Emanzipation unter Machtgesichtspunkten

Hat man einen klaren Machtbegriff, kommt man nicht umhin wahrzunehmen, dass unsere Gesellschaft ein starkes, stabiles Machtungleichgewicht zwischen uns als Männern und uns als Frauen institutionalisiert.

Woran sich diese Machtungleichheit in Wirklichkeit festmacht, wird oft übersehen und oft verklärt: Sie entfaltet sich an der Art und Weise, wie wir die Verantwortung für das Wohlergehen unserer Kinder in unserer Gesellschaft momentan regeln.

Faktisch ist es nach wie vor das höchste Armutsrisiko für Frauen, die nicht sehr reich geboren sind, dass sie schwanger und dann vom Vater des Kindes / der Kinder verlassen werden.

Ich habe die letzten Jahre mit vielen hundert Frauen (genauso wie mit Männern) Gespräche führen dürfen: über ihre Partnerschaften, ihre Berufs- und Familienplanung und über die Erfahrungen, die sie damit in verschiedenen Altersstufen gemacht haben. Ich kann hier nur meinen höchst subjektiven Eindruck aus diesen Gesprächen wiedergeben: Es sind mehr als 9 von 10 Frauen, die sich der gestellten Problematik bewusst sind. Die ihre Risiken kennen und daher zu mir sagen: „Herr Ibrahim, ich möchte finanziell unabhängig sein , ich will mein eigenes Geld verdienen. Die Abhängigkeit vom Vater meiner Kinder ist mir zu riskant. Und dann noch die Sache mit der Rente später mal…“

Die Lösung für das Machtproblem in der Beziehung heterosexueller Paare wird also in der Berufstätigkeit und Karriere von Frauen gesucht. Auch und vor allem von den Frauen selbst.

Ernüchterung der Zahlen, ernüchternde Erfahrungen

Nun gibt es dazu Studien. Und ich muss sagen: Mich haben sie sehr beeindruckt. Es sind Studien zum Thema „Dual Career Couples“. Mit diesem Begriff werden nicht Paare bezeichnet, „in denen auch die Frau arbeitet“. Das ist heute weit verbreitet. Sondern das sind Paare, „in denen auch die Frau Karriere macht.“ – Das Beeindruckende ist – wenn man diesen Studien glauben will: Weltweit verläuft die Karrierekurve von Männern und Frauen in solchen Paaren mittlerweile weitgehend parallel. Und zwar ganz genau bis zu jenem Zeitpunkt, „an dem die Frauen Kinder bekommen“. Ab diesem Zeitpunkt schnellt die Kurve bei uns Männern noch steiler nach oben, während die Kurve der Frauen abflacht, wenn nicht abstürzt. Und das ist wie erwähnt kein deutsches, das ist globales Phänomen, das sich überall ähnlich abspielt.

Selbst wenn wir in Rechnung stellen, dass jene „Dual career couples“ bereits eine ganz spezielle Gruppe aus der Gesamtbevölkerung darstellen (meist Akademikerpaare) müssen wir doch aufgrund der Datenlage annehmen: Der Plan, Machtgleichheit zwischen Frauen und Männern mittels „Karriere“ herzustellen, funktioniert schlichtweg nicht. Er funktioniert schlicht aufgrund des biologischen Faktums nicht, dass Frauen eine Gebärmutter haben, dass sie unsere Kinder säugen können, und dass wir Männer uns deutlich leichter aus unserer Elternverantwortung vertschüssen können.

Die sicherste Art und Weise, wie eine Frau heute, beim momentanen Stand unserer Institutionen, Machtgleichheit in der Beziehung zu einem Mann herstellen kann, ist, wenn sie auf Kinder verzichtet oder wenn sie rein physisch keine Kinder bekommen kann. Entsprechend reagieren auch viele studierte Frauen gerade in sehr konservativen Ländern mit sehr traditionalen Geschlechterrollen auf die gegebenen Strukturen: Sie bekommen rationalerweise keine Kinder. Es ist einfach zu riskant.

Durch unsere Institutionen polen wir Frauen, die nicht auf Kinder verzichten wollen, auf folgende Lebensstrategie: Einen möglichst vermögenden, mächtigen Mann zu „erobern“ und ihn dann möglichst an sich zu binden. Mindestens für die „Reproduktionsphase“, also bis „die Kinder aus dem Gröbsten raus sind“, am besten aber für den Rest des Lebens.

It’s a mad men’s world

Rein machtdynamisch gesehen bringen wir Frauen mit Kinderwunsch auf diese Weise in eine sehr ungünstige Position gegenüber ihren Männern: Sie brauchen diese Männer nämlich deutlich mehr als umgekehrt diese Männer sie. – Nun werden Männerpsychologen aus gutem Grund einwenden, dass das vielleicht in monetärer, materieller Hinsicht der Fall sein mag, in emotionaler, psychologischer Hinsicht jedoch auch ganz anders gesehen werden kann („Pantoffelheldensyndrom“: Nach außen der große Zampano, in der Partnerschaft das erwachsene Kind mit hoher emotionaler Bedürftigkeit). Für Frauen mit Kinderwunsch spielt das in der internen Machtdynamik heterosexueller Paarbeziehungen jedoch keine wirkliche Rolle: Denn der Mann kann sich, eine „machtvolle“ gesellschaftliche Position vorausgesetzt, leicht „eine neue Frau“ suchen, während das umgekehrte für eine Frau, die von ihrem Partner mit den Kindern „sitzen gelassen wurde“ nicht im gleichen Ausmaß gilt und zudem das vorhandene berufliche Kapital bereits reduziert wurde. Im nüchternen machtdynamischen Blick hat bei einem Paar mit Kindern ein karrieretechnisch halbwegs gut aufgestellter Mann mehr Alternativen als die Frau – und sitzt daher in der Beziehung am längeren Hebel. Das gilt um so mehr, um so mehr der Mann Karriere macht. Und zwar nicht nur deswegen, weil dann seine Attraktivität für andere Frauen steigt, sondern auch, weil das seine Bindung an die Kinder reduziert: Wer kaum Zeit mit seinen Kindern verbracht hat, gibt weniger auf, wenn er „seine Familie aufgibt“. In seiner subjektiven psychischen Ökonomie ist ein Karrieremann eines der beziehungsmäßig freischwebendsten Wesen, die man sich nur denken kann. Das dicke Ende für uns Männer kommt dann spätestens „nach der Karriere“. Wenn die Macht und die Business nicht mehr verdeckt, was uns schon die ganze Zeit über gefehlt hat.

Für Frauen mit Kinderwunsch heißt das, dass sie im Grunde gar keine guten Optionen haben. Wollte man ihnen einen Ratschlag nach nüchternem Machtkalkül geben, müsste man ihnen raten, sich einen Mann zu suchen, bei dem die Aussicht auf eine erfolgreiche berufliche Karriere nicht ganz so hoch ist, weil das die Machtdynamik in der Beziehung reduziert. – Die Zahlen aus den meisten Ländern der heutigen Welt sprechen aber nicht dafür, dass das „die Lösung“ ist. Da das traditionale Konzept der Männlichkeit einem „Anti-Empathie-Training“ gleich kommt, können wir Männer unseren erlebten Verlust beim Verlassen der von uns mitgegründeten Familie leicht senken, indem wir von Anfang an weniger Emotionen in diese Familie investieren. Und nicht wenige Männer stürzen sich gerade nach der Geburt ihres ersten Kindes vermehrt „in die Arbeit“. Die freundliche Interpretation der entsprechenden Statistiken ist: Weil sie „endlich erwachsen und sich ihrer Verantwortung bewusst werden“. Die unfreundliche: Weil sie aus der Care-Arbeit fliehen, die sie zu Hause erwartet, und weil sie den subjektiv erlebten „Liebesentzug“ nicht aushalten, nachdem sie die Aufmerksamkeit ihrer Partnerin nun mit neuen Lebensmitbewohnern teilen müssen. Wie auch anders? Nach erfolgreichem absolviertem Anti-Empathie-Training, nach erfolgreicher Sozialisation „zum Mann“ kann das kaum anders sein. Der „erfolgreiche Mann“ taugt schlecht für Care-Arbeit. Und er taugt auch schlecht für emotionale Unbedürftigkeit. Denn beim Anti-Empathie-Training, das nahezu alle Jungen in unserer Gesellschaft durchlaufen, wird ja nicht nur die Empathiefähigkeit in Bezug auf andere Menschen abtrainiert, sondern an allererster Stelle die Selbstempathie.

Frauen mit Kindern sind, wenn sie nicht selbst in eine reiche, ressourcenstarke Familie geboren wurden, in unserer momentanen gesellschaftlichen Ordnung extrem von ihrem Partner abhängig. Und das ist, wie wir heute aus der systematischen Erforschung von Beziehungsdynamiken wissen, guten Beziehungen keineswegs zuträglich. Stabile Machtasymmetrien machen gute Beziehungen beinahe unmöglich für uns Menschen.

Was tun?

Was könnte man also tun? Wie baut man so eine „biologisch fundierte“ Machtungleichheit gesellschaftlich ab? Wie können wir gute Beziehungen ermöglichen?

Offen gesprochen fällt mir dazu kaum etwas Gutes ein. Neben meiner Standardidee, das Feld des Politischen ganz anders zu gestalten (nämlich so, dass Frauen den exakt gleichen Zugriff auf Politik, Gesetzgebung und Staat bekommen wie Männer), neben der Idee also, großflächig das Losverfahren in unsere Verfassung einzuführen, kann ich im Grunde nur sagen:

Welche institutionelle Lösung wir auch immer suchen, um ein Machtgleichgewicht zwischen Männern und Frauen herzustellen, sie müsste das Wohlergehen von Frauen und vor allem von Kindern weitgehend unabhängig davon machen, welchen sozialen Status der Vater des Kindes zufällig hat, wie sehr er Karriere macht, was er besitzt, wieviel gesellschaftliche Macht er „ergattern“ kann. Und vor allem auch unabhängig davon, ob er nun bei „seiner“ Familie bleibt oder nicht. Erst in der ökonomischen Unabhängigkeit voneinander können freie, gute Beziehungen entstehen. Nicht emotional, wohl aber finanziell ist es sinnvoll, Müttern und Kindern die Sicherheit zu verschaffen, dass es ihnen ganz unabhängig vom Vater der Kinder gut gehen wird. Väter dürfen nicht finanziell benötigt oder gebraucht werden.

Nur Lösungen, die Sexualität und Reproduktion systematisch voneinander trennen, haben das Potential wirkliche Emanzipation von Frauen wie Männern zu ermöglichen. Wenn Frauen sich in Beziehungen zu Männern nicht mehr aus gutem Grund davor „fürchten“ müssen, schwanger zu werden, weil sie das machtdynamisch in eine abhängige Position bringt, nimmt der Druck auf Menschen jeden Geschlechts systematisch ab. Übrigens auch auf Menschen, die selbst gar keine Kinder haben. Denn auch sie sind mittelbar vom Machtungleichgewicht zwischen Männern und Frauen betroffen, das durch die „Schwangerschaftsmöglichkeit“ der meisten Frauen entsteht. Gesellschaftliche Machtdynamiken, die so weit verbreitet und so zeitstabil sind, strahlen aus auf die gesamte Gesellschaft, so dass keiner von ihnen frei ist. Von einem institutionell hergestellten Machtgleichgewicht zwischen heterosexuellen Paaren mit Kindern würden also alle Menschen unserer Gesellschaft profitieren.

Und wir armen reichen Männer?

Und ganz selbstverständlich haben auch wir Männer, wir Väter dabei viel zu gewinnen (muss man das wirklich eigens erwähnen und ausführen?): Unsere Beziehungen zu unseren Frauen und unseren Kindern würden deutlich freier, wenn diese unsere Beziehungen nicht mehr von „Versorgungserwartungen“ befrachtet wären, wenn wir nicht mehr in materieller Hinsicht „gebraucht“ würden. Denn erst dann können wir uns auf andere Weise einbringen. Z.B. emotional. Dass wir Männer unter der gegenwärtigen Verfassung nicht leiden würden, halte zumindest ich für eine der größten Lügen, die unsere Gesellschaft derzeit beseelen. Leider sind es derzeit nur die paar wenigen Männertherapeuten, die es in unserer Gesellschaft gibt, die diese Auffassung teilen. Also diejenigen Menschen, die uns Männer zu Gesicht bekommen, wenn unsere Rüstung zerbröselt und die Maske der Männlichkeit gefallen ist.

Den meisten von uns Männern würde einiges andere einfallen, was sie mit ihrer Lebenszeit Lustvolleres und Sinnvolleres anfangen könnten, würden sie nicht von fehlgebauten Institutionen dazu gezwungen, „Versorgermann“ zu spielen. Die Lust auf Karriere unter Männern ist in Wahrheit viel geringer als viele glauben. Es ist ein idiotisches Verantwortungsgefühl, das die meisten Männer bei der Karrierestange hält. Und das uns in ein Leiden führt, für das wir uns – oftmals unbewusst – an unseren Frauen und Kindern rächen, „wegen denen wir das alles getan haben“ und „für die wir so viel aushalten mussten“. Wir sind schon großartige Selbst-Opferlämmer, wir heutigen Männer.

Notwendigkeit politischer Lösungen

Insgesamt „riecht“ das ganz nach einem Problem, das eine „staatliche Lösung“ erfordert: Dass wir also alle gemeinsam, nicht als Einzelne dafür sorgen, dass Mütter und Kinder „safe“ sind, dass Mutterwerden für Frauen kein Abhängigkeits- und Armutsrisiko mehr ist und dass das Wohlergehen und die Zukunftschancen von Kindern nicht vom zufälligen Karrierestatus und der zufälligen Familientreue ihres jeweiligen Vaters abhängen. – Es braucht eine Enkoppelung, die nur politisch, nur gesetzesmäßig erfolgen kann. Wie auch immer das dann konkret aussieht und ausgestaltet wird. Auch unsere Politik ist ja auf das Prinzip „trial and error“ angewiesen und generiert nur selten gleich beim ersten Anlauf „die perfekte Lösung“, falls man überhaupt denken will, dass es so etwas gibt.

Alle anderen emanzipatorischen Bemühungen erscheinen mir angesichts unserer heutigen täglichen Erfahrungen miteinander (und auch mit Blick auf die wissenschaftliche Datenlage) wie Augenwischerei. Ohne eine Loslösung des Wohlergehens von Kindern und Frauen vom gesellschaftlichen Status und vom Verbleib der Väter haben wir im Grunde gar keine Emanzipation, sondern reden nur darüber. Und das ist ein Gespräch, das aufgrund seiner fortgesetzten institutionellen Folgenlosigkeit zunehmend ermüdend wird für alle Beteiligten. Wird über ein Problem zu lange geredet, ohne dass es gelöst würde, wenden wir uns nach und nach von diesem Problem ab. Zu aussichtslos, zu ernüchternd, zu frustrierend ist es dann, dort weiter hinzuschauen. Man würde wohl depressiv, würde man nicht beginnen, das Problem selbst auszublenden, und stattdessen mit einem Schulterzucken zu sagen: „Das ist halt so. Das kann man nunmal nicht ändern. Und so schlimm ist das ja auch gar nicht.“ Bagatellisierung von realem Leiden als Überlebensstrategie unserer Psyche.

Hinschauen ist aber die Voraussetzung dafür, dass man institutionellen, politischen Handlungsbedarf überhaupt erkennt. Und ein solches Hinschauen setzt unsere erfahrungsbasierte Hoffnung voraus, dass wir auf politischem Wege etwas ändern können. Dafür müssten wir den derzeit herrschenden Politikstau beenden. Mit einer Verfassungsreform, die unserer Politik wieder Wege bahnt, die uns wieder kollektiv handlungsfähig macht.

