Die Dynamik von Macht scheint wenig bekannt zu sein. Das ist zumindest der Eindruck, der sich einem aufdrängen kann, wenn man nach der Anzahl der Wortmeldungen geht, die Meinungen vertreten wie:

  • „wir müssen Macht nur anders verteilen“
  • „Macht an sich ist ja nichts schlechtes, es geht nur darum, wie man sie gebraucht“
  • „es gibt ja immer Macht, sie ist ein Faktum unseres Lebens, es kann also nicht darum gehen, ‚Macht abzuschaffen'“
  • „Macht ist die positive Kraft, etwas zu gestalten. Also ich kann darin nichts schlechtes erkennen.“
  • und vieles ähnliches mehr

Diese Verbreitung einer Unkenntnis der Dynamik von Macht ist um so erstaunlicher, als wir davon ausgehen dürfen, dass ausnahmslos jeder Mensch „Macht“ und ihre Auswirkungen bereits am eigenen Leib erlebt hat: Denn jeder von uns „war mal klein“, umgeben von gottgleichen Riesen, die man ehrfürchtig „die Erwachsenen“ nannte. Wesen, die übermächtig waren in ihren Fähigkeiten und Kräften. Wesen, die einen belohnen und strafen konnten. – Und die von diesem Fähigkeiten meist auch extensiven Gebrauch machten.

Insofern kann man die Frage stellen, was wohl diejenigen Menschen, die heute zu solchen Sätzen kommen, wie wir sie oben aufgelistet haben, mit ihren kindlichen Erfahrungen von „Macht“ angestellt haben mögen?

Macht ist ein Beziehungskiller

Macht hat interessante Eigenschaften und noch interessantere Auswirkungen zwischen und auf uns Menschen. Macht zwischen Menschen besteht in der Fähigkeit, andere Menschen mittels Belohnungen und Bestrafungen zu einem Verhalten bewegen zu können, dass diese ansonsten nicht von sich aus gezeigt hätten. Sind die Belohnungen und die Bestrafungen im subjektiven Empfinden der belohnten und bestraften Menschen verlockend bzw. drastisch genug, so ist Macht auch „wirksam“.

Doch die Anwendung von Macht hat ein paar „kleine Nebenfolgen“: Auf die Beziehung zwischen Machtanwender und Machtangewendetem. Auf den Machthabenden. Und auf den Ohnmächtigen.

Die Auswirkungen auf die Beziehung sind leicht benennbar: Sie verunmöglichen „gute Beziehungen“, in folgender technischer Definition: Wechselseitiges Interesse und emotionale Anteilnahme am Wohlergehen/Schlechtergehen des Beziehungspartners.

Macht ist ein Beziehungsblocker, wenn nicht Beziehungskiller.

Wie sich diese Verunmöglichung guter Beziehungen durch Macht im Einzelnen vollzieht, kann man leichter nachvollziehen, wenn dem im Detail nachgeht, was sich auf beiden Seiten einer von Macht geprägten Beziehung abspielt. Wenn man also genauer beschreibt, was Macht jeweils mit dem Ohnmächtigen und mit dem Machthabenden in einer Beziehung macht:

Die Effekte von Macht auf den Ohnmächtigen in einer Beziehung

Der Ohnmächtige in einer von Macht geprägten Beziehung realisiert in der Regel eher früher als später, dass er durch diese Beziehung von sich entfremdet wird:

Er bekommt von außen eine andere Priorität aufgedrückt als die, die er bei sich in seinen Bedürfnissen wiederfindet. Er muss immer wieder eigene Bedürfnisse zurückstellen, entweder, weil die Verfolgung ihrer Befriedigung ihm Schaden einbringt (Strafen), oder weil er durch die Macht-Beziehung in ein mittelbares Verhältnis zu seinen Bedürfnissen versetzt wird und dadurch gezwungen wird, „Umwege“ zu ihrer Befriedigung gehen, die für ihn selbst alles andere als naheliegend sind (Belohnungen).

Insbesondere der Belohnungs-Teil hat Ähnlichkeiten mit einer Struktur, wie sie auch für Suchtverhalten typisch ist: Bedürfnisse werden dauerhaft zurückgestellt, um Belohnungen zu erlangen, auf die sich alle Wahrnehmung und alles eigene Streben fixiert. Es bilden sich Pseudo-Bedürfnisse aus, denen man nachrennt. Die eigentlichen Bedürfnisse treten soweit in den Hintergrund (Ruhe, Essen, Trinken, körperliche Bewegung, sozialer Austausch, etc.), dass sie systematisch vernachlässigt werden. Eine Machtstruktur, die auf Belohnungen beruht, ist daher ein recht sicherer Weg, Körper und Psyche derjenigen Menschen zu ruinieren, die diesem Belohnungssystem unterworfen sind.

Es ist als Ohnmächtiger nahezu unmöglich, sich selbst in einer solchen Beziehung nicht als „manipuliert“ zu erleben. Die Beziehung selbst ist eine Zumutung und wird als demütigend erlebt. Physische wie psychische Gesundheit leiden nachweisbar und messbar bei Menschen, die solchen Beziehungen dauerhaft ausgesetzt sind, ohne sich aus ihnen entfernen zu können (Thema der Beziehungsalternativen).

Neben „Fluchtgedanken“, also neben dem Wunsch oder neben realen Bemühungen, die Beziehung zugunsten besserer Beziehungen zu beenden, bieten sich dem Ohnmächtigen zwei weitere Denk- und Handlungsrichtungen: Einfluss auf den Machthabenden und Aufbau von eigener Macht auf den Machthabenden.

