Ich möchte noch einmal besonders auf einen ganz bestimmten, nicht zu unterschätzenden Vorteil des Vorschlags zur Reform unserer Demokratie hinweisen, der hier und hier skizziert ist:

Diese demokratische Reform bringt uns alle gemeinsam systematisch in eine überaus aktive politische Rolle.

Wir sind es heute gewohnt, dass Parteien für uns das politische Agenda-Setting übernehmen. – Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber ich halte das heute für überflüssig. Und ich fühle mich auch politisch entmündigt und bevormundet durch diese Form der politischen Organisation. Muss ich, müssen wir wirklich erst Mitglieder einer politischen Partei werden, uns dann durch deren organisatorische Hierarchie kämpfen, um mitbestimmen zu können, welche politischen Themen in unserem Gemeinwesen verhandelt werden sollen?

Viele Menschen haben heute dafür einfach nicht die Zeit. Nicht die Ressourcen. Nicht die Lebensumstände. Nicht die gesundheitliche Verfassung. – Das heißt aber nicht, dass diese Menschen nicht von der Politik betroffen wären, die wir in unserem Gemeinwesen demokratisch vereinbaren. Unsere derzeitige politische Ordnung bedeutet vielmehr, dass vielen Menschen eine rein passive Rolle im politischen Geschehen bleibt. Eine Zuschauerdemokratie eben. Das wäre nicht schlimm, wenn es bei der reinen Show, bei der reinen Soap bleiben würde. Leider sind wir aber nicht bloß Zuschauer dieses Schauspiels: Wir sind durchaus mit auf der Bühne. Wir sind derzeit als rein passive Statisten betroffen davon, was auf diese Weise entschieden wird. – Ich erlebe das als politische Entmündigung. Man lässt Politik über sich ergehen. So wie man es ganz ähnlich in großen Konzernen über sich ergehen lässt, „was sich das Management da mal wieder für uns ausgedacht hat.“

Ist es wirklich zu gewagt, wenn man sagt, dass die Idee der Demokratie das ganz sicher nicht gemeint hat, als sie sich in die Bezeichnung „Volkssouveränität“ gefasst hat?

„Souveränität“ ist für viele ein sehr abstrakter Begriff heutzutage. Wesentlich anschaulicher und lebendiger wird er für uns, wenn wir ihn so begreifen: „Alle politische Aktivität geht vom Volke aus.“

Und das bedeutet: Wir brauchen heute keine behäbigen, klobigen, bürokratischen Parteien mehr, um Themen auf die Agenda zu bringen, mit denen wir uns gemeinsam auseinandersetzen müssen, weil sie uns alle betreffen.

Dazu stehen heute viel direktere, elegantere und inklusivere Mittel zur Verfügung als die umständliche „Willensbildung vermittels Parteien“.

Parteien haben wir mal gegründet, weil wir genau das „dem Volk“ eben nicht zugetraut haben: Dass es weiß, worum es sich kümmern muss, damit es sich gut um sich selbst kümmert.

Die Frage ist, ob wir diese Annahme heute wirklich noch teilen. Dass wir parteipolitisch gebundene Berufsparlamentarier brauchen, die uns vor unserer eigenen politischen Souveränität schützen. Die uns davor schützen sollen, dass wir uns politisch mit Dingen beschäftigen, die für uns ja doch gar nicht so wichtig sind. Die uns davor schützen sollen, dass wir der Auseinandersetzung mit Themen ausweichen, mit denen wir uns aber auseinandersetzen müssen, wollen wir langfristig keine Probleme bekommen.

Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert, weiterentwickelt und an einigen Stellen möglicherweise auch fehlentwickelt.

Wir haben technische Möglichkeiten, die vor Jahrzehnten noch nicht einmal vorstellbar waren. Wir haben einen allgemeinen Bildungsgrad erreicht, der in dieser Breite einmalig in der Menschheitsgeschichte sein dürfte. Wir haben einen Vernetztheitsgrad erreicht, der uns miteinander verbunden sein und aufeinander Wechselwirkungen haben lässt. Und das unabhängig davon, ob wir das wollen oder nicht.

Kurz: Wir leben in einer ganz anderen Gesellschaft als in derjenigen, die die Macher unserer Verfassung kannten.

Ist da die Annahme nicht absurd, unsere politischen Institutionen und Verfahren müssten oder könnten auch nur die gleichen bleiben wie vor 70 Jahren?

Wenn wir heute unsere Demokratie noch einmal neu erfinden müssten, würden wir wirklich die politischen Verfahren wählen, die wir heute haben und an die wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir uns manchmal gar nichts mehr anderes vorstellen können?

„Alle Aktivität geht vom Volke aus“. Für mich heißt das heute, dass wir keine extra dafür abgestellten Menschen mehr brauchen, die uns sagen, was uns politisch zu beschäftigen hat und die zu diesem Zweck eine Show abziehen müssen, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken und zu binden.

Diese Art von Politik ist meiner Wahrnehmung nach heutzutage direkt gehend gefährlich und ja: anti-demokratisch geworden. – Es sind nämlich nicht immer die Menschen, denen unsere Situation, unsere Bedürfnisse und Anliegen wirklich etwas bedeuten, die das größte Talent in dieser Form von politischer Aufmerksamkeitserzeugung haben.