Demokratie: Gleiche Staatsämter für alle

Wie sehr Demokratie darin besteht, dass sie alle Bürger in den aktiven politischen Dienst nimmt: Mitzuhören, Mitzusprechen, Mitzuentscheiden – und wie sehr sie darin besteht, ganz bewusst in der Politik ein systemisches Gegengewicht zur privaten Macht des Adels zu schaffen: Das kann man nirgendwo deutlicher sehen als in der attischen Demokratie, wie sie sich ab ca. 450 v. Chr. entwickelte. Denn in nahezu jeder sesshaften Gesellschaft gibt es so einen Adel, der eine dauerhaft beherrschende gesellschaftliche Stellung gewinnt. Es ist eine beherrschende Stellung, die vererbt wird, weil sie sich in überlegenem Reichtum, in exklusiven Beziehungen zu den Adligen in anderen Regionen, in überlegener Bildung und auch in reiner Herrschaftsgewohnheit, im Habitus des Herrschaftsgewohnten verfestigt. All das wird von den Aristokraten einer Gesellschaft an ihre Kinder weitergegeben. Und es ist allem Anschein nach unvermeidlich, dass sich in entwickelten Gesellschaften so eine „Adelsklasse“ herausbildet. Zumindest mir ist keine einzige post-tribale Gesellschaft bekannt, in der es sie nicht gäbe. Und auch wir haben sie heute natürlich, auch wenn wir diese Menschen nicht „Aristokraten“ nennen, weil wir es gewohnt sind, uns selbst eine Geschichte zu erzählen, derzufolge die Aristokratie abgeschafft worden sei und wir bereits in einer Demokratie leben würden.

Um einen Eindruck davon zu geben, was es für eine Gesellschaft heißt, wenn sie sich wirklich demokratisch aufstellt, zitiere ich im Folgenden längere Passagen aus Christian Meiers „Athen“ und kommentiere dort, wo es mir naheliegend erscheint, einen Bezug zu unserer heutigen Situation herzustellen:

„Im Jahre 457 wurde in Athen ein Gesetz erlassen, wonach auch Angehörige der dritten Zensurklasse, der Zeugiten, das oberste Amt, das Archontat, bekleiden durften. Es begünstigte vor allem die weniger gut gestellten unter denen, die seit Kleisthenes im Rat der Fünfhundert sowie in der Volksversammlung den Ausschlag gaben. Damit wurde der Kreis derer, aus denen die Oberbeamten gelost wurden, erheblich erweitert. Der Einfluss des Archontats musste weiter schrumpfen. Die Bedeutung dieser Veränderung lag für die Zeugiten also zumal in ihrer symbolischen Gleichstellung mit den Angehörigen der oberen Klassen.“ (Chr. Meier, Athen, S. 388)

Wir sehen an solchen Vorgängen in der antiken Demokratie vor allem zweierlei: Einmal dass Demokratie ein „ongoing process“ war, dass also Demokratie keine Sache ist, die einmal da ist und einmal nicht, dass Demokratie keine Sache von 0 und 1 ist, sondern dass Demokratie in einem Mehr oder Weniger besteht. Auch als Athen längst eine Demokratie war, gab es noch weiteren Demokratisierungsbedarf. Denn die historische Macht des Adels war noch überpräsent und auch das inner-griechische „Ausland“ beäugte die Vorgänge in Athen sehr kritisch. Bei einer der ersten, einschneidenden Reformen des attischen Staatswesens in Richtung Demokratie (unter Kleisthenes) hatte Sparta „interveniert“ und nur der entschiedene Widerstand der athenischen Bürger hatte verhindert, dass die Entwicklung in Richtung Demokratie damals bereits beendet wurde.

Zum anderen sehen wir den großen Unterschied zu unserer heutigen „Lösung“ des Problems überlegener Macht einiger weniger unter uns: Während wir um den vorsichtigen und zaghaften Ausgleich dieser ökonomischen Macht über Steuern bemüht sind (die es im demokratischen Athen durchaus auch gab, wenn auch in anderer Form), und uns dieser unser Ausgleichsversuch in tausend Widersprüche und Kompromisse zwischen Leistungsprinzip und Bedürfnisprinzip bringt, erschuf die attische Demokratie ein zweites System neben dem Privaten, innerhalb dessen sie Gleichheit der Bürger etablierte. Dadurch konnte der Adel Adel bleiben. Man erwartete von ihm zwar größere ökonomische Beiträge zum Gemeinwesen (so wie es auch vor allen Demokratisierungsentwicklungen gewesen war), aber das blieb auf einer Ebene, wie wir sie heute in etwa aus den USA kennen: Es war eine Frage der Ehre und des Selbstverständnisses, nicht des Rechts. Staatliches Mäzenatentum kann man das nennen.

Während wir also heute zulassen, dass sich ökonomische Macht und hervorragende private Stellung direkt auch in politische Macht und hervorragende politische Stellung im Gemeinwesen ummünzt, schuf die attische Demokratie ein System, in dem politisch gesehen alle gleich waren, während privat die Unterschiedlichkeit bestehen blieb. Das Losverfahren war das zentrale Element dieser Lösung zum Umgang mit ungleicher gesellschaftlicher Macht. Genauer: Gelosten Gremien echte, wirksame staatliche Macht zu übertragen war das, was den Ausgleich brachte. Und man war sehr stolz auf diese Lösung.

Zugleich waren die Aristokraten jener Gesellschaft keineswegs „entmachtet“. Es besteht damit ein gewaltiger Unterschied zu den modernen „Umstürzen“, wie etwa in der französischen oder in den kommunistischen „Revolutionen“ unserer Tage, die nur jeweils eine neue, andere Aristokratenklasse an die Macht gebracht haben. – Worauf wir uns in der Moderne angewöhnt haben so viel einzubilden, ist im Grunde ein sehr traditioneller Vorgang, der in allen Aristokratien immer wieder vorkommt: Dass die einen Aristokraten die anderen von der Herrschaft verdrängen, während für den Rest der Bürger alles Wesentliche gleich bleibt, wenn es nicht sogar noch wesentlich schlimmer wird für sie.

Die Aristokraten wurden in der attischen Demokratie keineswegs „von der Macht getrennt“, sie wurden nur gleichgestellt. Für sie änderte sich also vergleichsweise wenig. Für wen sich deutlich mehr änderte, das waren „die einfachen Bürger“, die bisher nichts mit dem Politischen zu tun gehabt hatten. Demokratie, so können wir an der attischen Entwicklung sehen, besteht nicht darin, dass die einen, die Wenigen kleiner gemacht werden, sondern darin, dass die Vielen auch einen gleichwertigen Zugang zur Macht erhalten und dass dieser Zugang zuverlässig institutionalisiert wird.

Neben den gelosten Gremien gab es auch Wahlämter. Und – wie immer bei Wahlen – waren es auch in Athen die Aristokraten, die diese Ämter (z.B. die „Strategen“) besetzten. Da sich diese Ämter jedoch gegenüber der Volksversammlung und dem Rat der Fünfhundert verantworten mussten (letzterer war gelost aus allen Bürgern), konnten auch diese „ministerialen“ Ämter nicht losgelöst vom Bürgerwillen agieren. Damit war die Adelsmacht quasi „politisch gezähmt“. Der Adel stellte sich in den Dienst des Demos, er verlor seine politisch beherrschende Stellung über ihn, während er ihm im Privaten weiterhin weit überlegen blieb. Er wurde weder enteignet noch gezielt von der Politik ferngehalten. Die Bürger hatten im Politischen jetzt nur eine eigene Sphäre, in der die privaten Machtunterschiede zwischen ihnen keine zusätzlichen politischen Machtunterschiede mehr erzeugten. Die Politik wurde ein Raum des Ausgleichs zur privaten Ungleichheit.

Diese Lösung hat die moderne Gesellschaft bisher sozusagen „verpasst“. Ja, es scheint manchmal, als würde es für sie eine „Denkunmöglichkeit“ darstellen. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass es so etwas überhaupt geben könnte, dass so etwas möglich ist, dass so etwas funktionieren kann. – Genau deswegen ist der Blick zurück auf die antike griechische Demokratie so wichtig: Weil man dort klar erkennt, dass es funktionieren kann, und was es braucht, damit es funktioniert.

„Die Gleichheit der Demokratie verwirklichte sich nicht zuletzt im Rang der Bürger, das heißt im Turnus der Amtsinhabe. Das Volk herrscht, indem die Bürger im Wechsel die Ämter besetzten, heißt es später einmal, und es wird stolz hinzugefügt, dass der Arme mit dem Reichen gleiches Recht habe. Daraus wurden jetzt mehr und mehr Folgerungen gezogen. Wobei man übrigens diesen Wechsel ganz naturgemäß fand, er entsprach dem von Tag und Nacht, Sommer und Winter.“ (Chr. Meier, Athen, ebd.)

Aus heutiger Situation bemerkenswert scheint mir hier: Einmal die Selbstverständlichkeit, die jener ständige Amtswechsel, diese allgemeine Verfügbarkeit für Staatsämter annehmen konnte und die aus heutiger Sicht ja beinahe unglaublich erscheinen kann. Die allgemeine Politisierung der Bürgerschaft wurde sozusagen „zur zweiten Natur“. Dass das möglich ist, ein solches „Natürlichkeitsempfinden“ bei der Wahrnahme politischer Ämter lässt auch für uns heute durchaus hoffen.

Zum anderen stolpert man heute vielleicht über das Wort „stolz“, das zum Ausdruck bringt, dass man sich der Leistung bewusst war, die man mit der Erschaffung und Erhaltung einer Demokratie erbrachte. Von solch einem demokratischen Selbstbewusstsein, von so einem „Stolz auf die Demokratie“ sind wir heute – konsequenterweise – unendlich weit entfernt.

„Dieses Gesetz ist eines der ganz wenigen dieser Zeit, die wir datieren können. Bald nach 461 begann man im großem Stile zudem, Volksbeschlüsse, Abrechnungen, Dokumente verschiedener Art auf Stein zu schreiben und aufzustellen. Zur Demokratie gehörte auch die Möglichkeit, sich umfassend über all das zu orientieren. Irgendwann in diesen Jahren müssen ferner die Gesetze erlassen worden sein, welche die finanziellen Voraussetzungen für eine breitere Teilhabe an der Politik schufen: die Einführung der Diäten für den Rat der Fünfhundert und nach und nach für verschiedene Ämter. (Für die Teilnahme an Volksversammlungen wurden erst gegen Ende des Jahrhunderts Diäten eingeführt.) Die Gelder für all die Zahlungen standen offenbar bereit, Athens Einnahmen waren mit seiner wachsenden Macht gestiegen.“ (Chr. Meier, Athen, ebd.)

Was für eine drastische Veränderung im politischen Verständnis diese institutionelle Veränderung voraussetzt, kann man kaum übertreiben. Man muss sich bewusst machen, dass nur wenige Zeit zuvor in Athen das Denken von Ökonomie und Politik noch genau umgekehrt gelagert gewesen war: Man musste es sich leisten können, sich politisch betätigen zu dürfen. Man musste reich sein. Das war Zugangsbedingung für Politik. Nun für den politischen Verdienst bezahlt oder zumindest entschädigt zu werden, ist eine gerade Verkehrung der bisherigen Verhältnisse, die die Grundlage der Aristokratie gewesen waren. – Offenbar hatte man sehr gut verstanden, was Demokratie braucht, um Demokratie zu sein und Demokratie zu bleiben: Damit sich das private Privileg sich nicht auch noch zusätzlich in eine politisches Privileg ummünzt, muss der ökonomische Nachteil der Vielen im Politischen ausgeglichen werden. Es muss den Vielen ermöglicht werden, es sich leisten zu können, „politisch aktiv zu sein.“

Für unser heutiges, sehr ähnliches Problem, wie denn um himmelswillen alle Bürger zur aktiven Teilnahme an der Politik zu bewegen seien (ein Problem, das etwa David van Reybrouck für das kritischste Problem bei der Einführung von Losverfahren hält), sind viele verschiedene Lösungen denkbar.

Die aus meiner Sicht Vielversprechendste davon ist nicht sehr weit weg von der Lösung, die auch die athenische Demokratie gewählt hat, um allgemeine Beteiligung sicherzustellen. Möglicherweise ist sie – in psychologischer Hinsicht – sogar noch ein wenig wirksamer und menschenfreundlicher.

„Wohl die größte Rolle in diesem Zusammenhang spielte der Richtersold. Nachdem die Gerichtsbarkeit lange bei Beamten und – vermutlich – einem Kreis von Honoratioren gelegen hatte, traten mit der Zeit, wohl seit Mitte der fünfziger Jahre, mehr und mehr Geschworenengerichte in deren Funktion ein. Sie scheinen zunächst vor allem Appellationsinstanzen gewesen zu sein. Mit der wachsenden Bevölkerung, der rapiden Zunahme der Geschäfte, aber auch angesichts neuer Bedürfnisse aus dem Seebund wurden sie mehr und mehr gebraucht.“ (Chr. Meier, Athen, S. 389)

Wir sehen hier das gleiche Prinzip am Werk wie bei der Entwicklung der athenischen Demokratie generell, seit via Solon und Kleisthenes das Prinzip der Isonomie etabliert worden und das Losverfahren überhaupt zum Teil der Verfassung geworden war: Die erweiterte politische Partizipation ging einher mit einem Bedürfnis: Es brauchte die Bürger in der Politik, ansonsten hätte man (= der Adel) ihnen nie mehr Beteiligungskräfte zugestanden. Anfangs brauchte man die Bürger in der Politik, um das Dilemma zwischen Bürgerkrieg und Tyrannei aufzulösen. Politische Stabilität war anders nicht mehr erreichbar gewesen als eben durch „Demokratisierung“. Später brauchte man die Bürger in der Politik, weil man sie in der Armee brauchte, und weil es den Athenern so schien, dass wer im Krieg gebraucht wurde, auch politisch mitreden müsse. Und hier sehen wir nun ein sehr unmittelbares Bedürfnis: Man konnte schlicht der Menge der Gerichtsfälle ohne Volksgerichte nicht mehr bewältigen. Wir würden heute sagen: Es fehlte an genügend juristischen Spezialisten, und wir würden uns sofort an die vermehrte Ausbildung solcher Menschen machen. – Da es aber keine juristischen Spezialisten im heutigen Sinne gab (die Juristerei im heutigen Sinne hat ihr Geburtsdatum erst später, im römischen Recht) und die Bürgerschaft bereits an politisches Engagement gewähnt war, lag der attischen Demokratie diese andere, „demokratischere“ Lösung offenbar näher.

„Diese Geschworenengerichte waren mit Hunderten, vielfach fünfhundert, gelegentlich auch noch mehr Bürgern besetzt. Sie waren zwar alle gleichmäßig aus den zehn Phylen genommen, werden aber vor allem Männer aus der Stadt gewesen sein [und nicht aus dem attischen „Umland“, das auch Teil der Polis Athen war AI]. Die Diäten betrugen zwei Obolen, sie deckten den Lebensunterhalt einer Person pro Tag. Auf die Dauer stellte der Geschworenendienst neben dem militärischen die wichtigste öffentliche Funktion des Durchschnittsbürgers dar.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die Größe der Geschworenengerichtshöfe wie die Losung damit zu tun, dass dort wirklich ein breiter Durchschnitt, quasi die Allgemeinheit der Bürgerschaft vertreten sein sollte. Doch ging es auch um die Heranziehung möglichst vieler Bürger an das öffentliche Leben. Sie konnten sich wichtig fühlen; auch hochmögende Herren musste sich vor ihnen beugen, ihr Mitleid zu gewinnen suchen. Die Herrschaft des Demos drückte sich, wie in den Quellen immer wieder betont wird, nicht zuletzt an dieser Stelle aus.“ (Chr. Meier, Athen, ebd.)