Der Versuch, Einfluss auf den Machthabenden zu nehmen, macht den meisten Menschen in einer ohnmächtigen Position erst die Drastik ihrer Lage mit ganzer Wucht fühlbar: Sie merken, dass bei Machthabenden Menschen kaum Bewusstsein für ihre Situation, kaum Interesse für ihre Gefühle und Bedürfnisse und auch wenig Fähigkeit, sich in sie hineinzuversetzen, vorhanden ist. – Denn „Einfluss“ (im Sinne Thomas Gordon’s) setzt all das voraus. Dabei wird für viele ohnmächtige Menschen auch deutlich wahrnehmbar, dass diese „Mängel“ bei machthabenden Menschen wenig mit „Bosheit“ oder „Sadismus“ zu tun haben, also kaum vorsätzlich sind. Vielmehr wird ihnen in der Regel deutlich, dass es schlicht und einfach die Machtposition selbst ist, die es machthabenden Menschen drastisch erschwert, für Einflussnahme durch ihnen gegenüber ohnmächtige Menschen offen zu sein. Insbesondere Gefühle und Gefühlsäußerungen des Ohnmächtigen werden vom Machthabenden nicht wahrgenommen oder notwendigerweise fehlinterpretiert und nicht verstanden. Es kommt keine „gute Beziehung“ zustande, ohne dass der Ohnmächtige daran etwas ändern könnte. Etwas verkürzt könnte man sagen: Macht macht den Machthabenden (beziehungs-)dumm. – Dass Erleben dieser „Erkenntnis“ ist für die meisten Menschen in Ohnmachts-Positionen eine Alltäglichkeit und daher oft unmittelbar einsichtig. – Ganz im Gegenteil zu Menschen, die sich länger in einer Machtposition befinden und die sich an sie gewöhnt haben. Dass es möglich ist, in einer Beziehung „ohnmächtig“ und in einer anderen Beziehung „machthabend“ zu sein, ist dabei kein „Widerspruch“, sondern ebenfalls völlig alltäglicher und verbreiteter Bestandteil der conditio humana.

Der vergebliche Versuch, in für ihn relevanter Weise beim Machthabenden Gehör zu finden und auf ihn Einfluss zu nehmen, führt den Ohnmächtigen also zurück auf die anderen beiden Denk- und Handlungsalternativen: Flucht (s.o.) oder Machtkampf.

Der Aufbau von eigener Macht aus einer Ohnmachtsposition heraus ist ein eigenes, komplexes Thema. Hegels „Dialektik von Herr und Knecht“ deckt dabei möglicherweise nur einen kleinen Teil der möglichen Dynamiken in einem solchen Machtkampf ab. Letztlich lassen sich aber alle Strategien, die dem Ohnmächtigen zur Verfügung stehen auf die beiden Formen der Machtausübung zurückführen: Den Mächtigen zu bestrafen oder zu belohnen für „den eigenen Bedürfnissen angepasstes Verhalten“. Aufgrund der Machtasymmetrie zwischen den Beziehungspartnern sind dem Ohnmächtigen bei den Strategien der Bestrafung oft sehr schnell Grenzen gesetzt: Zwar listet Thomas Gordon eine breite Bandbreite von Verhaltensweisen auf, die ohnmächtige Menschen einsetzen, um machthabende Menschen in Beziehungen ihren Einsatz von Macht „büßen zu lassen“ (die Hauptstrategie ist innerer Rückzug, Nicht-Teilhaben lassen an bedeutungsvoller Kommunikation und emotionales Austrocknen), aber auf der Ebene des äußeren Verhaltens haben Machthabende in der Regel wenig Hemmungen, mit drastischen Strafen „zurückzuschlagen“. Es liegt in der Machtposition selbst begründet, dass sich hier spät oder gar nicht ein „schlechtes Gewissen“ einstellt, denn Empathie mit dem Ohnmächtigen ist durch die Machtasymmetrie selbst blockiert: Der Machthabende ahnt meist nicht einmal ansatzweise, was er dem Ohnmächtigen gerade antut. Er handelt im Namen „einer wichtigen Ordnung“, „ewiger Gesetze“, „dem Gemeinwesen“, „übergeordneter Prioritäten“, „der Rationalität“ oder im Namen von irgendetwas anderem, das ihn die Beziehungsdynamik aus dem Blick verlieren lässt.

So bleiben dem Ohnmächtigen außer der Flucht v.a. die Taktiken der „Schmeichlerischen Verführung“, der Lüge und der Verschleierung eigener Absichten. Hier hat der Ohnmächtige tatsächlich Vorteile gegenüber dem Machthabenden, da er sich deutlich besser in ihn hineinversetzen kann als umgekehrt, allein schon, weil er sich in einer in den Realitäten der Machtasymmetrie begründeten Sozial-Paranoia darauf fixiert ist, die Verhaltensweisen des Machthabenden sehr genau zu beobachten, um frühzeitig Regungen beim Machthabenden zu erkennen, die für ihn drastische Folgen haben können. Der Machthabende hat umgekehrt wenig Grund, den ihm gegenüber Ohnmächtigen in gleicher Weise zu beobachten. Er ist ihm gegenüber vergleichsweise „achtlos“. Diese Asymmetrie lässt sich vom Ohnmächtigen ausbeuten, so dass er in den genannten Taktiken eine perverse Art von „(Beziehungs-)Klugheit“ zum Einsatz bringen kann (z.B.: Kinder gegenüber Eltern und professionellen „Erziehern“, Mitarbeiter gegenüber Führungskräften, Diener und Sklaven gegenüber ihren „Herren“, im Abnehmen begriffen: Frauen gegenüber Männern).

Dass ihn diese Art von Verhalten „korrumpiert“, ist den meisten Ohnmächtigen voll bewusst und macht einen Teil ihrer Verzweiflung aus. Die einzig effektive Form, auf einen Machthabenden Einfluss zu nehmen, hat zur Folge, dass man selber unfähiger zum Führen guter Beziehungen wird. Die Fähigkeit zu Offenheit gegenüber anderen Menschen reduziert sich. Stattdessen stellt sich ein Gewöhnungseffekt an kognitive Dissonanz ein und damit wiederum Entfremdung von eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Man kann zwar nun eine relevante Größe (die eig. Eltern, „den Chef“, den Beamten, etc.) zu Verhalten bewegen, das einem nützt. Aber man zahlt einen hohen Preis dafür.

