Was ich im Folgenden schreibe, ist selbstverständlich nicht neu. Viele Philosophen, Psychologen, Soziologen, Mediatoren und Unternehmensberater sagen es. Sagen es immer wieder, nur eben auf unterschiedliche Weise:

Soziale Dilemma-Situationen sind prinzipiell immer „produktiv“. In ihnen steckt eine fundamentale Innovationskraft, die sich ohne das Auftretens eines Dilemmas niemals ergeben und entfalten könnte.

„Soziales Dilemma“ heißt hier: Du brauchst etwas, ich brauche etwas, und wir wissen im Moment beide nicht, wie wir es schaffen können, dass Du bekommst, was Du brauchst, und ich bekomme, was ich brauche. – „Ober sticht Unter“ ist keine Option, weil wir uns dann in Kämpfen verstricken (unsere Ressourcen in Kämpfe investieren, in denen ausgemacht wird, wer überhaupt von uns gerade „Ober“ und „Unter“ ist), mit denen wir uns im Ergebnis beide schlechter stellen.

Weil wir das nicht wissen, ist die „Dilemma-Situation“ damit wie ein Aufruf an uns beide, „die Ebene zu wechseln“ oder „etwas zu erfinden“, das uns ermöglichen soll, dass es zwischen uns keinen trade-off gibt, sondern wir beide gleichzeitig bekommen, was wir brauchen.

Ähnliche Dilemmata können auch „psychologisch“ oder „organisatorisch“ auftreten, letzteres, wenn wir Organisationen so betrachten als wären sie „Individuen“: Auch hier sind Dilemma-Situationen Treiber von Innovation, Helfer, aus gewohnten Bahnen aussteigen zu können und Neues auszuprobieren. Es ist dann nur so, dass die verschiedenen Bedürfnisse, deren gleichzeitige Befriedigung sich auszuschließen scheint, dabei dem gleichen Individuum zugerechnet werden, anstatt verschiedenen Individuen. „Der Konflikt“ oder „der Krieg“ ist dann ein „innerlicher“. Ein „Bürgerkrieg“ sozusagen.

Das Leiden an der Unlösbarkeit des Problems setzt eine Kraft frei, die Neues ermöglicht. Daher ist es oft so wichtig, dass Dilemmata auch wirklich auf den Tisch kommen und „ausgetragen werden“, anstatt bagatellisiert zu werden, weggewischt zu werden, verdrängt und zugedeckt zu werden, oder künstlich beruhigt und stillgestellt zu werden.

Wir Menschen mögen keinen Schmerz, nicht auf die Dauer. Daher ist die Setzung, daher ist das reine Prinzip Hoffnung, in Dilemma-Situationen so wichtig: Wir setzen gemeinsam, dass es einen Weg gibt, in dem wir beide bekommen, was wir brauchen, obwohl wir im Moment diesen Weg nicht kennen, noch er sich irgendwo abzeichnet und nun entweder Verzweiflung oder Krieg als „rational“ erscheint. Schmerz ohne Handlungsoption führt zuverlässig in die Verdrängung. Unsere Psyche ist da sehr rücksichtsvoll mit uns: Sie will unsere grundsätzliche Handlungsfähigkeit sicherstellen. Und dauerhafter Schmerz ohne Lösungsoptionen führt uns in eine schockstarre Lähmung. Daher ist Verdrängung oft besser als ihr Ruf.

In der gemeinsamen Suche nach gemeinsamen Lösungen in einem gemeinsamen Problem gilt jedoch ein anderes Gesetz: Wir fangen uns gegenseitig auf, wir lindern den Schmerz wechselseitig. Nach dem Gesetz des „diametralen Auslebens“ hat der eine immer Hoffnung, dass sich doch noch eine überraschende Lösung findet, wenn der andere diese Hoffnung gerade zu verlieren droht. Daher können wir, „wenn wir gemeinsam das Problem haben“, sehr viel länger im reinen Ungelöstheits-Schmerz bleiben. Das heißt: Wir gewinnen Zeit. Wir gewinnen Zeit, die wir brauchen, um ganz neue Wege zu entdecken. Daher ist – sozialer Frieden und eine wirksame Beziehung vorausgesetzt – die soziale Dilemma-Situation innovativer als der „genialische Einzelne“, der im stillen Kämmerlein an neuen Lösungen tüftelt.

Nach dem Prinzip: „Wo ein Wille ist, finden sich auch Wege“ suchen wir gemeinsam nach Wegen, indem wir uns künstlich den Ausweg: Du oder ich, mindestens einer von uns beiden kriegt gerade nicht, was er braucht, versperren. Der soziale Konsens in dieser Situation ist, dass wir nicht dulden, dass einer von uns beiden „verliert“. Wir wissen im Moment nicht, wie wir das anstellen können. Aber wir setzen, dass wir nicht eher ruhen werden, bis wir so ein WIE entdeckt haben.

Und wenn schon der einzelne menschliche Wille Berge versetzen kann, dann hat der gemeinsame Wille noch einmal ganz andere Möglichkeiten.