Zum bewussten Akt, eine möglichst repräsentative Allgemeinheit Entscheidungen treffen zu lassen, kann man sagen, dass das das gleiche Motiv ist, das auch uns heute treibt, wenn wir in „Bürgergutachten“, „Bürgerräten“ oder „Zukunftsräten“ vom Losverfahren Gebrauch machen: Es sollen alle vertreten sein. Wobei in unserer heutigen, modernen Gesellschaft sogar noch ein Zusatzgrund hinzu kommt: Anders als in der vergleichsweise homogenen attischen Bürgerschaft haben heutige Bürger ein sehr viel verschiedeneres Leben, sehr viel verschiedener Erfahrungen und sehr viel verschiedenere Situationen, aus denen sie heraus hören, sprechen und entscheiden. Es geht uns heute also nicht nur um performative Befriedigung der Bürger „dabei zu sein“, sondern um die bewusste Einholung der gesellschaftlichen Multiperspektivität in den politischen Raum. In der Annahme, dass dem politischen Raum höchstwahrscheinlich wichtiges entgeht, wenn man anders verfährt, also wenn etwa immer nur Bestimmte oder gar immer nur Dieselben in ihm beraten und entscheiden.

Wir sehen in der letzten Passage bei Meier darüber hinaus auch, dass es bei der Demokratisierung Athens durchaus auch um Machterleben, oder genauer: Machtgleichheitserleben durch die Bürger ging. Es hatte eine symbolische Bedeutung, in der sich die Wertigkeit jedes einzelnen Bürgers ausdrückte, dass die Aristokratie ihr plötzlich in einem Verhältnis (vor Gericht) so entgegentrat, dass man selbst auch einmal ihr gegenüber in einer Machtposition war. Auch wenn sich diese Art von Macht dadurch relativierte, dass man sie eben nicht als Einzelner, als Privater, als Besonderer ausübte, sondern in der Gemeinschaft der Bürger. Und dass eben auch die Adligen selbst Teil dieser Gemeinschaft waren, da sie ja ebenfalls ausgelost werden konnten.

Für das demokratische Bewusstsein muss das eine große Bedeutung gehabt haben. Und es scheint daher nicht wundersam, sondern eher folgerichtig, dass man „in den Quellen“ darauf immer wieder hinweist.

Wir können auch hier nüchtern feststellen, das ein entsprechendes Machterleben der Bürger in unserer heutigen Demokratie bisher fehlt. Und dieses fehlende Demokratieerleben hat möglicherweise keinen ganz kleinen Anteil daran, dass die moderne Demokratie auf ziemlich wackligen Füßen steht und bisher immer wieder in Sinnkrisen gerät: Es fehlt ihr sozusagen der „emotionale Unterboden“. Die Bürger erleben sich heute nicht als Bürger. Sie sind es nur auf dem Papier.

„Der Richtersold spielte aber auch in der Versorgung der Bürger eine nicht zu unterschätzende Rolle. Viele von ihnen waren nun schon seit mehr als 20 Jahren immer wieder als Ruderer für die Polis ausgefahren. Die zivile Arbeit mussten sie darüber vernachlässigen. Kriegsführung und Politik kamen für sie einem Beruf nahe. Die Tätigkeit als Richter ergänzte das und schuf weitere Versorgungsmöglichkeiten, vermutlich zumal für Ältere. Jährlich wurde eine Liste von 6000 Geschworenen aufgestellt [bei ca. 30.000 „Vollbürgern“, AI], aus der die einzelnen Gerichtshöfe genommen wurden.“ (Chr. Meier, Athen, ebd.)

Dieser Aspekt der attischen Demokratie scheint weniger übertragbar auf unsere heutige Gesellschaft, die gesellschaftliche Integration hauptsächlich über sogenannte „Erwerbsarbeit“ herzustellen versucht. Zudem haben wir heute kein Interesse mehr an personalintensiver Kriegsführung, ja möglicherweise kein Interesse mehr an Kriegsführung gegeneinander überhaupt.

Stellen wir aber in Rechnung, dass wir über unsere technische Möglichkeiten heute möglicherweise so etwas wie eine „neue Aufgabe“ nicht nur für einige wenige Menschen, sondern für einen Großteil heute lebender Menschen brauchen, dass also Erwerbsarbeit als gesellschaftlicher Integrationsfaktor ausfällt, kommt durchaus wieder „das Politische“ als allgemeines Betätigungsfeld der Bürger in Frage. Die gemeinsame Aufgabe wäre dann die Arbeit am Gemeinsamen, nicht nur – wie jetzt – allein am Besonderen. Es gäbe dann eine Alternative zu sowohl den „Hobbys“ des Privatlebens, als auch zu den „Aufgaben“ des Berufslebens. Beide Bereiche wären gegenüber der allgemeinen politischen Tätigkeit „privat“. Wir würden unter „Privatleben“ nicht mehr nur unser Leben neben unseren beruflichen Aktivitäten verstehen, sondern auch unser Berufsleben selbst. Weil es dann eben, wie in der attischen Demokratie, eine politische Alternative für alle gäbe.

Dass diese „gemeinsame Aufgabe“ zudem einen starken befriedenden Effekt auf unsere Gesellschaft hätte, ist, nachdem das Gleiche in der antiken Demokratie gerade aus einer starken Kriegsfokussiertheit hervorging, fast schon ein Treppenwitz der Geschichte. Dass das gleiche „Instrument“ (die allgemeine Politisierung der Bürger) unter bestimmten Umständen sowohl der allgemeinen Mobilmachung als auch – unter anderen bestimmten Umständen – der allgemeinen Befriedung menschlicher Gesellschaften dienen kann, war zumindest für mich nicht auf Anhieb nachvollziehbar. Hat man die entscheidenden Unterschiede zwischen antiker, griechischer Gesellschaft und moderner Weltgesellschaft jedoch einmal klar, fällt es nicht mehr schwer zu verstehen, inwiefern sehr ähnliche politische Verfahren und Gewohnheiten zu verschiedenen „Stimmungen“ in der Gesellschaft führen können. Diese Unterschiede sind kurz gesagt: 1.) Der höhere Differenzierungsgrad in der Moderne 2.) Der nach und nach absterbende Maskulismus und der steigende Pazifismus in der Moderne 3.) Das Vorhandensein einer „Weltgesellschaft“, d.h. einer Gesellschaft, die kein menschliches Außen mehr hat und nicht mehr mit einem menschlichen Außen rechnen muss.

„Weiterhin muss, wohl ebenfalls in jener Zeit, da die Bedeutung des Rats so sehr zunahm, dessen Verfassung ausgestaltet worden sein; durch die Einführung des Loses etwa, sodann durch die Bestimmung, dass keiner dem Haus öfter als zweimal im Leben angehören dürfe. So wurde dafür Vorsorge getroffen, dass wirklich ein breiter Querschnitt der Bürgerschaft (und ohnehin Jahr für Jahr andere) die Vorberatung aller Volksbeschlüsse sowie vielerlei Verwaltungsgeschäfte erledigen konnte, Aufgaben, welche ein kleineres Geremium als die Generalversammlung verlangten und aus deren Erledigung möglichst keine Macht in den Händen derer sich sammeln sollte, die damit betraut waren.“ (Chr. Meier, Athen, S. 389 f.)

Dem muss man fast nichts hinzufügen. Denn das entspricht fast exakt der Praxis und den Gründen für diese Praxis, die wir bereits heute übernommen haben, z.B. in den Bürgerversammlungen in Irland, die entsprechende Volksbeschlüsse vorbereitet und vorberaten haben und die ebenfalls die sofortige nochmalige Teilnahme derselben gelosten Bürger bewusst ausschließen. In beiden Fällen geht es um möglichst allgemeine Beteiligung und um die bewusste Diffusion politischer Macht unter den Bürgern. – Also darum, dass – entgegen der bisher herrschenden Ideologie – gerade keine „persönliche politische Verantwortung“ entsteht, weil mit solcher persönlichen Verantwortung auch die Entstehung von persönlicher politischer Macht einhergeht. Und eine Demokratie mit personalisierter politischer Macht nichts anfangen kann. Genauer: Demokratie besteht ja im Unterschied zur Aristokratie geradezu daraus, dass sie die Personalisierung politischer Macht ausschließt. Dazu sind Losverfahren, ständig neu durchmischte Kleingruppen und das Verbot unmittelbar wiederholter Teilnahme wirkungsvolle institutionelle Mittel.

„Auch könnte es sein, dass verschiedene neue Ämter eingerichtet wurden, manche davon zehnfach besetzt, aus jeder Phyle einer; auch dies war im Sinne der Teilhabe möglichst vieler Bürger an der Verwaltung, ohne dass zuviel Macht in ihrer Hand zusammenkommen konnte. Es mag geradezu ein Prinzip gewesen sein, dass breite Beteiligung an Ehren und Aufträgen die Demokratie schmackhaft machen und die Amtsinhaber sich wichtig vorkommen lassen sollte – damit sich Athen besser regieren ließe.“ (Chr. Meier, Athen, S. 390)

Das spricht einen heute durchaus heiklen Punkt an. Ich meine damit nicht die vermeintlich „manipulative“ Absicht hinter der Herstellung allgemeiner Beteiligung, die wir – aus unseren heutigen politischen Gewohnheiten heraus – heute fast schon reflexhaft vermuten. Sondern die Vorstellung, dass hier überflüssige politische Staatsämter geschaffen wurden, damit eben allgemeine Beteiligung, allgemeine Politisierung der Bürgerschaft entstehen konnte.

Denn wir stehen ja zahlenmäßig in unseren heutigen Großgesellschaften vor einem noch viel größeren Problem: Selbst wenn wir geloste Bürgerversammlungen auf allen politischen Ebenen einführen (lokal, regional, national, kontintenal, global), wir sie turnusmäßig, regelmäßig neu besetzen (z.B. 4 x im Jahr) und wir uns die wiederholte Teilnahme an einer Bürgerversammlung auf gleicher politischer Ebene verbieten – ist es rein mathematisch immer noch so, dass keineswegs jeder Bürger fest damit rechnen kann, in seinem Leben mindestens einmal als aktiver Politiker herangezogen zu werden. Rechnerisch können wir dann zwar davon ausgehen, dass jeder von uns mindestens einen Menschen in seinem nahen Umfeld hat, der schon mal „im Staatsdienst als aktiv Mitsprechender, Mitberatender, Mitentscheidender“ war und dass so zumindest eine gewisse politische Unmittelbarkeit in unser aller Leben rückt. Die Politik uns also nicht mehr so fern und fremd erscheint, uns nicht mehr von außen, als „Staat, der uns fremd bleibt“ entgegentritt. – Aber streng demokratisch gesehen ist das dann immer noch ein hochunbefriedigender Zustand, der weit vom allgemeinen Politisierungsgrad der attischen Bürger entfernt ist.

Möglicherweise können Adhoc-Bürgerräte zu ganz bestimmten politischen Themen hier Abhilfe schaffen. Also Bürgerräte, die jene Bürgerkonvente oder Bürgerparlamente ergänzen, die über mehrere Monate hinweg „im Amt sind“ und möglicherweise ihre Hauptaufgabe haben, die weiterhin gewählte politische Exekutive zu kontrollieren und zu entlasten. Vom polnischen Politologen Marcin Gerwin kommt zudem der in meinen Augen sehr smarte Vorschlag, aus Bürgern, die bereits einmal selbst gelost wurden und mit dem Prozess Erfahrung haben, nochmals zu losen, um auf demokratischem Weg Prozesskontrolleure, Prozessoptimierer und Prozessvorbereiter zu gewinnen. Gerwin nennt das hier auf S. 88 f. „Bürgersenat“. Denn die Frage der Kontrolle über die Prozesse des Losens, Versammelns und Beratens schafft ja tatsächlich neue politische Machtfragen: Potentiale für Machtungleichheiten zwischen den Bürgern. Insofern scheint es logisch, auch hier das Losverfahren einzusetzen (und gleichzeitig bewusst die bereits aufgebaute demokratische Kompetenz unter den Bürgern zu nutzen), um zu verhindern, dass es zu neuen, anderen undemokratischen Machtkonzentrationen kommt.

Auch wenn eine solche „wunderbare Ämtervermehrung“ also den Zweck hat, allgemeine politische Beteiligung, wirkliche Demokratie herzustellen, scheint es möglich Aufgaben zu finden, die keine reine „politische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ sind, die von uns also, wenn wir ausgelost werden, als weitgehend sinnlos empfunden werden.

Fängt man an in Richtung einer allgemeinen Demokratisierung des politischen Gemeinwesens zu denken, ergeben sich beinahe von allein sinnvolle neue Staatsämter, die gewinnen anstatt zu verlieren, wenn sie demokratisch, mittels der antiken demokratischen Verfahren des Losens und der Isegorie gehandhabt werden. Es scheint möglich, dass wir auch in der Moderne eine Bevölkerung von glücklich vereinten „Teilzeit-Beamten“ werden können. Die geloste Bürgerversammlung hat auf mehreren Ebenen und in verschiedenen politischen Funktionen ein Riesenpotential, die moderne Gesellschaft zu bereichern und Probleme zu lösen, die uns bislang als „ewig unlösbar“ erschienen sind.

Verlässliche Politik / Körpervertrauen – Körpermisstrauen

Unsere Körper gehören zum Verlässlichsten, das es überhaupt für uns gibt. Wir vergessen das gerne. Aber für einen philosophisch veranlagten Menschen, der ja stets auf der Suche nach „allgemeinen Prinzipien“ und „Gesetzmäßigkeiten“ ist, weil der Boden unter ihm sonst viel zu sehr schwankt, ist so etwas durchaus nicht ganz vernachlässigenswert. Ist Verlässlichkeit für uns eine wichtige Größe, sind die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Körper nicht völlig zu verachten.

Was soll das aber heißen: „Unser Körper ist recht verlässlich.“? – Nach meinem Erleben: Eine ganze Menge:

  • Z.B. zeigt unser Körper immer die gleichen Reaktionen auf bestimmte Formen von Zuwendung und Vernächlässigung. Damit kann man fest rechnen. Verzichten wir z.B. länger auf Schlaf, können wir ziemlich sicher sagen, was passiert. Geben wir ihm die Bewegung, die er braucht: Nicht zu viel, nicht zu wenig, die richtige Art, so dass er uns mit „Spaß“ rückmeldet, dass das schon so passt, können wir auch ziemlich sicher sagen, was passiert. – Ein ziemlich kooperatives und treues „Ding“, so ein Körper.
  • Aber nicht nur in seinen Bedürfnissen, Gefühlen und Reaktionen auf Bedürfnisbefriedigung/Bedürfnisvernachlässigung ist so ein Körper eine ziemlich zuverlässige Sache. Sondern auch im Zwischenmenschlichen Bereich, den wir manchmal etwas verkürzend „Kommunikation“ nennen. – Während wir mit Worten und Gedanken ziemlich gut hinter dem Berg halten können, zeigt der Körper seine ganz eigenen Reaktionen. Und die sind wesentlich schlechter zu verbergen. Zumindest mir sind keine so guten Schauspieler bekannt, die sich hinsichtlich der Dinge, die für sie gerade ziemlich wichtig sind, so gut verstellen können, „dass man nicht dahinter käme“. Zumindest dann nicht, wenn man die Technik des „Den-Körper-Ansprechens“ beherrscht. – Aber vielleicht mache ich mir da was vor und hab da nur einen planetengroßen blinden Fleck mit meiner Illusion, dass man da dann einiges sehen, hören, fühlen und manchmal auch riechen kann. – Körpersprache schafft also Vertrauen, weil wir dadurch wissen, woran wir beim anderen sind. Und, noch wichtiger: Der andere weiß auch bei uns, woran er ist. Will man gelingende Kooperationen, ist das eine schöne Sache. – Virtuelle Kommunikation mittels reiner schöner Worte und Bilder zeichnet sich dagegen durch ein hohes Täuschungs- und Enttäuschungspotential aus. Solche Kommunikation verzichtet auf eine „natürliche Ressource“, wenn es um gelingende Interaktionen geht. Also um solche „Begegnungen“, nach denen sich hinterher beide beteiligten Menschen besser fühlen anstatt schlechter.
  • Körperreaktionen und Körperkommunikation in der Politik ungenutzt zu lassen, könnte daher, wenn man „verlässliche Politik“ wollte, eine richtiggehend fahrlässige Idee sein.
  • Und dann gibt es da noch die auch nicht ganz unwichtige „Verlässlichkeit“, dass wir alle wohl irgendwas über 99% unseres Genoms miteinander teilen. Auch das ist eine „körperliche Verlässlichkeit“, die beides erklärt: Warum wir so gut miteinander auskommen (warum menschliche Kooperation überhaupt möglich ist) und warum wir so große Schwierigkeiten haben, miteinander gut auszukommen (warum menschliche Konkurrenz recht wahrscheinlich ist und man sich wohl immer wieder in die Quere kommen wird, wenn man sich nicht abstimmt und koordiniert).