Und man muss als Ohnmächtiger in einer Beziehung immer wieder neu realisieren: Bei allem, was einem trotz der bestehenden Machtasymmetrie möglich bleibt zu tun – Man wird keine „gute Beziehung“ erhalten. Siege, auch verkappte Siege, in einem Machtkampf sind nicht das Gleiche wie die gemeinsame Gestaltung einer guten Beziehung, die auf Reziprozität, wechselseitiger Spiegelung des gesamten Gefühlsspektrums beider Beziehungsparnter und emotionaler Anteilnahme an den erfüllten wie an den unerfüllten Bedürfnissen des jeweils Anderen beruhen.

Generell sind Ohnmachts-Positionen in Beziehungen oft an geringere Beziehungsalternativen gekoppelt. D.h.: Der Machthabende hat in der Regel mehr Ausweichmöglichkeiten, um emotional befriedigende, „gute Beziehungen“ im Verhältnis zu anderen Menschen zu finden, als der ohnmächtige. – Zumindest war das in den meisten von Machtasymmetrien geprägten Beziehungen in der Vergangenheit so. Es ist prinzipiell durchaus denkbar, dass es in einer in-sich-ausdifferenzierten Modernen Weltgesellschaft zu anderen Beziehungskonstellationen kommt. Also auch solchen, in denen auch Menschen, die in einer Beziehung von erdrückender Ohnmacht betroffen sind, zahlreiche gute Beziehungsalternativen haben.

Eine solche Konstellation wirft aber „automatisch“ die Frage auf, warum ein Mensch dann in einer solchen Beziehung verbleibt? – Denn wir dürfen voraussetzen, dass Menschen dauerhafte Ohnmachtspositionen in Beziehungen niemals freiwillig aufsuchen, bei allen Vorteilen, die Ohnmachtspositionen aus der Perspektive von Machthabenden haben mögen („Verantwortungslosigkeit“). Die Folgen einer dauerhaften Ohnmachtsposition sind drastisch, sowohl auf physischer wie auf psychischer Ebene. Die Annahme, dass Menschen sie freiwillig einnehmen, ist selbst eine Form desjenigen Empathiemangels, der für Machthabende in ihrem Verhältnis zu Ohnmächtigen typisch ist.

Ohnmacht lässt Menschen verzweifeln. Sie korrumpiert und verformt sie. Und das wird nicht besser dadurch, dass das, was „Macht“ mit machthabenden Menschen macht, wenig bis gar nicht besser ist.

Wenn wir also sagen, dass aus guten Gründen unterstellen dürfen, dass Menschen dauerhafte Ohnmachtspositionen, die sie selbst aus freien Stücken nicht leicht wieder verlassen können, niemals freiwillig einnehmen, so lässt sich diese Aussage ebenfalls aus guten Gründen modifizieren zu:

Wir dürfen davon ausgehen, dass Menschen Beziehungen, die von dauerhafter Machtasymmetrie zwischen den Beziehungspartnern geprägt sind, niemals freiwillig aussuchen – Und das unabhängig davon, was ihre eigene Position in dieser Beziehung ist (Ohnmächtiger/Machthabender).

Wie Thomas Gordon überzeugend ausführt, wählen wir „Macht“ nicht, wenn wir die Wahl haben. Und dies aus jenen zwei guten Gründen:

1.) Macht ist das wirkungsvollste Mittel, uns Menschen gute Beziehungen miteinander unmöglich zu machen.

2.) Gute Beziehungen sind das, was den größten Einfluss auf unser Glückserleben, unsere Lebenszufriedenheit, unsere Gesundheit und unsere Lebensdauer hat.

Die Effekte von Macht auf den Machthabenden in einer Beziehung

Viele Aspekte dessen, was Machtverhältnisse in Beziehungen mit Machthabenden Menschen anstellen und in ihnen auslösen, haben wir bereits im letzten Teil vorweggenommen.

Es ist dennoch wichtig, dem viel Aufmerksamkeit zu schenken, was Macht mit Machthabenden macht, v.a. weil diese „Prozesse“ den meisten machthabenden Menschen völlig unbewusst sind und bleiben. Die Unbewusstheit und „Beziehungsdummheit“ von Machthabenden erstreckt sich nämlich nicht nur auf eine weitgehende Unkenntnis, was emotional in den ohnmächtigen Menschen vor sich geht, die ihren Machtmitteln fortgesetzt ausgesetzt sind, sondern auch auf eine weitgehende Unkenntnis, was in ihnen selbst vor sich geht. Machthabende Menschen können überaus intelligent sein, und sind es häufig auch in vielerlei Hinsicht. Es liegt aber in der Natur von Machtpositionen, dass sie, werden sie über einen längeren Zeitraum eingenommen, die emotionale Intelligenz bei uns Menschen signifikant absenken. – Ich gehe davon aus, dass dieser Effekt auch messbar ist. Die Frage ist nur, wer Interesse an einer solchen Messung haben sollte und welche Beziehungs-Positionen die Messenden selbst einnehmen. Denn die häufigsten Messfehler haben nicht nur mit der Interpretation von Daten zu tun, sondern bereits mit dem Versuchsaufbau und wem wann wie welche Fragen gestellt werden. Kurz: Im „Feld des Sozialen“ herrschen „Beobachtungsparadoxa“ ganz eigener Art, gegen die die Heisenbergsche Unschärferelation in der Physik lachhaft einfach zu begreifen ist.

