichts als ein paar Zettel Papier bzw. ein paar Datenbankeinträge.

Auch die Beziehungen zwischen uns als Privatmenschen, die unmittelbar als Nachbarn nebeneinander wohnen, sind nicht per se gegeben. Zumindest nicht in der Stadt. Und wie wir alle wissen, nimmt die Verstädterung unseres Lebens überall auf dem Planeten beständig immer noch weiter zu. Die entfremdete Nachbarschaft ist also längst „die Normalform des menschlichen Zusammenlebens“. Und nicht mehr die Ausnahme. Und, noch wichtiger: Es handelt sich um einen unumkehrbaren Trend, auch wenn wir naiven Städter darüber oftmals anders denken.

Und selbst innerhalb von Unternehmen und manchmal sogar innerhalb von Familien ist es nicht von alleine einfach „gegeben“, dass wirkliche, gelebte, gepflegte, belastbare Beziehungen vorhanden sind.

All das ist uns heute oft noch nicht vollständig bewusst. Zu sehr sitzt uns noch das alte Dorfleben im Nacken, als ehemalige Normalform des menschlichen Lebens. So, wie es bei unseren Großeltern oder Urgroßeltern noch war.

Denn im klassischen Dorfleben sind Beziehungen tatsächlich „gegeben“. Wir werden in eine Gemeinschaft geboren, die sich personell im Laufe unseres Lebens nur geringfügig verändert. Wir werden gemeinsam alt. Es gibt gewissermaßen kaum ein Entkommen vor der „dörflichen Gemeinschaft“. Zumindest sind die Kosten und Risiken des Entkommens sehr hoch gewesen.

Was die alten, dörflichen Beziehungen aber kaum brauchten, war bewusster Aufbau und bewusste Pflege. Die Beziehungen in der alten Welt „waren einfach da“. Es waren eben Gegebenheiten, mit denen man zurecht kommen musste, aber um die man sich nicht eigens kümmern musste, damit sie überhaupt bestanden.

Das ist in der neuen Welt, in die wir alle gemeinsam unterwegs sind, durchaus anders: Beziehungen, in die wir nicht ganz bewusst investieren, entstehen einfach nicht. Wir können in der Moderne, in der liberalen Gesellschaft, in der Stadt, sehr gut (oder sehr schlecht, je nach Setting) nebeneinander her leben.

Die Grundtendenz der modernen Welt ist „die Gesellschaft als Zweck-WG“, ohne innere Verbindung zwischen den Menschen.

Dieser Gedanke ist auch keineswegs neu. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird er immer und immer wieder geäußert. Aus den verschiedensten Ecken.

Keine ganz unwichtige Frage ist daher, welche Antwort die Moderne, d.h. wir alle, miteinander, auf diese normale Beziehungslosigkeit finden.

Denn dass beziehungsloses Nebeneinander-her-leben uns Menschen nicht gut tut, davon können wir ausgehen.

Nach meiner Auffassung ist z.B. der Illiberalismus, die Negation der Moderne keine mögliche Antwort. Es gibt für uns kein Zurück in die vermeintliche Idylle eines dörflich-tribalen Lebens. Auch darin sind wir heute Lebenden manchmal erschreckend naiv.

Es ist also weder nötig noch überhaupt möglich, die Verstädterung und die privaten Freiheitsrechte der Moderne „zurückzunehmen“, um eine verbundenere Gesellschaft herzustellen, in der Beziehungen bewusst aufgebaut und kultiviert werden.

Es ist eher so, dass in dieser Hinsicht eine zusätzliche, eigene Aufgabe auf uns zukommt, die bisher schlichtweg nicht nötig war. Die aber heute zunehmend notwendig für uns wird. Die Moderne muss lernen, wir müssen lernen, Beziehungen zueinander aufzubauen und „instand zu halten“. Als eine beständige, zusätzliche Tätigkeit. Als die eigentliche politische Tätigkeit, die bisher verzichtbar war, es aber nun nicht mehr ist.

Diese Aktivität, die es in der Moderne braucht, ist nach meiner Einschätzung sowohl erlernbar als auch institutionalisierbar. Und wahrscheinlich braucht es beides.