Ein menschlicher Körper dessen „Richtung“, dessen „Verhalten“, dessen zukünftige „Reaktion“ für uns nicht einschätzbar ist, ist für uns Menschen immer eine potentielle Bedrohung: Zu vielfältig sind die Möglichkeiten solcher Körper, „uns in die Quere zu kommen“, „uns zu verletzen“, oder einfach mit uns zu crashen. Gar nicht unbedingt „aus böser Absicht“, sondern aus reiner Unberrechenbarkeit, Unabgestimmtheit und Unkoordiniertheit.

Sehr schön ist in diese Körpertheorie des Politischen daher jenes Zitat von Reuel Howe einzubauen (wie es von Thomas Gordon wiedergegeben wird):

„Jeder Mann [und jede Frau; Einfügung von Gordon] ist ein potenzieller Feind, das gilt sogar für die Menschen, die wir lieben. Nur der Dialog kann uns von der Feindschaft erlösen, die jeder gegen jeden empfindet.“ („Gute Beziehungen“, Klett-Cotta 2013,  S. 68)

Eine Kommunikation, die ohne unsere menschlichen Körper auszukommen glaubt, kann uns nicht beruhigen. Denn intuitiv wissen wir, dass wir Menschen auf diese Weise, ohne die Kommunikation unserer Körper, über kurz oder lang „aneinander geraten werden“. Ungefähr so wie beim Autoscooter. Nur weniger vorhersehbar und weniger lustvoll.

Der heute viel verschrieene „Präsentismus“ hat daher im Gegensatz zum heutigen Lob des Virtuellen eine ganz entscheidende Sache für sich: Ohne ihn ist keine verlässliche, kooperative Politik zu machen. Wir wissen ohne unsere „Körper im Raum“ gar nicht, wie wir es vermeiden sollen, miteinander zu crashen. Und dass wir das dann nicht wissen können, das wissen wir im Grunde.

Daher sind wir heutzutage, ohne eine solche Politik, ja auch alle so aufgewühlt. Wir antizipieren: Das kann so nicht gut gehen mit uns. Wir machen uns Angst.

Dass diese wechselseitige, systematische Angsterzeugung ohne Not geschieht, dass das auch ganz anderes sein könnte, das steht auf einem anderen Blatt.

Körper im Raum – Körper erleben

Das politische Denken in Europa wurde ganz entscheidend geprägt von zwei Theorien des Politischen, die bemerkenswert „körperorientiert“ sind:

Von Thukydides‘ philosophischer Rekonstruktion der Ereignisse, die zum Peloponnesischen Krieg geführt haben und der Prinzipien, die in diesem Krieg erkennbar wurden. Und am Beginn der Neuzeit von Thomas Hobbes, der seinen mechanistischen Atomismus und die damit verbundene Körpertheorie offen thematisiert.

Thukydides‘ Körpertheorie des Politischen liest man am Besten bei Alfons Reckermann nach. Thomas Hobbes‘ Körperpolitik scheint mir am Besten im Original zugänglich zu sein, auch wenn ich zugeben muss, dass es mich ein ganzes Jahr meines Lebens gekostet hat, den „Leviathan“ und seine vermeintlichen Widersprüchlichkeiten und Merkwürdigkeiten für mich aufzulösen. Also bis sich ein Gefühl des „vollständigen Verstehens“ eingestellt hat. Ein Gefühl, von dem manche sagen, dass es das gar nicht gibt, wieder andere, dass es eine Illusion ist, und wieder andere, dass es fatal ist. Was man verstanden zu haben glaubt, sei tot. – Ich erlebe das etwas anders. Nach dem „vollständig Nachvollzogen-Haben“ geht das eigentliche Leben erst los. Aber das ist wohl ein Problem für Philosophen mit starkem Hang zur Hermeneutik.

Beide Theorien des Verhaltens politischer Körper – die antike und die moderne – sind eng miteinander verknüpft. Denn es ist kein Zufall, dass Hobbes Thukydides ins Englische übersetzt hat.

Beide Theorien schildern das Verhalten von (menschlichen) Körpern im Raum aus der Vogelperspektive, aus der Übersicht, von Außen. – Es sind also keine „Erlebnisberichte“, sondern Reflexionen auf’s Erlebte aus vermeintlicher Unbeteiligtheit. „God view“ nennt man das auch manchmal. Dass beide, Thukydides wie Hobbes, auf’s Engste in das involviert waren, was sie theoretisierend beschreiben, muss man sich immer dazu denken. Dass es sich um Versuche einer Distanznahme, einer Rückgewinnung eigener Handlungsfähigkeit handelt, angesichts erlebter Ohnmachten in Konfliktdynamiken, die die Möglichkeiten und Fähigkeiten individuellen Handelns übersteigen.

Bei Hobbes finden wir auch Anlagen zu einer psychischen Betrachtungsweise (in den ersten Kapiteln des Leviathans): Er beschreibt auch die angenommenen „Innenbewegungen“ von Körpern, also das, was die äußere Bewegung und das Aufeinandertreffen von Körpern in menschlichen Körpern auslöst. Heute nennen wir das eben: „Psychologie“.

Wenn wir den Impuls aufnehmen, dass „Politische Theorie“ eine ganz bestimmte Form der „Theorie vom Verhalten menschlicher Körper im Raum“ ist, nämlich diejenige, die danach fragt, ob und wie diese Körper ihr Verhalten im Raum durch kollektives Handeln bewusst koordinieren, gestalten, formen, bahnen, ordnen können, dann gewinnen geloste Bürgerversammlungen einen eigenartigen, neuen Zug:

Denn durch das Losverfahren bringen wir ja zuallererst die „Körper der Bürger“ in einem gemeinsamem Raum zusammen, den wir als „politisch“ insofern kennzeichnen, als in ihm über Dinge beraten und entschieden werden soll, die danach „im Privaten“ wiederum alle beeinflussen und betreffen.

Es scheint sich um den Aufbau des Potentials zu einem Selbstordnungsprozess zu handeln, ähnlich der individuellen Reflexion auf eigene Aktivität. Also ähnlich dem Vorgang, wenn wir uns zurückziehen und „darüber nachdenken“, wie wir weiter verfahren wollen. – Nur eben als kollektives Geschehen.

Wenn wir das Körperbild aufnehmen, das Hobbes als Titelbild zum „Leviathan“ gewählt hat, dann haben wir in gelosten Bürgerversammlungen ein sich immer wieder ereignendes (anstatt einmaliges) „Zusammenkommen des Souveräns“ vor uns, eine Anordnung von Körpern, die die Körper anordnen. Oder ihnen zumindest in „Gesetzen“ und „staatlichen Maßnahmen“ die Wege für ihre weitere Fortbewegung verstellen oder bahnen.

„Selbststeuerung der Gesellschaft“ kann man das nennen. – Wie das auf Dauer gestellt werden kann, solche Selbstkoordination der Bürger durch die Bürger, hat vor kurzem der polnische Politologe Marcin Gerwin sehr schön beschrieben, auf S. 88 f. dieser Anregung zur Durchführung von gelosten Bürgerversammlungen.

Da ich selbst sehr psychologisch orientiert bin, d.h. das Politische von dem her zu verstehen versuche, was mir als „die menschliche Seele“ erscheint, glaube ich, dass wir heute insofern über Hobbes hinaus gehen können, als wir den Innenvorgängen der Bürger bei solchen Bürgerversammlungen mehr Aufmerksamkeit schenken. Denn die Frage, wie sich menschliche Körper im Raum mehr harmonisch und lustvoll und weniger konflikthaft und schmerzhaft bewegen können, ist getragen von den Möglichkeiten wechselseitiger menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation. Insbesondere von der Kommunkation unserer Körper, also derjenigen Kommunikation, die wir heute, im virtuellen Zeitalter, schärfer wahrnehmen als jedes Zeitalter zuvor, in dem Körperlichkeit noch fragloser und selbstverständlicher war. Auf gewisse Weise sind wir heute die „vergeistigteste“ Gesellschaft, die jemals auf diesem Planeten gelebt hat.

Und daher wird unsere Körperlichkeit, ihre Grenzen und ihre Möglichkeiten, für uns interessanter. Auch im Politischen. Die Bürger erleben sich auf Bürgerversammlungen in ihrer Körperlichkeit. Und von diesen – institutionell herstellbaren – Erfahrungen her, ist politische Koordination höchstwahrscheinlich besser möglich als in einer Politik, die rein virtuell oder medial bleibt, die also auf solches Körpererleben vollständig verzichtet.

Gewissermaßen träumt unsere momentane Politik unsere menschlichen Körper nur. Sie hat leere Vorstellungen von den Auswirkungen staatlicher Maßnahmen und Gesetze auf die verschiedenen Körper in ihrer verschiedenen Lage, Bewegung und Anordnung. Aber sie hat keine Erfahrung mit ihnen. Sie erhält keine körperlichen Rückmeldungen, kein Körperfeedback. Eine solche „körperlose“ Politik muss auf diese Weise ganz zwangsläufig falsche Vorstellungen von den Auswirkungen ihrer selbst entwickeln. Denn ihre Auswirkungen sind selbstverständlich körperlicher Art. Nur weiß sie eben nichts darüber. Sie träumt ihre eigenen Auswirkungen – und ist dann überrascht von den wirklichen Auswirkungen.

Dass auf diese Weise – ohne geloste Bürgerversammlungen – eine katastrophale Politik entstehen muss, hätten m.E. sowohl Thukydides als auch Hobbes unmittelbar verstanden.

Wie Wahlen von Parteien unsere gesellschaftliche Empathie erodieren lassen

Um nachzuvollziehen, wie Wahlen das Empathie-Niveau in einer Gesellschaft nach und nach immer weiter absenken, ist es wahrscheinlich gut, sich konkreten Situationen zuzuwenden. Ich nehme im Folgenden irgendeine Situation, wie sie immer wieder einmal vorkommt in unserer Gesellschaft.

Angenommen, es geht um die politische Entscheidung über den Bau einer weiteren Flughafen-Startbahn. An diesem Bau docken verschiedene menschliche Bedürfnisse an. Z.B. mag es Menschen geben, die sich davon Aufträge für ihr Unternehmen erhoffen, denen der Ausbau also Sicherheit verschafft. Das gleiche kann für einige Menschen gelten, die gern am Flughafen arbeiten, in den verschiedensten beruflichen Rollen. Und es mag Menschen geben, die in der Nähe des Flughafens wohnen, vielleicht dort gebaut haben, zu einem Zeitpunkt, als der Fluglärm noch geringer war und von einem weiteren Ausbau nie die Rede. Und es mag Menschen geben, die sich um die langfristige gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Region sorgen, und die sich vom Ausbau versprechen, dass die Region dann an die zentralen, weltweiten Ströme von Kapital, Know-How und auch kultureller Attraktivität besser angebunden ist oder bleibt. Und es mag Menschen geben, die sehen, dass ein weiteres Stück Wald oder Land verloren geht, mit kurzfristigen wie langfristigen Folgen für Tier- und Pflanzenarten. Vielleicht geht es auch um den Erhalt eine Naherholungsgebietet, das einige sehr schätzen. Oder um Straßen, die neue Wege nehmen müssen, was für Pendler wiederum…

Damit sind wir in unsere kleinen, konstruierten Szenario immer noch grob unterkomplex unterwegs, weil die menschliche Vielfalt in unserer Gesellschaft in jedem Fall viel größer ist als alles was wir uns ausdenken können. D.h. es sind immer noch viele weitere menschliche Bedürfnisse im Spiel. Bedürfnisse, die wir uns aufgrund der unglaublichen Vielfalt unserer Gesellschaft nicht einfach „denken“ oder „erschließen“, sondern die wir nur durch das Zuhören und Nachfagen in unmittelbarer Begegnung mit jenen Menschen erfahren können. Es handelt sich stets um sehr konkrete und hochgradig nachvollziehbare Bedürfnisse, die zugleich für die jeweilige Einstellung eines Menschen zu dieser politischen Entscheidung eine ganz entscheidende Rolle spielen. – Und das: Diese Vielfalt und diese Unausdenkbarkeit dürfen wir heute bei jeder politschen Entscheidung voraussetzen.

Was ist nun die natürliche Reaktion auf ein geäußertes oder spürbares Bedürfnis bei einem anderen Menschen? Wenn wir selber entspannt sind, wenn wir uns sicher fühlen? Wenn wir glauben, dass auch auf unsere eigenen Bedürfnisse eingegangen werden wird?

Wenn wir selber nicht massive psychische oder physische Schädigungen erlitten haben, Schädigungen in einem Ausmaß, wie sie in der Gesamtbevölkerung nur verschwindend selten vorkommt, dann werden wir uns in solchen Fällen dem Bedürfnis des anderen freundlich – und auch ein bisschen neugierig – zuwenden. Wir wollen dann wissen, wie es dem anderen geht. Wir wollen verstehen, worum es ihm genau geht. Vielleicht auch, wie wir ihm helfen oder auf ihn eingehen können. Was wir selbst zu seinem Wohlergehen beitragen können. Wir hören ihm zu.

Empathische Reaktionen sind ganz natürlich für uns als „hypersoziale Spezies“. Wir hätten uns niemals so weit entwickeln können und wir hätten niemals so komplexe Kooperationsformen ausbilden können, hätten wir alle nicht diese komischen „Empathie-Buchsen“, die uns „wie gemacht“ erscheinen lassen dafür, aneinander empathisch anzudocken und uns sinnvoll miteinander zu verbinden. – Manche sagen auch „Indeed without empathy democracy would not be possible“:

Die systematische Kultivierung und Nutzung von Empathie ist also entscheidend für die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft. Vielleicht sind stabile Empathiepraktiken für die moderne, in sich stark differenzierte Gesellschaft sogar bedeutsamer als für jede andere menschliche Gesellschaft zuvor.

Wichtig für unser Thema ist nun, was passiert, wenn wir solche politischen Entscheidungen wie die über eine neue Flughafen-Startbahn mittels der Institution „Wahlen von Parteien“ miteinander verhandeln:

Es bilden sich dann unmittelbar „Fronten“: Parteien dafür und dagegen, die sofort anfangen, sich Argumente um die Ohren zu hauen. Das Zuhören wird unmittelbar beendet. – Beide Seiten, die für den Bau und die gegen den Bau wollen zwar weiterhin dass man ihnen zuhört, speziell: Dass die Staatsmacht und vielleicht auch „die andere Seite“ ihnen zuhört. Doch das eigene Zuhören ist damit beendet.