Machthaben ist im ersten Schritt verbunden mit einem Zugewinn an Verantwortungsbewusstsein und zugleich mit einem Zugewinn an „schlechtem Gewissen“. Die meisten Menschen sorgen sich sehr wohl um diejenigen Menschen, die weniger Macht haben und die im Verhältnis zu ihnen ohnmächtig sind. – Das scheint einen Widerspruch zum hier bisher Gesagten darzustellen. Ist aber deswegen keiner, weil es sich wie gesagt nur um den ersten Schritt eines Hineinwachsens von Menschen in ihre Machtposition darstellt. Die Zahl wirklich „böswilliger“ Menschen, „maligner Narzissten“, wenn man so will, ist verschwindend gering. Es sind nicht irgendwelche „bösen Anlagen“, die „Machtmenschen“ zu einer Plage für ihre ohmächtigen Beziehungspartner machen, sondern die Machtposition selbst, die sie nach und nach verformt, inklusive ihre bevorzugten Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse und Verhaltensweisen.

Die Fürsorge, die viele Menschen zeigen, wenn sie neu in eine Machtposition kommen, ist gekoppelt mit einem Pflichtgefühl, „der eigenen Verantwortung gerecht zu werden“. Wie viele Menschen sehr genau spüren, die mehr als ein paar Tage in einer Machtposition gegenüber anderen Menschen waren, ergibt sich aber schnell ein Gefühl des Versagens und damit des schlechten Gewissens, das nur schwer erträglich ist, da es das eigene positive Selbstbild und das Gefühl moralischer Integrität bedroht.

Dass Macht zudem in der Regel mit Privilegien verbunden ist, verstärkt dieses schlechte Gewissen noch: Wir sind uns als Machthabende sehr wohl bewusst (zu anfangs), dass wir nun Möglichkeiten haben, unsere Bedürfnisse leichter, schneller und umfangreicher zu befriedigen als diejenigen Menschen, die wir nun mittels Belohnungen/Bestrafungen zu bestimmten Verhaltensweisen bewegen.

Schlechtes Gewissen ist in puntkuellen Situationen sicherlich hilfreich: Es kann als ein Innehalten interpretiert werden, mit dem wir für uns abklären, ob unser Tun und Unterlassen anderen Menschen / anderen Lebewesen vielleicht schadet. Ähnlich jedoch wie beim situativ „gemeinten“ Gefühl der Angst, löst der Innenzustand des schlechten Gewissens auf Dauer gestellt jedoch ganz andere, ungute Effekte aus: Wir beginnen das, was den Zustand auslöst zu verleugnen, weil unsere Situation ansonsten emotional schlicht unerträglich für uns würde. Ein punktuelles schlechtes Gewissen ist allseits nützlich und kann durch beherztes Handeln produktiv behoben werden. Ein dauerhaftes schlechtes Gewissen lässt seine Auslöser jedoch ins Unbewusste sinken. – Es kommt nicht von ungefähr, dass die meisten ohnmächtigen Menschen diejenigen Menschen, deren Machtverhalten sie augesetzt sind, als „gewissenlos“ erleben. Der Eindruck, dass der andere sich nicht mehr sorgt, ist keine positionsbedingte Wahrnehmungsillusion der Ohnmächtigen, sondern eine sehr reale Tatsache. Es ist schlichtweg eine menschliche Überforderung, sich dauerhaft scheiternd zu erleben und den Schmerz über dieses Scheitern ebenso dauerhaft im Bewusstsein zu behalten. Auch Machthabende sind nur Menschen und weder Ohnmächtige noch sie selbst können von sich erfolgreich verlangen, dass sie eine gottgleiche Unverletzlichkeit und Unbeschämbarkeit an den Tag legen.

Menschen, die dauerhaft in Machtpositionen geraten, beginnen sich ebenso wie Menschen, die dauerhaft in Ohnmachtspositionen geraten, schon nach wenigen Wochen, wenn nicht Tagen wahrnehmbar zu verändern. – Das betrifft nicht nur den messbaren Testosteron- und Cortisolwert im Blut, sondern auch das Empathieverhalten und vor allem die Deutung sozialer Situationen, v.a. in der Interaktion mit Menschen, die nun im Verhältnis zu ihnen „ohnmächtig“ sind. Das Denken von machthabenden Menschen verändert sich durch die Machtposition.

Die meisten Menschen in Machtpositionen fühlen sich schon nach wenigen Tagen/Wochen von den Gefühlen und Bedürfnissen anderen Menschen belästigt und überfordert. Die logische Folge: Sie schotten sich ab. Da aber ein physischer Rückzug machtpositions-bedingt häufig gar nicht möglich ist („man steht ja in der Verantwortung“), werden die nun vorhandenen Machtmittel nun eingesetzt, um sich emotional abzuschotten. Es ist für jeden machthabenden Menschen ein leichtes, Belohnen und Bestrafen so einzusetzen, dass die Zahl und die emotionale Dringlichkeit von Bedürfnissen, die an ihn herangetragen werden, drastisch abnehmen. Machthabende sind emotional chronisch unterinformiert, was man ihnen als Menschen schlecht ankreiden kann, aber leicht dazu führen kann, den Sinn institutionalisierter Machtpositionen in Frage zu stellen.

Auf der Basis dieser Unterinformiertheit über das, was ihren ohnmächtigen Beziehungspartnern wichtig und dringlich ist, beginnen Machthabende nun „sich zu verhalten“ und „Entscheidungen zu treffen“. Dass die meisten Entscheidungen von Machthabenden in der Wahrnehmung der ihnen ausgesetzten Ohnmächtigen unsinnig sind und bessere Alternativen ungenützt lassen, hat also wenig mit persönlichen Schwächen im Sozialverhalten von Machthabenden zu tun, sondern weitaus mehr mit der emotionalen Mechanik von Machtasymmetrien.

Natürlich kann man, wie das der Systemtheoretiker und Unternehmensberater Gerhard Wohland in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mitarbeitern und Führungskräften einmal gemacht hat, an dieser Stelle einen Appell einbauen: „Mitarbeiter – Lasst Eure Führungskräfte nicht verblöden!“. Dieser Appell übergeht aber, welche Risiken  die Machtasymmetrie den Ohnmächtigen aufbürdet, wenn sie Mächtigen Feedback geben. Nahezu jeder, der schon einmal aus einer Ohnmachtsposition heraus „kritisches Feedback“ gegeben hat, zieht aus dem, was dann als nächstes passiert ist, den Schluss, dass er das wahrscheinlich nicht mehr oft machen wird. Der Appell ist selbst wenig empathisch mit den Ohnmächtigen, der Situation, in der sie sich befinden, und den Erfahrungen, die sie täglich machen.

Machthabende versuchen durchaus oft, den Ohnmächtigen, mit denen sie täglich zu tun haben „zu dienen“ (die Begriffe „Therapeut“ und „Minister“ sollten in ihrer Etymologie allgemein bekannt sein: Beides bedeutet „Diener“ und weist einer Machtposition eine dienende Funktion zu). Allerdings tun sie dies aus schierer Überforderung in weitestgehender Unkenntnis über die Gefühle und Bedürfnisse derer, denen sie da zu dienen versuchen. Dass hieraus trotz bester Absichten auf allen Seiten regelmäßige Ergebnisse herorgehen, die für alle Menschen, die an dieser Beziehungssituation unbefriedigend sind, sollte da eigentlich keinen überraschen.

Die schlechten Ergebnisse werden nun aber von beiden Seiten „interpretiert“. Die verbreitetsten Interpretationsmuster sind: Die Ohnmächtigen halten die Machthabenden abwechselnd für „böswillig“ oder „dumm“ – meistens für beides gleichzeitig. Die Machthabenden ihrerseits halten die Ohnmächtigen wahlweise für „verantwortungslos“ oder „unfähig“ – meistens für beides gleichzeitig. Das Grund-Muster ist jeweils das Gleiche: Es wird am persönlichen Wollen und Können des Beziehungsparnters gezweifelt, weil man selbst mit seinen guten Absichten ja schlecht derjenige sein kann, der für das unbefriedigende Ergebnis in der Beziehung verantwortlich ist. Wechselseitige Schuldzuweisungen eben.

Diese wechselseitigen Schuldzuweisungen wirken sich in Beziehungen, die von stabilen Machtasymmetrien geprägt sind, aber um so fataler aus, als sie sich in den meisten Fällen „im Stillen“, also unausgesprochen vollziehen müssen. – Da Macht immer eine Kommunikationsbarriere zwischen Machthabenden und Ohnmächtigen errichtet, und zwar wirksam in beide Richtungen, werden die personalisierten Fehlinterpretationen kaum aufgeklärt und können sich zu „unhinterfragbaren Wahrheiten“ verfestigen. Wenn sie nicht sogar schnell selbst „Interpretationsframes“ bilden, die ihrerseits bereitstehen, um Situationen schnell einordnen und deuten zu können und so Handlungsfähigkeit herzustellen. Und das auf beiden Seiten der Machtasymmetrie, also bei Machthabenden und Ohnmächtigen gleichermaßen.

So wird es möglich, dass die meisten Menschen heute in einer sozialen Welt leben, in der es für sie ein „objektive Tatsache“ ist, dass die meisten anderen Menschen wahlweise dumm oder bösartig sind, meistens beides zugleich. Ein Eindruck übrigens, der sich in machtfreien Beziehungen und Gesprächen so gut wie nie bestätigt: Dort trifft man nur überaus kompetente und gutwillige Menschen. – Dieser Widerspruch in den eigenen täglichen Erfahrungen könnte einen eigentlich dazu bringen, die Mechanik von Macht zu hinterfragen. Allerdings scheint der „soziale Schmerz“ und die „Verletzungen der eigenen Integrität“ für viele zu groß zu sein, um sich diesen an sich entlastenden Schritt zuzumuten. Wir halten an Frames gerne auch dann  fest, wenn wir uns mit ihrer Hilfe selbst schädigen. Immerhin sind es unsere.

Die emotionale Kontaktsperre, die Machthabende errichten, hat für sie noch eine weitere fatale Folge, die über Fehlwahrnehmungen der Absichten und Bedürfnisse von ihnen gegenüber Ohnmächtigen hinaus geht: Sie erleben selbst wenig emotionale Spiegelung ihrer Innenzustände. „An der Spitze ist es einsam“ mag so nicht unbedingt stimmen – Immerhin ermöglicht „Macht“ nicht selten den Zugang zu vielen neuen und anderen Beziehungspartnern, abseits der Beziehung zu den einem gegenüber Ohnmächtigen: Machtcliquen sind ein steter Begleiter von stabilen Machtasymmetrien. Aber weder in den Beziehungen zu Mit-Mächtigen noch in den Beziehungen zu Ohnmächtigen ist offene Kommunikation über eigene schmerzhafte Gefühle und nicht-befriedigte Bedürfnisse üblich. Selbst die Freude, die man als Machthabender immer wieder empfindet, bleibt oft ungeteilt und damit sozial ungespiegelt. – Wenn wir nun in Rechnung stellen, dass für uns als Menschen nur diejenigen unserer Innenzustände (Gefühle und Bedürfnisse) real sind und real bleiben, die uns von unseren Mitmenschen gespiegelt werden, können wir leicht erkennen, dass die meisten Machthabenden in einer Art emotionalem Vakuum leben, einem Vakuum, das sie innerlich aushöhlt. Die meisten Machthabenden sind in einem Zustand, der nichts weniger als beneidenswert ist.

In der Tat haben viele Machthabende in Verkennung des inneren Geschehens auf Seiten der ihnen gegenüber Ohnmächtigen den Eindruck, diese seien „glücklicher“ als sie selbst – und beneiden sie mehr oder weniger bewusst.

Wir können so feststellen, dass in stabilen Machtasymmetrien Menschen auf beiden Seiten der Asymmetrie dazu neigen, den Zustand auf der jeweils anderen Seite naiv zu romantisieren: Beide glauben, der andere sei bessser dran. Beide haben keine Ahnung davon, was auf der jeweils anderen Seite „innerlich los ist“. Und beide missinterpretieren Gefühls- und Bedürfnisäußerungen der anderen Seite regelmäßig und zuverlässig.