Insbesondere tritt eine ganz bestimmte, empathische Form des Zuhörens nun nicht mehr auf: Die Form des Zuhörens nämlich, die auf die Bedürfnisse „dahinter“ lauscht, die darauf hört, was jemand eigentlich will, wenn er sich z.B. für oder gegen den Bau der Startbahn stark macht und in einer ganz speziellen Form „öffentlich Gehör verschafft“.

Denn weil wir – in einem Parteienwahlsystem gefangen – alle miteinander bereits antizipieren, dass uns ja nicht zugehört werden wird, wird in allen politischen Sachfragen nicht nur die Sachfrage selbst verhandelt, sondern jedes Thema wird für uns sozusagen „zum Symbol“. Entweder zum Symbol, „sich hier einmal durchgesetzt zu haben“ (= „politischer Sieg“). Oder zum Symbol, „wieder einmal nicht gehört geworden zu sein (= „politische Niederlage“). – Dass es in der Demokratie möglicherweise darum geht, dass sich gar niemand „niedergeschlagen“ oder „besiegt“ fühlen muss, verschwindet auf diese Weise vom Tisch der Möglichkeiten.

Es ist so, als würden wir mit dem Parteienwahlsystem, das wir uns als Verfassung gewählt haben, unsere Empathieschaltkreise im Hirn systematisch abschalten. Und dabei aber dann immer nur mit dem Finger auf die jeweils andere „Partei“ zeigen, die mit uns ach so unempathisch ist, völlig verbohrt, und überhaupt gar nicht offen für unsere „gewichtigen Argumente“. (Was ja durchaus auch alles stimmt, das ist ja das Schlimme). – Was dabei untergeht und nicht mehr auftaucht ist nur a) dass wir selbst um keinen Deut empathischer sind. Und b) dass der andere sehr wohl viel empathischer mit uns sein könnte und sein würde, würden wir in anderen politischen Verfahren aufeinander treffen. In Formen, in denen Begegnung wirklich stattfindet. In Formen, die Zuhören und Empathie triggern, anstatt sie zu verunmöglichen und zu dumpen.

Was Parteienwahlsysteme mit uns anrichten, geht aber noch weit über diesen unmittelbaren Schaden für unsere bürgerschaftlichen Beziehungen miteinander hinaus:

Wenn wir nicht auf die Bedürfnisse hinter den Äußerungen hören und keinen Zugang zum Wesentlichen im Anliegen unserer Mitbürger finden (und oft auch nicht mehr zum Wesentlichen in unseren eigenen Anliegen), dann ist der Weg zu innovativen politischen Lösungen und Entscheidungen verstellt. Man merkt das gar nicht mehr, weil man es in einem Parteienwahlsystem so selten erlebt und gar nicht mehr kennt. So als gäbe es die Option gar nicht, dass im Zuge von politischen Prozessen Neues entdeckt wird: Neue Wege, neue Lösungen, neue VorgehensweisenPolitische Innovationen, die gerade dadurch „erzwungen“ (besser: ermöglicht) werden, dass wir uns weigern, „einem von uns“ mit unserem gemeinsamen Entscheiden weh zu tun. Dass wir uns demokratisch auf Gewaltfreiheit gegeneinander gepolt haben. Dass wir aus dem Konflikt- und Bekämpfungsmodus prozessual ausgestiegen sind.

Auf gelosten Bürgerkonventen erlebt man so etwas aber ständig: Da sitzen in kleinen Gruppen höchst unterschiedliche Mitbürger zusammen, mit höchst unterschiedlichen „Interessen“ (oder Desinteresse) am Thema, das verhandelt werden soll. Und sie „brainstormen“ erst einmal, was Antworten auf das erarbeitete Problem sein könnten. Sie sammeln also erst einmal – völlig entspannt, es geht ja noch nicht ans Entscheiden – verschiedenste Lösungen. Dann einigen sie sich in ihren Kleingruppen z.B. auf 3 davon, die ihnen als die relativ Besten erscheinen. Auch dies geschieht immer noch entspannt und damit potentiell empathisch. Denn erstens ist die Pluralität der Lösungen ein Trigger für Entspannung. Es gibt kein „Entweder-oder“, sondern verschiedenste Antworten, die alle jeweils Vor- und Nachteile haben, nur halt eben für verschiedene Bürger verschiedene Vor- und Nachteile. Und zweitens wird dann erst im Plenum abgestimmt, nachdem alle Kleingruppen ihre besten 3 Lösungen vorgestellt haben, so dass schon im Zuge des Prozesses der Lösungsvorstellung eine Art weitere „demokratische Willensbildung“ in der Gesamtgruppe der gelosten Bürger stattfindet.

All das bleibt während des gesamten Prozessen entspannt, zugewandt, freundlich und empathisch. Selbst dann, wenn Bedürfnisse einzelner stark betroffen sind, also mit starker emotionaler Ladung zu rechnen ist. Und auch selbst dann, wenn außerhalb des Bürgerkonvents, „in der Öffentlichkeit“, unerbittliche Debatten und polarisierende Konfliktlinien gefahren werden. – Es ist so, als ob die Unmittelbarkeit der Beziehung in solchen gelosten Bürgerkonventen sich über all das hinwegsetzen kann, weil sie sozuagen spontan eine eigengesetzliche, konstruktivere und empathischere Beziehungsdynamik freisetzt. Und da die personelle Besetzung solcher Bürgerkonvente per Losverfahren geschieht, ist eben auch keine Gruppe systematisch ausgeschlossen. „Alle sind da“. „Die Gesellschaft ist da“, wenn man es pathetisch ausdrücken will. Und innerhalb dieser nahezu repräsentativen Mini-Gesellschaft werden nun unmittelbare Empathieprozesse freigesetzt und gezielt für die gemeinsame Willensbildung und das gemeinsame Entscheiden genutzt. – Das ist der Grund, warum die Entscheidungen solcher Bürgerkonvente so viel besser, so viel versöhnlicher und auch so viel innovativer sind als alles, was wir außerhalb solcher Konvente „politisch“ hören und sehen.

Bei Wahlen von Parteien sehen wir von all dem nichts. Wir sehen vielmehr eine zunehmende Errosion von Empathie, die sich nach und nach in allen Gesellschaften Bahn bricht, die seit einem längeren Zeitraum versuchen, Demokratie mittels Wahlen von Parteien zu organisieren. – Diesen Prozess der Empathierrosion durch Parteien verstehen v.a. diejenigen von uns nur schwer, die selbst noch auf einem hohen Empathiesockel sitzen, in vergleichsweise privilegierten gesellschaftlichen Situationen. – Denn die meisten von uns haben schon erlebt, wie sich das Parteienwahlsystem als Verfassung für sie in ihrem persönlichen Leben immer wieder fatal auswirkt. Für sie ist es nicht unverständlich, dass sich als Antwort darauf nun „Anti-Empathie-Parteien“ herausgebildet haben. Denn das ist die logische Antwort auf ein System, das Empathie systematisch dumpt: „Blablabla first“. – Jeder ist sich selbst der nächste. Jeder muss selbst schauen wo er bleibt. Mit Empathie der Mitbürger wird gar nicht mehr gerechnet, weil mit ihr eben auch gar nicht gerechnet werden kann. Das ist in Parteienwahlsystemen kein Mindfuck. Das ist eine regelmäßig gemachte Erfahrung, aus der nun Schlüsse gezogen werden.

Dass Parteien nebenher dazu führen, dass man auch mit sich selbst unempathisch wird, mit eigenen Bedürfnissen, die man durchaus hat, wird ebenfalls ins Unbewusste abgedrängt. Hat man sich einmal in ein „parteiisierbares“ Thema verbissen, vergisst man im Zuge der rituellen Kriegsführung schnell, dass man auch noch viele andere Bedürfnisse hat, die empathische Verbindungen zu Menschen „anderer Partei“ ermöglichen. Es geht dann nur noch darum, „sich durchzusetzen“, „den politischen Kampf zu gewinnen“.

Es ist ein ausgesprochen empathiearmes System, das wir uns da geschaffen haben. Eines, das unsere natürliche Empathiefähigkeit nicht nur unbeachtet und ungenutzt lässt. Sondern ein System, das unsere Empathiefähigkeit systematisch zerstört und uns so in zunehmende Konfliktdynamiken hineinreisst wie in einen sich immer schneller drehenden Strudel.

Parteien sind Organisationen des Krieges. Dass sie intern hierarchisch organisiert sind, ist kein Zufall oder kein „Fehler“. So muss man es eben machen, wenn man gesellschaftliche Kriege führt und gewinnen will.

Nur können wir uns die Frage stellen, ob wir unter „Demokratie“ wirklich das verstehen: Dass wir uns wechselseitig bekämpfen, runtermachen, ins Hintertreffen bringen wollen? Dass wir zu unseren privaten, wirtschaftlichen Kämpfen gegeneinander zusätzlich auch noch eine politische Front gegeneinander eröffnen?

Im Grunde haben wir gerade in einer so vielfältigen und kompetitiven Gesellschaft wie der unseren Bedarf an einem Ort der gesellschaftlichen Beruhigung und Versöhnung. Nicht als einmaligem Vorgang, sondern als „ongoing process“, als ständiges Geschehen. Zu diesem Zweck sind Politik und Demokratie eigentlich einmal erfunden worden.

Was wir daraus gemacht haben, erscheint mir dagegen ziemlich absurd. Eine Politik, die für Empathie keine Verwendung hat und die uns in einem permanenten Kampfmodus versetzt, scheint mir freundlich gesagt überflüssig. Solche politische Institutionen und Verfahren brauchen wir sicher nicht. Denn bekämpfen und uns in ein gesellschaftliches Chaos hineinreiten, in dem der Stärkere, Skrupellosere, Empathielosere „gewinnt“, das können wir auch ganz ohne Politik und Demokratie ganz gut. Das ist keine Politik und keine Demokratie. Das ist ein kompletter Ausfall von Politik und Demokratie. – Und ein System, das zentral in der Wahl von Parteien besteht, ist ein nachhaltig wirksamer Beitrag zu diesem Empathieausfall, zu diesem Empathiedumping, zu dieser Empathieerrosion.

Warum die anderen Stadtstaaten dem demokratischen Athen unterlegen waren (zunächst)

Nach dem Sieg der Griechen über die Perser bei Salamis rückte das demokratische Athen allmählich immer mehr in eine beherrschende Stellung gegenüber anderen griechischen Stadtstaaten. Warum das so war, erläutert Christian Meier sehr treffend: Man hatte in Athen erstmals das aristokratische Prinzip des „Besser-Als-Andere-Sein-Wollens“ auf die Politik übertragen. Im engeren Sinne des Wortes gab es in anderen Poleis eigentlich gar keine Politik. Die athenische Demokratie war sozusagen eine „Aristokratie mit anderen Mitteln“, mit politischen Mitteln nämlich. Vor dem internen Wandel Athens hatte sich die Aristokratie vor allem „privat“ ausgetobt. Christian Meier schreibt dazu:

„Wichtiger als Macht war den Griechen im allgemeinen das Leben selbst, die Geselligkeit, die Öffentlichkeit, auch der Sport. Und der Ehrgeiz der Bundesgenossen war nicht groß, die Kraft der vielen kleinen Städte nicht leicht zusammenzufassen.“ (Christian Meier: Athen, S. 355)

Wenn man „Ehrgeiz“ hatte, so hatte er sich vor der Demokratisierung Athens unter den Griechen nicht oder kaum auf die Politik gerichtet. Es war ein privater Ehrgeiz, mit dem man sich ganz persönlich vor anderen hervortun wollte. Das wird auch der tiefere Grund gewesen sein, warum all jene „Tyranneien“, die es durchaus gegeben hatte, nie stabilisieren konnten. Man bildete keinen stabilen Machtapparat aus, sondern war auf anderes fixiert und konzentriert. Man war zu lässlich (oder soll man sagen: „lebensfroh“?), um sich den Anstrengungen des Machterhalts oder Machtausbaus zu widmen. Sich allein oder vor allem im Politischen zu verwirklichen kam den Griechen allem Anschein nach eher „unrund“ oder „unfrei“ vor.

Von dieser Ausgangslage aus wurden die Athener nach ihrer Demokratisierung unter den Griechen direktgehend „verhaltensauffällig“. Sie entwickelten eine Betriebsamkeit und einen politischen Aktionismus, den man so nicht kannte und der auch Misstrauen weckte in der damaligen griechischen Welt. Die Athener waren unruhig und machten alle anderen unruhig. Sie müssen ähnliche Gefühle bei ihren Mitgriechen ausgelöst haben, wie sie Stadtmenschen heute manchmal bei Landbewohnern auslösen. In der zeitgenössischen Darstellung bei Thukydides liest sich das folgendermaßen:

„Sie sind die ewigen Neuerer, scharf im Planen und rasch im Ausführen dessen, was sie einmal beschlossen haben… Sind gewohnt, auch über das Maß ihrer Kräfte hinaus zu wagen und wider vernünftige Einsicht die Gefahr zu suchen, noch in gefährlicher Lage guter Zuversicht… Kennen kein Zaudern, während Ihr ewig zögert, und gerne lassen sie sich auf Unternehmungen in weiter Ferne ein, während ihr zu Hause hockt… Wenn sie die Feinde bewältigen, so stoßen sie so weit nur immer möglich nach, und werden sie besiegt, so fallen sie so wenig nur immer möglich zurück. … Sie setzen Leib und Leben für die Polis ein, als hätten sie damit nichts zu tun, als gehörten sie ihnen nicht; ihren Verstand aber gebrauchen sie ganz selbständig, jeder als einen eigensten Besitz und Beitrag, wenn es gilt, etwas für die Stadt zu tun. Und was sie von ihren Anschlägen nicht bis zu Ende verfolgen können, das ist ihnen, als würde ihnen genommen, was sie bereits haben; was sie im Angriff gewinnen, das ist für sie, verglichen mit dem, was noch kommen soll, als hätten sie nur eine Kleinigkeit bei Wege vollbracht. Sind sie aber bei einem Versuch gescheitert, so setzen sie der Hoffnung ein neues Ziel und füllen so den Mangel aus. Denn sie sind die einzigen, für die Haben und Hoffen bei allem, was sie planen, eins ist, weil sie geschwind anpacken, was immer sie beschließen. All dies treiben sie unter Gefahr und Mühe ihr ganzes Leben hindurch mit Anstrengung aller Kräfte, und sie verweilen am wenigsten im Genuß ihres Besitzes, weil sie immer mit dem Erwerben beschäftigt sind und kein anderes Fest kennen, als das Notwendige ins Werk zu setzen, und tatlose Ruhe für ein schwereres Los halten als mühselige Unmuße.“ (zitiert nach Christian Meier, Athen, S. 352 f.)

Diese ganze Haltung und dieses ganze Treiben war den Griechen ursprünglich suspekt, die ja gerade auf ihre Freiheit von Arbeit stolz waren. Müßiggang war ein Privileg des Adels; Arbeit ein Attribut der Sklaverei. Vor diesem Hintergrund, vor der gewohnten Idealisierung der „Wahrung des Maßes“ schienen die Athener mit der Demokratie „aus dem Lot“ geraten zu sein: Eine Gesellschaft von kollektiv Überpacenden, eine Gesellschaft von Durchdrehenden, eine verrückte Gesellschaft.

Wir können uns die athenischen Demokraten wie aggressive politische Unternehmer vorstellen. Sie hätten Donald Trump vermutlich gut gefallen. Und diesem aggressiven Unternehmergeist war in der damaligen Zeit nichts gewachsen. Zunächst.