Beziehungen, die von Macht (= Belohnen und Bestrafen) geprägt sind, sind immer in einem erbärmlichen Zustand. Nur die spezifische Art des Leidens unterscheidet sich diesseits und jenseits der Linie, die stabile Machtasymmetrien ziehen.

Aus diesem Nachvollzug emotionaler Dynamiken heraus können wir sagen: Es kann bei der Auflösung des menschlichen Leides, das Machtasymmetrien unvermeidlich hervorrufen, nicht darum gehen, dass dieser oder jene mehr Zugang zu Machtpositionen bekommt. Es kann nur darum gehen, wie wir stabile Machtasymmetrien beseitigen können, wo immer sie bestehen oder sie sich zu bilden beginnen.

Ein paar Ideen für Folgerungen aus der Mechanik von Macht und ihre Auswirkungen auf uns und unsere Beziehungen miteinander

Von hier aus müssen wir die Frage noch einmal neu stellen, die wir am Anfang dieses Artikels haben anklingen lassen: Wie kann es sein, dass es trotz all dem derart viele „Anwälte einer Unschuld von Macht“ gibt? Spricht nicht allein die Tatsache, dass es so viele Menschen gibt, die Machtasymmetrien für harmlos halten, schon dagegen, dass etwas dran sein könnte, an den Beschreibungen, die wir hier von der „Mechanik von Macht“ gegeben haben?

Ich möchte mir hier einmal die Psychologisierungen verkneifen, die ich an dieser Stelle sonst gebrauche, und zu dieser Frage einfach sagen: Ich weiß nicht, was in Menschen vorgeht, die die institutionelle Einrichtung von Positionen für harmlos halten, aus denen heraus manche Menschen andere Menschen regelmäßig belohnen und bestrafen können und müssen. Vielleicht sollte ich sie einfach einmal fragen…

Ich möchte dagegen in aller Klarheit festhalten, dass meine Folgerung aus der hier beschriebenen „Mechanik von Macht“ in eine ganz bestimmte Richtung geht: „Gesellschaftlicher Fortschritt“ kann für mich nur darin bestehen, dass wir gemeinsam neuartige institutionelle Arrangements finden und erfinden, die stabile Machtasymmetrien zwischen uns Menschen unnötig und unmöglich machen.

Denn wenn es zuftrifft, dass „gute Beziehungen“ für uns Menschen der wichtigste aller „Umweltfaktoren“ ist, und wenn weiter zutrifft, dass Macht gute Beziehungen unmöglich macht, dann können wir Machtverhältnisse nicht weiter hinnehmen, egal wie verbreitet, wie üblich und wie notwendig sie uns momentan erscheinen mögen.

Es ist so wahrgenommen keine Kleinigkeit, dass in unserer derzeitigen Gesellschaft Lehrer Schüler „benoten“ müssen, dass es „Führungskräfte mit Weisungsbefugnis“ gibt, Performance Reviews und Unternehmen von anonymen, desinteressierten Investoren bewertet, gekauft und verkauft werden dürfen. Es ist ebenalls keine vernachlässigenswerte Kleinigkeit, dass der Besitz zwischen uns Menschen derzeit lokal wie weltweit derart ungleich verteilt ist und dass Menschen, die unproportional mehr besitzen als die Mehrheit, einen unproportional großen Einfluss auf unsere politischen Prozesse und Entscheidungen haben, während Menschen mit vernachlässigenswerten Besitzständen politisch weitgehend ignoriert werden.

Macht braucht intelligentere Lösungen und Institutionen, die sie ersetzen. In Fragen der Macht kann es nie darum gehen, dass die „Ohnmächtigen“ die „Machthabenden“ dauerhaft ablösen, wohl aber darum, dass Machtasymmetrien sich nicht personell stabilisieren können und wir Möglichkeiten haben, solchen Verfestigungen von Macht jederzeit leicht und effektiv entgegenzutreten, einzeln und gemeinsam, wo auch immer sie sich gerade ergeben mögen.

Darüber, dass die Ohnmächtigen auch nicht besser oder schlechter wären als die Machthabenden, wenn sie einmal in Machtpositionen kämen, darüber besteht wenig Zweifel. Schlüsse hat man daraus aber bisher nur soweit gezogen, dass man ein sehr begrenztes System von „checks und balances“ errichtet hat – und nebenher das Bestehen von Machtasymmetrien sehr weit als „üblich“, „notwendig“, „unvermeidlich“ und „ja an sich nicht schädlich“ duldete.

Dass Üblichkeit kein Argument ist, ist vielen heute klar.

Dass Macht nicht an sich schädlich ist für uns Menschen und für das, was für uns das Wichtigste ist: Gute Beziehungen – dieser Annahme lässt sich ihre gewohnheitsmäßige Plausibilität nehmen.

Dass stabile Machtasymmetrien nicht notwendig sind, sondern durch andere Institutionen und Entscheidungsformen ersetzt werden können, dass müssten wir uns erst in sozialen Experimenten fortgesetzt beweisen.

Wir werden jedoch niemals überhaupt antreten, solche Experimente anzustellen und uns auf ihre Risiken einzulassen, wenn wir den Eindruck haben, Macht sei harmlos und an sich kein Problem für uns.

Ein interaktions-theoretisches Problembewusstsein beim Thema „Macht“ ist die Voraussetzung dafür, dass solche Sozialexperimente, mit uns selbst als lebenden und riskierten Versuchsteilnehmern, für uns überhaupt Sinn machen. Wir selbst sind es immer, die viel zu gewinnen und viel zu verlieren haben.

Wenn wir Win-Lose-Spiele beenden wollen und stattdessen gemeinsames Gewinnen und gemeinsames Verlieren als die Regel setzen wollen, werden wir Macht als etwas empfinden, dass wir weder uns noch anderen wünschen.