Hätte die Demokratie dabei keine ganz besondere Rolle gespielt, wäre das antike Athen nur eine sehr gewöhnliche, unbedeutende Episode in der Menschheitsgeschichte gewesen. Nur ein weiterer Fall davon, was bis zur Herausbildung der Weltgesellschaft in der Moderne der Standardfall war: Dass aggressivere, kriegerische Gesellschaften friedlichere, lebenszugewandte Gesellschaften unterwarfen, versklavten, verdrängten und ermordeten.

Dass das Innenverhältnis der athenischen Bürger – ihr demokratischer Umgang untereinander – in der Moderne noch einmal so wichtig geworden ist, ist daher fast ein Treppenwitz der Geschichte. Wir wollen heute mit jenen Mitteln, die die Athener nach Außen hin zu einer Art Krebsgeschwür für ihre Mitmenschen gemacht haben, untereinander ein friedlicheres und kooperativeres Verhältnis stiften. Ganz so wie es eben in Athen mit der Demokratisierung tatsächlich der Fall war.

Das ist nicht unbedingt auf Anhieb zu begreifen. Man muss „Athen“ für sich durchaus erst einmal sortieren, um seine Anregungen für die Moderne bekömmlich und fruchtbar zu machen. Denn das Kriegerische, das Aggressive, das zwanghaft Unternehmerische an Athen ist im Grunde nichts Besonderes. Nicht für uns. Das können wir selbst ganz gut. Dazu brauchen wir heute keine Anregung aus der Antike.

Was jedoch das Innenverhältnis angeht, die Art und Weise wie man in einer aggressiven Gemengelage und in einer ständigen instabilen Aufgeheiztheit dauerhafte Verbundenheit und Stabilität stiftete, daraus können wir heute sehr viel ziehen.

Und vermutlich können wir das heute sogar noch ein klein wenig besser machen.

Unsere kurzfristigen und unsere langfristigen Bedürfnisse

Im Grunde geht es für uns in jeder Situation darum, Handlungsstrategien zu finden, mit denen wir unsere präsenten, kurzfristigen Bedürfnisse befriedigen, und mit denen wir es uns zugleich später nicht erschweren, Handlungsstrategien für unsere zukünftigen, noch nicht präsenten Bedürfnisse finden zu können. Jede Situation stellt an uns die Frage danach, wie wir in unserem Handeln unsere Gegenwart und unsere Zukunft miteinander vereinen können.

Menschen ohne Zukunftsbezug haben keinerlei Probleme: Sie können ihr jeweils gerade stärkstes Bedürfnis als alleinigen, fraglosen Handlungsimpuls nehmen.

Das macht Diktatur und Krieg so verführerisch für uns. In beidem spielt unsere innermenschliche und zwischenmenschliche Komplexität keine Rolle mehr. Beide sind große Vereinfacher. Beide schlagen eine Schneise in die Realität, indem sie ein einziges Bedürfnis handlungsleitend machen und alles Sich-Abstimmen und alles Suchen nach innovativen, integrierenden Handlungsstrategien weitgehend überflüssig machen. Das ist sehr entlastend für unser armes kleines Gehirn. Entfremdung und Dissoziation kann auch sehr erleichternd sein. Erst einmal. Kurzfristig.

Aus diesem Grund ist aber auch die Art und Weise so fatal, in der wir unsere Politik und unsere Wirtschaft institutionalisiert haben. Denn durch die Art unserer Institutionen haben wir es uns beinahe unmöglich gemacht, unsere gegenwärtigen und zukünftigen Bedürfnisse besonnen und sinnvoll zu berücksichtigen und Handlungsstrategien zu wählen, in denen wir beide Größen berücksichtigen. Unsere heutigen Institutionen sind oberflächlich verbrämte Formen von Diktatur und Kriegsführung. Zumindest teilen sie mit jenen Sozialformen eine systematische Abkopplung unseres Handelns von unseren Gefühlen und Bedürfnissen.

In der Politik sind es vor allem Wahlen, die uns bzw. die von uns beauftragten „Repräsentanten“ auf Kurzfristigkeit fokussieren, und alle unsere langfristigen Bedürfnisse bei der Entscheidung über staatliche Handlungsstrategien unter den Tisch fallen lassen.

In der Wirtschaft sind es vor allem Quartalsberichte, die uns bzw. die von uns beauftragten „Repräsentanten“ auf Kurzfristigkeit fokussieren, und alle unseren langfristigen Bedürfnisse bei der Entscheidung über unternehmerische Handlungsstragien unter den Tisch fallen lassen.

Eigentlich ist das aber noch viel zu einfach gefasst, um zu begreifen, was wir uns mit unseren momentanen Institutionen selber antun.

Denn im Grunde ist auch die Kurzfristigkeit, die wir im Denken der zu Handeln ermächtigten Menschen institutionalisieren, nicht unsere Kurzfristigkeit. Wir schaffen künstliche „Bedürfnisse“ bei Politikern wie Managern, denen sie hinterherlaufen, ohne unsere kurzfristigen, ohne unsere langfristigen und auch ohne ihre eigenen langfristigen Bedürfnisse berücksichtigen zu können.

Politiker werden an den Stimmen gemessen, die sie für ihre Partei bei Wahlen generieren.

Manager werden an der sehr kurzfristigen Entwicklung von Unternehmenszahlen gemessen, relativ zu Erwartungen, die auf völlig verrückte Weise zustande kommen.

Und wir lassen sie ihre Posten, ihren oft unter vielen persönlichen Opfern hart erarbeiteten Status verlieren, wenn sie dieser künstlichen, von uns völlig entkoppelten Kurzfristigkeit nicht gerecht werden. – Wir sagen dazu oft: „Aber die Fallen doch weich! – Ein Politiker geht dann oft zu einem Wirtschaftsverband. Ein Manager findet leicht wieder eine ähnliche Position, wenn er einmal eine solche hatte.“ – Aber das ist nicht die Innen-Perspektive solcher Menschen. Auch dieses unser Reden über Politiker und Manager ist schlicht eine Grausamkeit. Noch dazu eine, gegen die sich diese Menschen nicht wehren können, die sie nur erdulden können. Der Verlust ist für sie real. Mit der Androhung dieses Verlusts werden sie bei der künstlichen Kurzfristigkeits-Stange gehalten. Empathie für Menschen, denen wir idiotische Formen von Macht übertragen haben und die sich daher uns gegenüber nicht empathisch verhalten können, hat daher etwas Subversives. Es hat ein Potential, von dort aus Institutionen besser zu bauen.

Wir haben also ziemlich dumme Institutionen geschaffen. Institutionen, die uns von unseren eigenen Bedürfnissen entfremden, indem sie uns dazu bringen, dauerhaft nicht auf sie einzugehen. Ja, unsere Bedürfnisse irgendwann nicht einmal mehr wahrzunehmen, weil es uns Menschen zu weh tut, Bedürfnisse dauerhaft wahrzunehmen, auf die nie eingegangen wird. Wir haben Institutionen geschaffen, die uns verrückt machen.

Wollte man es Institutionen-technisch besser machen, müsste man den kurz- wie langfristigen Bedürfnisse betroffener Menschen eine Stimme und dieser Stimme ein Gewicht bei unternehmerischen und staatlichen Entscheidungen verschaffen.

Es kann immer nur um den Einbau von allen gegebenen und absehbaren menschlichen Bedürfnissen in Handlungspläne gehen. Und darin sind wir mit unseren momentanen Institutionen momentan einfach ziemlich schlecht. Wir dienen uns nicht selbst, wir dienen abstrakten Größen, die niemandem dienen. Das ist solange wahr, solange wir Menschen uns mit unseren Bedürfnissen identifizieren. Wir haben Institutionen der Entfremdung von uns selbst geschaffen. Dass dort, auf diese Weise Entscheidunen generiert werden, mit denen wir uns selbst schaden, sollte uns nicht wundern.

Institutionen, die wir mit einem empathischen Blick auf uns selbst (anstatt mit einem moralisierenden) entwerfen und reformieren, sind Institutionen, die es uns leicht machen, auf unsere Bedürfnisse einzugehen. Sie vereinen uns in unserem Handeln sowohl mit unseren Mitmenschen als auch mit uns selbst. Sie ermöglichen innermenschlich wie zwischenmenschlich gute Beziehungen.

Kam die antike Demokratie am Ende doch durch eine „Revolution“ zustande?

Bisher habe ich das Entstehen der Demokratie im antiken Athen ja so dargestellt, dass das alles recht „organisch“ vor sich ging: Auf eine Krise der generellen Instabilität, einem ständigen Schwanken zwischen aristokratischer Anarchie und unterdrückererischer Tyrannis folgten die Solonschen Reformen, auf ein tyrannisches Intermezzo unter Peisistratos und Söhnen, die aber die Politikherausbildung (Inklusion der Bürger in die Politik) anschob, folgten die Kleisthenischen Reformen. Mit diesem letzten institutionellen Reformschritt (wir würden heute von einer „Verfassungsreform“ sprechen) waren die wesentlichen Elemente der späteren Demokratie in Athen bereits gegeben: die bewusste Durchmischung der Bürger aus verschiedenen Regionen und Schichten in der Politik („Phylenreform“), das Prinzip der „Isonomie“ (Gleichwertigkeit aller Bürger in der Politik), die Praxis der „Isegorie“ in der Volksversammlung (jeder Bürger konnte dort sprechen, Anträge einbringen und eben nicht nur abstimmen) und die großflächige Anwendung des demokratischen Losverfahrens zu Besetzung von mehr als 90% aller politischen Ämter. – Die zunehmende Bedeutung der unteren und mittleren Bevölkerungsschichten in der Kriegsführung Athens (sie wurden für den Seekrieg u.a. als Ruderer dringend gebraucht) tat ihr übriges. Die athenische Krieger-Demokratie lebte stark vom Prinzip, dass wer im Krieg wichtig war auch in der Politik nur schwer von der Mitsprache ausgeschlossen bleiben konnte. Die Verlagerung der Kriegsführung weg von rituellen Mann-gegen-Mann-Kämpfen zwischen Aristokraten hin zur „personalintensiveren“ Seekriegsführung war also kein ganz unwichtiges Moment bei der „Demokratisierung“ Athens. – Auf diese Weise kann man in Kurzform den Weg Athens von einer völlig unpolitischen Größe zu einer (mindestens) Prä-Demokratie nachzeichnen.

Als die Alten, die Besten, die Reichsten plötzlich nichts mehr zu bestimmen hatten

Soweit so „organisch“ also. Es gab aber einen weiteren Schritt auf dem Weg Athens zu einer Demokratie, der nicht ganz so superfluffig daherkommt: Die Entmachtung des Areopag, des Ältestenrats. Das war ein traditionell mit vermögenden Aristokraten besetztes Gremium, das zwischen Kleisthenes und Perikles wieder zunehmend an politischer Bedeutung gewann, und zwar unter Führung des damals populären Strategen Kimon. Dieser Aristokrat alter Schule wurde mehrfach von der Volksversammlung gewählt und war die tonangebende Figur nach dem Sieg der Griechen (unter Athener Führung) über die Perser bei Salamis. Kimon war außenpolitisch eng mit Sparta verknüpft und über mehrere Jahre hinweg der Garant dafür, dass der Gegensatz zwischen Athen und Sparta, die vorher noch gemeinsam gegen die Perser gekämpft hatten, nicht aufbrach.

In Kimons kriegsführungsbedingter Abwesenheit in Athen kam es unter der Führung des athenischen Politikers Ephialtes nun zu etwas, das Christian Meier in seiner Darstellung der historischen Ereignisse „eine völlig neue, eine – um es mit einem modernen Wort zu sagen – revolutionäre Ordnung“ nennt. (Christian Meier, Athen, S. 340). Meier betont überzeugend, dass es Vergleichbares wie die Kaltstellung des Ältestenrats in Athen in der damaligen griechischen Welt nicht gegeben hat. Er schreibt: „Vermutlich hat kaum einer von denen, die in Griechenland etwas zu sagen hatte angenommen, dass das gutgehen konnte (auch wenn es auf manche faszinierend wirkte).“ (ebd.)

Ephialtes war mit seinem politischen Plan erfolgreich, Kimon wurde „ostrakisiert“ (auf Zeit verbannt und damit politisch kaltgestellt), der Areopag auf wenige, relativ unpolitische Funktionen beschränkt und seine bisherige politische Macht auf andere, demokratischere Gremien (geloster Rat der 500, Volksversammlung, gelostes Bürgergericht) verteilt. Auch wenn Ephialtes selbst kurz darauf von einem Auftragsmörder getötet wurde, bahnte erst diese institutionelle Veränderung der sogenannten „perikleischen Demokratie“ den Weg. Und in der Forschung wird oft (aber nicht immer) erst ab diesem Zeitpunkt von Athen als einer Demokratie gesprochen.

Evolution rückwärts

Um die Veränderung, die die Entmachtung des Areopag aus Sicht der damaligen Menschen bedeutete, auch nur ansatzweise zu verstehen, muss man sich klar machen, dass Antike und Moderne mehr als nur die nüchterne Zahl der Jahrhunderte trennt. „Veränderung“ und „Geschichte“ bedeuteten damals und heute etwas sehr weitgehend Verschiedenes. Man sieht das sehr deutlich am erstaunlichen „Konservatismus“, der die geschilderten, und durchaus sehr drastischen institutionellen Veränderungen im antiken Athen begleitete: Das geht mit der Reform Solons los, der mit seiner „Eunomia“ „die alte Ordnung“ wiederherstellen wollte. Das ist keine reine Rhetorik. Wir müssen davon ausgehen, dass das auch das Selbstverständnis Solons selbst bei seinen Reformaktivitäten war. Und auch die politischen Intrigen des Ephialtes gegen Areopag wurden aus guten Gründen so vorgetragen, dass der Areopag sich historisch seine politischen Funktionen nachträglich „angemaßt“ habe. (Christian Meier, Athen, S. 342). – Ganz generell kannte die griechische Antike keinen „Modernismus“, keine Verherrlichung des Neuen als Neuen. Gerade die größten Neuerungen mussten als „Wiederherstellung der alten Ordnung“ verstanden werden, sonst wären die Widerstände gegen ihre Einführung viel zu groß geworden. Der normative Imperativ traditionaler Gesellschaften, dass „die Alten zu ehren sind“, war auch für die athenischen Griechen, die sich mit Vollkaracho auf dem Weg in die Demokratie befanden, voll in Kraft.

Wie Gesellschaften das Neue denken, ist tatsächlich sehr unterschiedlich. Und das wir rein psychologisch gesehen das Neue leichter annehmen und zulassen können, wenn wir es für gar so neu nicht halten, das spiegelt sich auch noch in unserem heutigen – mit praller Moderne gefüllten – Begriff der „Revolution“. Denn die „Zurückwälzung“ kündigt ja auch nicht anderes an als eine kraftvolle, manchmal gewaltsame Rückkehr in ein herbeifantasiertes „Goldenes Zeitalter, als die Dinge noch vollkommen in Ordnung waren“.

Die Frage ist also: War die Entmachtung des Areopag im antiken Athen eine „Revolution“ im heutigen, post-1789er Sinne? War sie wirklich so ein radikaler verfassungsmäßiger Schritt, der aus den politischen Reformschritten von Solon, über Kleisthenes bis Themistokles herausragt und jenes „organische“ Prinzip der Veränderung überschreitet, die die Entwicklung hin zu Demokratie bis dahin gekennzeichnet hatte?

Wann ist eine Revolution eine Revolution?

Wir können wie so oft auch wikipedia bemühen. Dort wird „Revolution“ derzeit folgendermaßen definiert:

„Heute ist mit Revolution meist eine politische Revolution „von unten“ gemeint: eine meist durch militante Mittel, seltener auf friedlichem Wege erzwungene grundlegende Änderung einer bestehenden staatlichen Ordnung. Das Ziel ist die Einführung eines neuen politischen Systems (siehe auch Staatsform) und/oder ein Austausch der Machthaber (Inhaber der Staatsgewalt).

Der Wandel vollzieht sich außerhalb der vorgesehenen Rechtsformen des alten Systems, d. h. nach dessen Definition illegal. Er kann von zahlenmäßig relativ kleinen Gruppen ausgehen, das Gelingen einer Revolution ist jedoch meist von einer breiten Zustimmung der Bevölkerung abhängig. Die Bevölkerung kann ihre Zustimmung auf vielfältige Weise bezeugen (MassendemonstrationenGeneralstreikBoykottSabotageGewaltanwendung) und nach dem Umsturz die neue Herrschaft durch WahlenVolksabstimmungenVolksentscheide legitimieren.

Ein erfolgloser, das heißt niedergeschlagener Revolutionsversuch wird manchmal auch als Revolte oder Aufstand bezeichnet.“  (Quelle: Wiki)

Von dort aus kann man eine „Revolutions-Checkliste“ erstellen und anhand dieser Liste den Vorgang der Entmachtung des Areopags hinsichtlich seines „revolutionären“ Charakters messen:

„Von unten“: Das trifft so halb zu. Möglicherweise müsste man also von einer „Palastrevolution“ sprechen. Denn es gibt zwar das durch die Seekriegsführung erstarkte Selbstbewusstsein der „Theten“ (der vom Vermögen und Ansehen untersten Schicht der Athener Bürger. Sie waren im Gegensatz zu den bereits politisch einigermaßen gut integrierten „Mittelschicht“ eher Stadtbewohner). Aber mit Ephialtes ist historisch zumindest ein Akteur gut sichtbar, der selbst eindeutig der Adelsklasse zuzuordnen ist, wenn auch keiner der reicheren und angeseheneren Athener Familien. Ephialtes wird von Historikern daher (ähnlich wie z.B. Kleisthenes) bei seinem Vorantreiben der Demokratisierung ein Eigeninteresse unterstellt. Also nicht unbedingt „demokratischer Idealismus“, bei dem die Bewegung von Unterschichten ausgeht und bei dem sich dann großkopferte Oberchichtlinge an deren Spitze setzen. Die Frage nach der „Ursache der Aktivität“ bleibt daher unentschieden, bei der wie so oft in der Antike dünnen Quellenlage, die uns zum ungehemmten Spekulieren einlädt.

„Militante Mittel“ / „Illegal aus Sicht des alten Systems“: Davon kann nicht unbedingt die Rede sein. Die Entmachtung des Areopag wurde über  „legitime“ Anträge in der Volksversammlung eingebracht. Und nichts an der „alten Verfassung“ besagte, dass man keinen solchen Antrag einbringen konnte (Christian Meier, Athen, S. 348). Nur war es so, dass bis kurz vor dem Geschehen einfach gar niemand auf die Idee gekommen wäre, so einen Antrag überhaupt einzubringen. Das Undenkbare wird auch nicht offiziell verboten. Bezogen auf die alte Ordnung vollzog sich also durchaus etwas „Gewaltsames“, zumindest Unerhörtes. Nur war die alte Ordnung eben nicht „immun“ oder nicht mehr immun gegen diese Veränderung. Sie hat sie wohl kaum kommen sehen, und als sie dann da war und sich durchsetzte, kaum glauben können. Es war eine Änderung „by surprise“. – Dass mit Kimon ein Repräsentant der alten Ordnung per Scherbengericht „entfernt“ wurde, kann dagegen kaum als „Revolutionsindikation“ gedeutet werden, denn es gab den Ostrakismos ja bereits vorher. Er war von der alten Ordnung also vorgesehen. Nur dass er sich hier eben durchaus mit einer Verfassungsänderung verband. Hätte man Kimon und seine verbündeten Adligen nicht politisch kalt gestellt, wäre die Entmachtung des Areopag wohl kaum gelungen. – Als der Wandel vollzogen wurde, war er schon nach kurzer Zeit „normal“. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Veränderung wohl doch sehr natürlich und ungewaltsam war. Nur war diese Verschiebung der Machtverhältnisse weitgehend unbewusst geblieben, bevor sie sich in der Entmachtung des Areopag Bahn brach. Die Theten waren schon vorher wichtiger geworden. Nun, bei der Abstimmung in der Volksversammlung, führten sie mit eine Verfassungsänderung ein, die die politische Bedeutung des Adels in Athen dauerhaft schmälerte und die Gewichte institutionell von Aristokratie hin zur Demokratie verschob.

„Grundlegende Veränderung der staatlichen Ordnung“: Auch in diesem Punkt kommt es auf die Perspektive an, die man einnimmt. Dass sich aus Sicht der Griechen selbst eine entscheidende Veränderung, eine Verfassungsänderung eingestellt hatte, kann man vielleicht daran ablesen, dass im gleichen Zeitraum erstmals der Begriff der „Demokratie“ gebraucht worden sein dürfte (Christian Meier, Athen, S. 343). Davor ist in den damaligen politischen Begriffen lediglich von „Isonomie“ die Rede. Und soweit neue politische Begriffe ein Indikator für grundlegende Veränderungen sind, war das hier dann wohl der Fall. – Aber auch hier herrscht Ambivalenz. Auch in diesem Punkt kann man leicht die gegenteilige Perspektive einnehmen: Im Begriff der Isonomie waren die „gleichen politischen Rechte“ aller Bürger bereits angelegt. Er ist daher möglicherweise demokratischer als der Begriff der Demokratie selbst. Nur hatte man lange Zeit geduldet, dass dennoch weiterhin der Adel wie gehabt entscheidend die Regierungsgeschäfte prägte. Und bei dieser Einflusssicherung für die Aristokratie hatte der nicht-öffentlich beratenden Areopag eine zentrale Rolle. – Auch dass die Volksversammlung offen dafür war, Grundlegendes in Frage zu stellen, war nicht neu, sondern bereits vorher dagewesen. Man sieht das z.B. an der von Themistokles vor der Volksversammlung durchgesetzten Entscheidung, Athen angesichts der Bedrohung durch die Perser komplett auf die Schiffe zu verlagern. Ebenfalls ein damals absolut unerhörter, vor seinem faktischen Eintritt undenkbarer politischer Vorgang. – Wenn also die Entmachtung des Areopag eine „Revolution“ war, so muss man sagen, dass Revolutionen in der Verfassung, die da „revolutioniert“ wurde, durchaus intern vorgesehen waren. Oder dass es bereits vorher eine Verfassung war, die für ganz legale Revolutionen offen war. Nüchterner ausgedrückt hatte man eine politische Verfassung geschaffen, die Verfassungsänderungen (vergleichsweise) leicht machte und nicht künstlich erschwerte. Man hatte offenbar keine grundlegenden Ängste vor Verfassungsänderungen, sondern traute sich selbst zu, diese regelmäßig sinnvoll zu gestalten. Man war ja auch – anders als heute – kaum von der Politik entfremdet. Das macht diese für uns sonst unverständlich bleibende „verfassungsmäßige Sorglosigkeit“ der Athener vielleicht nachvollziehbar. Insofern handelt es sich vielleicht weniger um eine „Revolution der Verfassung“, sondern eher um eine bereits vorher bestehende „Verfassung der Revolutionen“, die nur angesichts dieser einen, konkreten Veränderung als eine solche besonders deutlich vor Augen tritt.

Erfolgreich/Nicht-Erfolgreich: Nur hier können wir mit ziemlicher Eindeutigkeit sagen, dass es sich um einen erfolgreichen Vorgang handelte. Um einen „Aufstand“ oder eine „Revolte“ handelte es sich also sicher nicht.

Aus der Frage „Revolution – ja oder nein?“ gehen wir also mit einem klaren „Jein“ hervor.

Was man dennoch unzweifelhaft über den historischen Vorgang sagen kann, der aus Athen endgültig eine Demokratie machte, fasst Christian Meier wie folgt zusammen:

„So kann man ab 462/1 die Demokratie in Athen, in Griechenland datieren. Sie entstand durch einen negativen Akt, die Entmachtung des Areopags. Aber ihre Voraussetzungen waren längst fertig. Den Grund hatte Kleisthenes gelegt, auf ihm war mit der Zeit ein kräftiges bürgerliches Selbstbewusstsein, auch einige politische Befähigung herangewachsen. „Das Volk“ musst nur von der Autorität des Adelsrats befreit werden, um allein die Herrschaft auszuüben.“ (Chr. Meier, Athen, S. 352)

Warum ist die Frage nach der „Revolution“ auf dem Weg zur Demokratie überhaupt relevant?

Man kann mit einigem Recht nach dem Sinn fragen, den die Frage nach dem revolutionären Aspekt bei der erstmaligen Entstehung einer Demokratie machen soll. Ich selbst habe zwar zuletzt viel mit einer Parallelisierung damaliger und heutiger gesellschaftlicher Vorgänge gespielt. Aber natürlich ist klar, dass die damaligen Ereignisse in einem kleinen, provinziellem Stadtstaat für uns heute nichts bedeuten müssen.

Auch muss ich zugeben, dass ich selbst nicht sonderlich „revolutionär“ veranlagt bin. Für mich ist der Begriff zu sehr assoziiert mit brennenden Häusern, ermordeten und misshandelten Menschen und einer gewalttätigen Elite, die sich an die Stelle einer anderen Elite zu setzen versucht – ohne dass auf der strukturellen Ebene dadurch irgendetwas gewonnen wäre. Für mich haben also „Revolutionen“ selbst immer etwas „Aristokratisches“ an sich.

So betrachtet könnte das Entstehen der attischen Demokratie einem heute fast Mut machen: Als ein Beispiel für eine (weitgehend) friedliche Selbstveränderung, die schon in ihrem Modus, in ihrem Prozess „demokratisch“ war. Und nicht erst in ihrem Ergebnis.

Denn zumindest mich treibt die Frage ziemlich um, ob nicht das mögliche Ergebnis bereits sehr von der Art und Weise seines Zustandekommens beeinflusst wird. Ob also wirklich eine Demokratie entstehen kann, wenn die Wege und Mittel dazu nicht demokratisch sind. Und ich neige ganz allgemein nicht sonderlich zum Moralismus. Und gerade in dieser Frage bin ich ein lupenreiner ethischer Konsequentialist. Ich will eine echte Demokratie in der modernen Gesellschaft erleben, weil mein Eindruck ist, dass eine echte Demokratie genau das ist, was wir heute lebenden Menschen der Moderne dringend brauchen und womit wir zahlreiche ansonsten unlösbar bleibende Probleme wirksam angehen können. Und von daher stellt sich die sehr einfache und pragmatische Frage, wie wir so eine „echte Demokratie“ heute gemeinsam zustande bringen können.

Man mag das für realpolitisch oder machtpolitisch „naiv“ halten. Wobei dem entgegengehalten werden kann, ob das dann wirklich „Politik“ genannt werden kann, wovon wir dabei reden. Ob jene gedachten Widerstände gegen die Entstehung einer Demokratie nicht gerade „vorpolitisch“ oder „unpolitisch“ sind. Und ob nicht ein allgemeines Interesse am Entstehen von Politik denkbar ist.

Man kann aber auch rein denklogisch Fragen stellen wie: „Wenn vorher keine Demokratie war und dann plötzlich Demokratie ist, muss dann nicht die Entscheidung zur Demokratie kategorisch auf undemokratischem Wege zustande gekommen sein?“

Mit Blick auf die konkrete antike Geschichte und die faktischen Schritte, die zur Entstehung von Demokratie geführt haben, erscheint mir das jedoch eher wie ein klassischer Mindfuck. Ähnlich wie eins von Zenons Paradoxen, demzufolge ein schneller Läufer eine langsame Schildkröte niemals einholen kann, wenn er ihr einmal einen Vorsprung eingeräumt hat: Es klingt vollkommen logisch und doch kann jeder wahrnehmen, dass das Gegenteil der Fall ist.

Woran die antike Demokratie gescheitert ist – Teil 3: Undemokratische Exklusivität nach innen

Diese Schwäche der attischen Demokratie ist im Grunde diejenige, die heute am Bekanntesten ist: Dass sie nur in etwa 10% der Gesamtbevölkerung einschloss, was übrigens in unseren heutigen „Demokratien“ nicht viel besser ist. Eher schlechter.

Frauen, Nicht-von-Athenern-Abstammende, Männer unter 30 bzw. unter 18 Jahren, sowie Sklaven waren von der Politik ausgeschlossen.

Weniger bekannt ist vielleicht, dass diese Schwäche der attischen Demokratie mit ihren anderen beiden Schwächen unmittelbar zusammenhängt:

Politische Exklusivität und Beziehungsverkennung

Wie bereits geschildert, konnte sich die attische Demokratie selbst in ihren eigenen Stärken nicht vollständig begreifen. Man entwickelte ein rhetorisches Selbstverständnis.

Auf gewisse Weise war man dem alten Adelsideal einfach noch zu nah: Die attische Demokratie hatte große/kleine (je nachdem wie man hinschaut, es ist ein Vexierbild) Teile der Bevölkerung in die Verantwortung für das Gemeinwesen genommen und so überhaupt „das Politische“ geschaffen, indem sie das in der Gesellschaft vorhandene Adelsideal auch auf sie übertrug.

Das Streben danach „die Besten“ oder „die Ersten“ zu sein, war das, was nun nicht mehr einen verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung beseelte. Sondern dieses Streben griff nun auf 10 -15% der Bevölkerung über: Auf männliche, autochthone Menschen über 30. – Man kann von einer „Demokratie durch Aristokratisierung“ sprechen. Und die Entstehung des Politischen war das Medium dieser Aristokratisierung.

Das bedeutete aber zugleich auch, dass die attische Demokratie überaus homogen blieb. Nicht nur im Vergleich zu unserer heutigen, modernen Gesellschaft. Sondern auch „im Vergleich zu sich selbst“: Sie war im Grunde ein Verbund von raubbeuterischen, kriegsfixierten Männern, die sich durch die Demokratisierung von ihrer bäuerlichen Herkunft und Lebensweise emanzipierten.

Wie wir in Teil 1 dieser Artikelreihe gesehen haben, ist es aber in einer homogenen Gesellschaft kaum nötig und möglich, sich der Beziehungsbande bewusst zu werden, die die Grundlage wirksamer Rhetorik und der politischen Praxis der „Isegorie“ ist, die eine von zwei Kernbestandteilen der attischen Demokratie bildete.

Die zentrale Wichtigkeit guter Beziehungen für die Staatsform Demokratie blieb für die attischen Demokraten selber unsichtbar, weil sie bereits „in Beziehung waren“. Dazu hatten bereits die Solonschen und Kleisthenischen Reformen in Athen beigetragen. Aber mit dem Aristokratie-Ideal im Nacken konnte man nicht auf die Idee kommen, die demokratischen Prinzipien und Verfahren auf die Gesamtbevölkerung auszuweiten. Man blieb ein elitärer Club, weil Demokratie unter aristokratischem Vorzeichen entstand, vom Streben nach „auch-aristokratisch-Sein“ beseelt war.

Es war für die athenischen Männer von entscheidender Wichtigkeit, exklusiv zu bleiben, damit „Demokratie“ für sie Sinn machte.

Im Grunde ist es ein Teufelskreis: Weil man sich ähnlich war, verkannte man die Bedeutung guter Beziehungen für die Demokratie. Weil man die Bedeutung guter Beziehungen für die Demokratie verkannte, blieb man unter sich. Auf diese Weise blieb die Demokratie eine Ähnlichkeits-Geschichte, die das Verschiedene (entgegen ihrem eigenen Selbstbild) nicht in sich aufnehmen konnte.