2 Gedanken zu “Die Mechanik der Macht und ihre menschlichen Effekte

  1. Auf ein Neues:

    Eine insgesamt sehr „weibliche“ Theorie. Weil es meist mehrheitlich Frauen sind, die „Beziehungen“ als obersten Wert ansetzen, dem alles andere unterzuordnen sei.

    Für viele gesellschaftlichen Machtpositionen gebe ich dir recht: da ist es wirklich so, dass Machhabende und Machtlose nicht „normal“ (empathisch, auf gleicher Augenhöhe..) miteinander umgehen können. Und es ist oft unangenehm bis nervig, dass das so ist.

    Dass du aber auch Eltern und jegliche Form von Macht meinst, finde ich sehr befremdlich. Es ist im Verhältnis Kind/Eltern nicht gefordert, dass da eine „erwachsene gleichberechtigte Beziehung mit gegenseitiger Einfühlung“ stattfindet. Ja, das anzustreben wäre sogar eine Form von Missbrauch, wie er auch tatsächlich vorkommt (indem etwa eine Mutter ihren Sohn wie einen Partnerersatz ansieht), Die „Manipulation“ nennt man im Allgemeinen Erziehung – und dagegen ist nichts einzuwenden (klar, es gibt gute und schlechte Erziehung, aber darum geht es grade nicht).

    In anderen Fällen erklärt sich die Akzeptanz von Machtverhältnissen schlicht dadurch, dass die jeweiligen Kontexte nicht zum Zweck empathischen Miteinanders existieren, sondern um einen Unternehmenszweck zu erreichen, Profit zu machen bzw. ein Gehalt zu verdienen – oder auch zur Umsetzung politischer Projekte.

    Ich weiß nicht, ob du einmal über längere Zeit Erfahrungen in Gruppen mit der sogenannten „Basisdemokratie“ gemacht hast. Nicht als Coach oder Therapeut, sondern als gleichberechtigtes engagiertes Mitglied, dem die Sache, um die es jeweils geht, sehr wichtig ist. Gewiss sind dir aber die Basics dieser Form der Entscheidungsfindung bekannt: Konsensprinzip etc.

    Ich habe das Jahre lang in mehreren unterschiedlichen Engagement-Feldern miterlebt – und es wurde mir schon bald zur schmerzlichen Bildungsveranstaltung (Learning by doing) zum Thema: Warum es Hierarchien als funktionale (=nicht an bestimmte Personen gebundene, wie früher beim Adel) Machtpositionen gibt – und warum das oft sehr sinnvoll ist.

    Soweit für jetzt.

    1. Kennst Du das Unternehmen Premium Cola, liebe Claudia? – Die arbeiten da seit weit mehr als 10 Jahren mit dem Konsent(nicht: Konsens)-Prinzip: Jeder hat ein Veto-Recht, muss sein Veto dann aber begründen. Scheint super zu funktionieren. Und es ist ein sehr kompetitiver Markt, auf dem sich Premium bewegt.

      Zur Eltern-Kind-Geschichte kann ich nur sagen, dass ich den Eindruck habe, dass Du unter den gleichen Begriffen andere Sachverhalte zu verstehen scheinst als ich. – Mir kommt nämlich die Vorstellung absurd vor, es könne in einer Eltern-Kind-Beziehung ohne wechselseitige Einfühlung abgehen und gut gehen. Das mit „emotionalem Missbrauch“ gleichzusetzen (der mir in verschiedensten Rollen sehr wohl bekannt ist, aus unmittelbarem Erleben), ist ein Missverständnis, das mit dem weitverbreiteten Unverständnis verknüpft ist, was Empathie eigentlich ist – Und was eben nicht.

      Ich kann nur sagen, dass wir unser Kind weitgehend machtfrei durch seinen Alltag begleiten (außer in wenigen, schwachen Momenten, in denen ich z.B. sehr müde oder grade gar nicht auf Zack bin oder alte Muster von mir greifen) und dass rein gar nichts Manipulatives darin liegt. Zumindest nicht in einem negativen, das Kindeswohl schädigenden Sinn, der für viele ja bei „Manipulation“ selbstverständlich zu sein scheint. Womit „positive Manipulation“ gedanklich ausgeschlossen wird. – Wechselseitige Einfühlung, wenn sie so gemeint ist, wie ich sie im Artikel nahelege, sorgt nicht dafür, dass das Kind überfordert wird oder ihm gar Verantwortung für die Gefühle des Erwachsenen rübergeschoben wird (und sich Eltern- und Kind-Rollen dadurch verkehren) sondern sie sorgen für Klarheit und Offenlegung für das Kind, woher elterliche Impulse und „Ansagen“ kommen und worum es uns gerade eigentlich geht. Es bleibt immer klar, dass man als Erwachsener meist (aber eben auch nicht immer, wir sind alle nur Menschen und keine „perfekten Superparents“) andere Möglichkeiten zum Umgang mit seinen Gefühlen und Bedürfnisse hat als Kinder. Zumindest dann, wenn sie noch sehr klein sind. Denn der gewohnte, hierarchische Umgang hält Kinder emotional auch viel länger „klein“ als das eigentlich nötig wäre. Durch machtfreien Umgang lernen Kinder viel schneller, Erwachsene richtig einzuschätzen. Sie lernen auch eigene Impulskontrolle viel leichter, organischer und ohne Kollateralschäden, wie sie bei der Sicht „Macht muss aber doch sein!“ nach meinen Erfahrungen eher die Regel sind als die Ausnahme. Und alle Beteiligten lernen eine viel reichere Gefühls- und Bedürfnissprache. Also: Gefühle und Befindlichkeiten treffend und verständlich für den anderen auszudrücken. Etwas, das sich machtbewährte Kommunikation sparen zu können glaubt. Mit den bekannten Folgen…