Denn das war eigentlich das Ideal der attischen Demokratie: „Einheit des Verschiedenen“ sein zu können. Das war ihr Stolz im Gegensatz zu anderen Verfassungen. – Nur dass „das Verschiedene“ in Wahrheit so verschieden eben gar nicht war.

Als mehr Verschiedenheit in die Demokratie hätte eintreten müssen, um ihren Erhalt zu gewährleisten, scheiterte die attische Demokratie daher an diesem Selbstwiderspruch, an diesem blinden Fleck, an dieser Selbstillusion. Ihre politische Bindungskraft blieb gering, weil sie gar nicht darauf ausgerichtet war, integrativer zu sein; weil sie nicht zu den institutionellen Reformen bereit war, die sie befähigt hätten, mehr und verschiedenere Menschen ins Politische aufnehmen zu können.

Es macht daher durchaus Sinn zu sagen, dass die attische Demokratie auch an ihrer demokratischen Exklusivität nach Innen zugrunde gegangen ist.

Politische Exklusivität und begrenzte Reichweite („Außenpolitik“)

Das gleiche Prinzip spiegelt sich auch im „außenpolitischen“ Scheitern der attischen Demokratie.

Es wird zwar immer hochspekulativ und historisch besserwisserisch bleiben, aber es erscheint mit Bezug auf unsere heutige Situation nicht vermessen zu sagen, dass das athenische Verhalten gegenüber den anderen Poleis wohl etwas anders ausgesehen hätte, wenn nicht gerade die Kriegerkaste allein die „Vollbürger“ der attischen Demokratie gebildet hätte.

Nicht nur, dass eine Ausweitung der Demokratie nach innen auch eine Ausweitung der Demokratie nach außen nahegelegt hätte – die eben real nie stattgefunden hat, man blieb eine mit zunehmender Macht zunehmend aggressive Raubbeuter-Macht -, sondern die einseitige Aggressivität und der „Bürgerstolz“ der Athener wäre wohl auch unmittelbar eingedämmt worden, hätten auch die aus der Politik ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen intern, bei der politischen Willensbildung eine aktive und gleich gewichtige Rolle gespielt.

So aber, mit einer Krieger-Demokratie, die aus einem Willen „breiterer Massen“ an Männern hervorging, am aristokratischen Besser-Als-Andere-Sein teilzuhaben, konnte die attische Demokratie keine wirkliche Bindungskraft nach außen entwickeln. Jedenfalls keine, die über eine Angst- und Schreckensherrschaft hinausging. Es war eine Verbindung mit den anderen Stadtstaaten, die in sich zusammenbrach, sobald die Kräfte Athens auch nur ein klein wenig nachließen, sobald Athen nicht mehr in der Lage war, seine Terrorherrschaft über andere griechische Poleis mit erbarmungsloser, lückenloser Konsequenz auszuüben. Wer sich nur auf eigene Stärke verlässt, darf dann eben nie schwach sein.

Nachdem Athen nach der Schlacht von Salamis zur beherrschenden Seemacht geworden war, verhielt man sich im Grunde ähnlich wie die offene Kriegerkultur Spartas, deren politischer Einfluss sich aus dem gleichen Grund niemals weit über die Peloponnes ausdehnen konnte. Man tat zur See das, was Sparta zu Lande tat: Man unterwarf und unterdrückte die anderen Griechen. Doch diese Art von „Politik“ war reichweitenmäßig begrenzt: Die Spartaner konnten sich mit ihrer zahlenmäßig eng begrenzten Kriegerkaste nie lange weit weg von zuhause aufhalten. Sie mussten beständig Aufstände der aus dem Politischen ausgegrenzten Bevölkerungsanteile fürchten. Nur mit äußerster Zucht und Ordnung konnte man die eigene Dominanzstellung eine Zeit lang aufrecht erhalten. Bis eben auch Sparta nach und nach von der politischen Landkarte getilgt wurde.

Spannend wird der athenische „Fehler“ eigentlich nur dadurch, dass man sich im Grunde eines anderen Wegs, einer anderen Möglichkeit bewusst war. Zumindest legt man dem athenischen Demokratie-Verkörperer Perikles Worte in den Mund, die diese Selbst-Abgrenzung gegenüber Sparta bewusst machen: Man ist stolz auf die eigene Verspieltheit, auf die eigene größere Freiheit, auf die „natürlichere“ Entwicklung der athenischen Männer im Vergleich zu der der Spartaner.

Nach meiner Spekulation ist es die selbstverständliche Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung aus der Politik, die die attische Demokratie daran gehindert hat, die naheliegenden institutionellen Konsequenzen aus diesem Selbstverständnis zu ziehen. Man setzte das, was man „eigentlich“ wusste, nicht konsequent um, weil es völlig undenkbar war, auch Frauen, Migranten und Sklaven an der Demokratie zu beteiligen.

Hinter all dem steht wie gesagt immer noch ein aristokratisches Ideal, das bei der Entwicklung Athens zur Demokratie eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ohne dieses Adels-Versprechen an die größere Masse der eingeborenen Männer Athens hätte es die Demokratie wahrscheinlich nie gegeben. Daher konnte die attische Demokratie sich nicht über ihre erreichte Form hinaus entwickeln. Das, was sie zustande brachte, begrenzte sie zugleich in ihrer Entwicklungsfähigkeit. Und das auch dann, als sie auf dem Spiel stand. – Den Schritt zu größerer interner Beteiligung konnte sie von ihren All-zu-Selbstverständlichkeiten her nicht machen. Es hätte „den Sinn der Demokratie“, so wie er sich den in die Politik „eingebürgerten“ Männern darstellte, zunichte gemacht. Es ging der attischen Demokratie von Anfang an darum, „etwas Besonderes zu sein“, etwas „ganz besonders Gutes“. Genauer: „Das Beste Leben“ zu realisieren. Das Aristokratie-Versprechen war der attischen Demokratie so zentral, dass sie es nicht abstreifen konnte.

Das hätte sie aber gemusst, um andere Poleis mit in die eigene Demokratie hinein zu nehmen und aus kriegerischen Außenverhältnissen Politik im engeren Sinne machen zu können. Wäre der athenischen Demokratie dieses politische Kunststück möglich gewesen, wäre etwas völlig neuartiges entstanden: Ein demokratisches Gebilde, das sich über mehrere Poleis hinweg erstreckt hätte. Eine „Mega-Polis“, die nicht mehr örtlich gebunden gewesen wäre, sondern sich über den gesamten Ägäis-Raum bis nach Kleinasien erstreckt hätte. Man hätte sozusagen die Römer vorweggenommen, allerdings durch eine dezidiert demokratische Form von territorialer Staatenbildung.

Ohne diese Möglichkeit blieb Athen aber begrenzt in seinen Möglichkeiten. Es blieb schwach, so stark es innerhalb der griechischen Welt für einen kurzen Moment in der Zeit auch geschienen haben mag, als es im perikleischen Zeitalter alle anderen griechischen Stadtstaaten übertraf und überstrahlte.

Doch Athen musste herausfinden, was es eigentlich „intern“ schon wusste: dass soziale Bindungen, die auf Gewalt beruhen, immer instabil sind. Dass sie nicht zu dauerhafter Ordnung und einem gesunden politischen Organismus führen können. Aus solchen Instabilitäts-Erfahrungen heraus hatte sich auf attischem Boden ja gerade die Demokratie herausgebildet.

Wie gesagt: Dieser äußeren Begrenztheit der attischen Demokratie korrespondiert ihre innere Begrenztheit. Weder konnte sie Augenhöhe zu anderen Poleis zulassen, noch bürgerschaftliche Augenhöhe zu all jenen Menschen in ihrer eigenen Polis, die sie in vollem Bewusstsein und voller Stolz aus dem Politischen ausgrenzte. Es war ein exklusives Politikverständnis, das sich in der antiken Demokratie begründete und in dieser Exklusivität seine Stabilitätsgrenze fand.

Undemokratische Gewalttätigkeit nach außen und undemokratische Gewalttätigkeit nach innen gingen in der antiken Demokratie Hand in Hand. Aus dieser gewaltvollen Handreichung heraus, an ihrem Willen zur Hierarchie ist die attische Demokratie gescheitert. Sie konnte auf diese Weise keinen Bestand haben. Ihr Auflösung war aufgrund ihrer geringen sozialen Bindungskraft nur eine Frage der Zeit.

Antike Demokratie und Demokratie in der Moderne

Eine moderne Demokratie, die die beiden zentralen politischen Institutionen der antiken Demokratie aufgreift und in sich einführt: Das demokratische Losverfahren und die politische Praxis der Isegorie, dürfte deutlich demokratischer werden als es die antike Demokratie jemals war.

Diese überlegene Möglichkeit der modernen Demokratie hat eine ganze Reihe von Gründen:

Willensbildung in gelosten Kleingruppen

Einer dieser Gründe ist rein praktischer Natur: Es haben sich in unserer Gesellschaft bereits politische Praktiken herausgebildet, die die demokratische Willensbildung gezielt in Kleingruppen verlagern. Es wird also nicht „im Plenum“ diskutiert und auch nicht – nach alter aristokratischer Art – in Hinternzimmern ausgeknobelt, was dann „die Volksversammlung“ nur noch absegnen darf, sondern es findet unmittelbar zwischen ganz normalen Bürgern sowohl die Auftragserteilung und auch die wechselseitige Beratung über politische Dinge statt.

Dadurch ist, anders als in der antiken Demokratie, kein Raum für „große Rhetoren“, die die Masse der Bürger lenken und bestimmen. Vielmehr bestimmen und lenken sich die Bürger wechselseitig und wachsen in solchen Prozessen zusammen. Wo vorher nur lauter unverbundene „Ich“ waren, entsteht ganz automatisch ein „Wir“. Es ist der unmittelbare Austausch und die gemeinsam getragene Verantwortung, der ein Verbundenheitsgefühl zwischen den Bürgern entstehen lässt.

Die Quelle der Verbundenheit ist dann nicht, wie im rhetorischen Selbstverständnis der antiken Demokratie, eine von allen Bürgern geteilte Meinung, die prominent von einem großen, populären Redner vertreten wird. Weswegen dann auch der Zweitpopulärste am besten aus dem Gemeinwesen oder aus der Politik verbannt wird, da sonst die Bürgerschaft in ihrem Willen gespalten würde.

Die Bindung der Bürger beruht in den modernen politischen Anwendungen des Losverfahrens vielmehr auf unmittelbarer Beziehung und dem unmittelbaren Erleben von gemeinsamer Arbeit für die gemeinsame Sache. Rhetorik spielt darin keine herausgehobene Rolle. Auch als schüchterner oder rhetorisch völlig unbegabter Mensch spiele ich in gelosten Bürgerräten eine wichtige Rolle.

Moderne Psychologie, modernes Menschenbild

Dieser institutionelle Unterschied hat seine Gründe auch in der veränderten Psychologie der Moderne: Wir haben uns gelöst von einer Psychologie, wie sie typisch ist für aristokratische Kriegergesellschaften. Einer Psychologie, die glauben musste, dass die „Vernunft“ ihre Aufgabe darin hätte, die „Emotionen“ und „Bedürfnisse“ niederzuzwingen, und die Zucht und Disziplin für erstrebenswerte Alltagstugenden hält. Für spartanische Krieger ist das auch völlig zutreffend. Wir brauchen heute nur einfach keine Krieger mehr. Wir haben gar keine Verwendung mehr für sie. Die Kriegergesellschaften, aus denen auch wir kommen, verlieren zunehmend ihre Plausibilität für uns. Damit einher geht ein ganz anderer psychologischer Blick auf uns selbst. Ein Blick, der Empathie nicht mehr für einen potentiell tödlichen Fehler hält, weil Empathieverhalten im Krieg strategische Nachteile bedeutet, sondern der Empathie zu einem wichtigen Erfordernis guter Kooperationsverhältnisse macht.

Daher haben wir heute eine Psychologie, die es als „vernünftig“ einschätzt, mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen in möglichst umfassenden, möglichst wenig „abspaltendem“ Kontakt zu sein. Denn das ist psychologisch gesehen eine gute Voraussetzung dafür, mit Gefühlen und Bedürfnissen unserer Mitbürger in sinnvollen Kontakt treten zu können. Der antike Gegensatz von Altruismus und Egoismus macht in den Kategorien der modernen Psychologie keinen Sinn mehr. Für uns geht es heute vielmehr darum, institutionelle Formen zu finden, die es uns erleichtern, in sinnvolle Beziehungen miteinander zu treten – auf der Grundlage der natürlichen menschlichen Empathiefähigkeit, die immer schon das war, was sinnvolle Handlungskopplung zwischen uns überhaupt ermöglicht hat. Aber das wissen wir eben erst heute.

Politische Inklusivität

Der Inklusivität auf der psychologischen Ebene korrespondiert eine Inklusivität auf der politischen Ebene: Wir empfinden es heute als einen Skandal, dass sich eine Gesellschaft „Demokratie“ nennt, in der ein Großteil der Menschen vom Politischen ausgeschlossen ist. – Auch darin erweist sich die moderne Demokratie der antiken als überlegen. Zumindest von ihrem Anspruch her.

Das Faktum der Weltgesellschaft und das Faktum des Weltbürgertums

Ein weiterer Grund, aus dem uns die Einführung von Losverfahren und gleichem politischen Rederecht für alle anderes bringt als das, was diese Institutionen den antiken griechischen Stadtstaaten gebracht haben, besteht im Faktum der heute bereits vorhandenen Weltgesellschaft. Wir sind heute auf andere, „dichtere“ Weise miteinander verbunden als es die Menschen in der Antike sein konnten.

Während die antike Demokratie keine Chance hatte, sich zu einer weit über die Polis hinausgreifenden Institutionen zu entwickeln, sind die politischen Voraussetzungen heute ganz andere. Ob wir es durch offizielle Institutionen anerkennen oder ob wir dem Faktum unsere Anerkennung verweigern: Es gibt heute bereits ein „Weltbürgertum“ und wir sind alle unweigerlich ein Teil davon. Wir mögen uns an unserer eingeborenen Scholle festhalten, wir mögen die alten politischen Einheiten beschwören: Das alles ändert nichts daran, dass alles, was die einen von uns Menschen heute tun, zugleich den Handlungsspielraum ganz anderer Menschen von uns in der Zukunft erweitert oder einschränkt. Die menschliche Interdependenz auf dem Planeten ist heute absolut. Und sie liegt deutlich erkennbar vor unser aller Augen. Wir sind gar nicht mehr in der Lage unsere Augen vor diesem Faktum universeller wechselseitiger menschlicher Abhängigkeit zu schließen. Daher ist ein demokratischer Weltstaat völlig unausweichlich. Sein Entstehen ist eine reine Frage der Zeit.

Wie wir aber aus unserer Analyse des Scheiterns der antiken Demokratie wissen, ist es gerade diese „Globalität“ der Demokratie, die darüber entscheidet, ob sie sich politisch dauerhaft stabilisieren kann. Und genau dafür stehen die Chancen heute unendlich viel besser als in der Antike.

Philosophische Konsistenz

Momentan leben wir mit der Paradoxie, dass wir zwar einen weitaus demokratischeren Geist und Anspruch haben als die Menschen der Antike, zugleich aber die deutlich undemokratischeren politischen Institutionen. – Für einen Teilzeit-Hegelianer wie mich ist das ein handfester Skandal, auch wenn so ein philosophisches Ärgernis die Allermeisten kaum kümmern wird. Und auch kaum kümmern sollte.

Institutionenethik

Denn die Frage kann heute immer nur sein, was wir bekommen, wenn wir welche Institutionen wählen. Welche Institutionen wir durch unser Engagement in ihnen am Leben erhalten. Und auf welche Art und Weise wir unsere Institutionen verändern.