      Machtfreiheit in der Eltern-Kind-Beziehung ist aber tatsächlich manchmal ein wenig anstrengend für die Eltern (gerade nach einem harten, langen Arbeitstag). Wann immer man aber doch die Kraft und den Mut dazu in sich findet, funktioniert sie bestens. Ich habe es noch nie bereuen müssen, wann immer mir es selber gelang. Denn die vielen Missinterpretationen und Missverständnisse die sonst in der Eltern-Kind-Kommunikation gang und gäbe sind (und von vielen gar nicht bemerkt werden bzw. für „normal“ gehalten werden), reduzieren sich dadurch extrem. Wir müssen dadurch oft auch eher viel weniger sagen, die Kommunikation wird effizienter, und wir sparen uns die „wie an ein krankes Pferd hinreden“-Aktionen, die man bei vielen anderen Eltern beobachten kann. – Bisher ist unser Sohn (9 J.) ohne Verhaltensauffälligkeiten aus unserem weitgehend machtbefreiten Beziehungsverhalten hervorgegangen. – Mal sehen, was er selber später seinem Therapeuten (oder vielleicht doch uns…?) darüber erzählen wird… 😉

      Empathie ist das Schmiermittel JEGLICHER zwischenmenschlichen Interaktion. Wo es fehlt, ergibt sich schmerzhafte Reibung für alle beteiligten Menschen. Die von Dir genannten Kontexte leiden nach meiner Erfahrung am im Artikel detailliert analysierten Systemeffekt, dass geglaubt wird, man könne keine Unternehmen oder Politik ohne Hierarchie (= Machtasymmetrie) gestalten. – Das ist jedoch ein Mythos, der durch zahlreiche real existierende Unternehmen und Politikformen bereits so oft falsifiziert wurde, dass ich manchmal schon etwas müde werde, darauf noch hinweisen zu müssen.

      Es handelt sich bei „es geht aber nicht ohne Macht“ also um reine Glaubenssätze, die sich selber für „Realität“ oder „Realismus“ erklären. Aber wenn wir wirklich „objektiv“ denken, dann müssten einem jene Falsifikationen eigentlich zu denken geben. Sie sind sehr leicht zu finden, wenn man denn überhaupt danach sucht.

      Aber jene Glaubenssätze, „Hierarchie muss sein“, „Es gibt aber doch immer irgendwie Macht“, etc. pp. verhindern, dass überhaupt gesucht wird. Von Nachdenken, was das für Menschen, Beziehungen, Zusammenleben, Sozialformen, Unternehmen und Politik in systematischer und pragmatischer Hinsicht heißen könnte, ganz zu schweigen…

      Die Probleme, die in solchen Kontexten existieren, werden einfach nicht in Verbindung mit der im Artikel ausformulierten Einsicht gebracht, dass sich gute Beziehungen und Machtgebrauch wechselseitig ausschließen. Insofern ist m.E. der auch von Dir benutzte Satz: „dass die jeweiligen Kontexte nicht zum Zweck empathischen Miteinanders existieren“ Teil des Problems. Eine Sichtweise, in der sie tatsächlich zu genau DIESEM Zweck existieren und zu keinem anderen, wäre imho für uns alle besser und auch gesünder. Der Grund, warum wir diesen Zusammenhang meist lieber ausblenden oder warum wir die Probleme, die durch seine Ausblendung entstehen, bagatellisieren und kleinreden, besteht m.E. darin, dass wir uns nicht vorstellen können, dass es auch ohne Machtgebrauch gehen kann. Es fehlt uns an Fantasie, an Zuversicht und an realen Erfahrungen mit machtfreier Kommunikation. Und wenn man nicht an andere Möglichkeiten glaubt, haust man sich eben im Gegebenen ein. Man redet sich die gegebene Situation schön, weil man glaubt, man müsse sich mit ihr ja abfinden. „Der Fuchs und die Trauben“, das alte Spiel…

      Die sehr konkreten Erfahrungen, die Du gemacht hast und in Deinem Kommentar erwähnst, möchte ich damit natürlich nicht in Abrede stellen. Das wäre ja völlig absurd. Ich möchte aber bezweifeln, dass es sich dabei wirklich um machtfreie und empathische Verhältnisse im von mir beschriebenen Sinne handelte. Denn es gibt ja interessanterweise auch ganz andere Erfahrungen (z.B. ein Projekt, in dem ich seit mehr als 4 Jahren arbeite, ist völlig hierarchiefrei und arbeitet zur allgemeinen Zufriedenheit. Ergebnisse passen. Auftraggeber ist glücklich. Kunden sind glücklich. Kollegen sind glücklich. U.a. deswegen bin ich auch selber derzeit so glücklich und habe so viel Zeit und Kraft, derart viel zu schreiben im Moment). Diese Erfahrungen dürften gar nicht existieren, wenn die Glaubenssätze „Macht muss aber sein“ oder „Macht ist aber immer“ zutreffend wären. Ich kann also ebenfalls nur auf meine Erfahrungen hinweisen: Machtbefreite, empathische Kommunikation ist nicht nur sehr viel wohltuender als Machtgebrauch in der Kommunikation. Sie ist auch viel direkter und effizienter. Sie kommt mit viel weniger nervigem Rumgeeiere aus. Denn sie ist manifestierter Beziehungsmut. Hierarchie in der Kommunikation erlebe ich dagegen als manifestierte Beziehungsangst: Wir wollen uns (oft aus gutem Grund!) vor Verletzungen schützen. Nur geht so halt auch die Kommunikation schief und „es wird kompliziert“.

      Insofern wäre die systematische Frage: Was ganz genau war in Deinen Erfahrungen anders als bei meinen Erfahrungen? Warum ist hier möglich, was dort nicht möglich war? – Um das herauszufinden, sollten wir uns vielleicht wirklich mal länger persönlich treffen. Denn das gemeinsam zu klären wird m.E. rein textlich doch etwas zu aufwändig und schwierig. – Möglicherweise habe ich demnächst einen Auftrag in Berlin. Evtl. kann ich da Zeit einbauen für ein Treffen mit Dir, sofern auch von Dir gewünscht?

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