Wir drohen gerade unsere demokratische Souveränität an diejenigen Menschen zu verlieren, die besonders begabt in dem sind, was man „politisches Marketing im Zeitalter von social media“ nennen könnte. Wer am meisten Wind, am meisten politische action macht, der macht in unserer derzeitigen politischen Ordnung auch die politische Agenda. Er bindet unsere Aufmerksamkeit und lenkt uns ab von den Themen, die wir selbst diskutiert und entschieden haben wollen, würde man uns die Zeit, die Ruhe und den Austausch geben, den wir dazu bräuchten.

Menschen, die keine parteigebundenen Berufspolitiker sind, die Agenda setzen zu lassen, sie sich direkt austauschen zu lassen, ihnen direkten kommunikativen Zugriff auf Experten und Betroffene zu geben, das ist für mich unter heutigen Bedingungen „Demokratie“.

Einer solchen viel unmittelbareren, direkteren und agileren Demokratie kann man sicher klügere und weniger kluge Formen geben. Ginge es nach mir, dürfte sogar hier, bei einer Verfassungsfrage, viel „Versuch und Irrtum“ sein. Dürften hier Lösungen gewählt werden, die von uns schnell verändert, zurückgenommen oder angepasst werden, wenn wir merken, dass sie uns in der zunächst gewählten Form nicht dienlich sind.

Es ist aber eine ausgemachte Dummheit, um nicht zu sagen: Verdrängung, mit den politischen Institutionen aus purer Ängstlichkeit und Faulheit einfach immer weiter zu machen, obgleich ihr politischer Output derart erbärmlich ist.

Ich persönlich habe keinerlei Verlangen, am eigenen Leib den höchst überflüssigen Umweg über eine autoritäre Diktatur im Zeitalter des Internets erleben zu müssen, nur um herauszufinden, dass unsere derzeitigen demokratischen Institutionen unter veränderten gesellschaftlichen Umständen keinen Bestand mehr haben können. – Wollen wir unsere Demokratie behalten, müssen wir sie weiterentwickeln.

Zeitgemäßer sind aus meiner Sicht heute:

  • Parlamente, die aus Bürgern bestehen, die ausgelost werden. Nicht aus Parteipolitikern, die nach Listen gewählt werden.
  • Parlamentsangehörige, die für viel kürzere Zeit zusammenkommen. Zwei-Drei Monate, in denen sie für Lobbyisten unzugänglich sind.
  • Angehörige der Exekutive, die wir per Direktwahl für ganz bestimmte Ämter wählen. – Gerne von Parteien vorausgewählt und präsentiert. Parteien, die dadurch offiziell zu dem werden, was sie unter der Hand schon heute sind: Karrierenetzwerke für Menschen, die ihre Leben länger als 2-3 Monate dem Dienst an unserem Gemeinwesen widmen wollen. – Was völlig in Ordnung ist, solange unsere politischen Verfahren und Institutionen sicherstellen, dass sie wirklich uns allen gleichermaßen dienen. Und nicht einigen wenigen von uns sehr viel mehr und sehr viel besser als vielen anderen von uns.
  • Vor allem aber heißt es: Dass jene „Kurzzeitparlamente“ ihre Diskussions- und Entscheidungs-Agenda auf Zuruf durch uns alle erhalten. Technisch ist das heute leicht umsetzbar: Eine „Liquid Democracy“, in der für jede der 2-3-monatigen Legislaturperioden die aktuellen Themen eingesammelt werden, die uns politisch gerade wirklich unter den Nägeln brennen.

Alle politische Aktivität geht vom Volke aus: Das wäre heute leicht umsetzbar, wären wir politisch nicht so faul geworden. Faul gemacht worden durch eine reine Zuschauerdemokratie, die uns zu politisch passiven Bürgern gemacht hat, die sich die Show anschauen und bekritteln und bewerten, die die armen Politdarsteller da für uns abziehen müssen.

Das ist der Idee der Demokratie unwürdig. Das ist auch unser unwürdig. Und das ist auch unwürdig für jene Berufspolitiker, die wir solchen merkwürdigen Zwängen aussetzen wie in unserem derzeitigen, völlig verkorksten System mit Parteien und Parteienwahlen.

Folgen wir den Vorschlägen, die in den oben verlinkten Skizzen angedeutet sind, haben wir kein politisches System mehr, in dem wir „unsere Stimme abgeben“ und dadurch für unsere Demokratie weitgehend stumm werden.

Wir werden gehört und genauso wichtig: wir hören andere. Wir schaffen uns im Bürgerparlament selbst einen politischen Raum, in dem wirklich methodisch zugehört werden kann und ein tieferes Verständnis entsteht, aus dem neuartige politische Lösungen hervorgehen können.

Auch das ist in unserem derzeitigen politischen System nicht der Fall. Nicht aus persönlichem oder gar moralischem Versagen von Berufspolitikern, deren Parteien einige von uns gewählt haben. Sondern weil tieferes Zuhören in einem System, das auf parteiliche Frontenbildung, auf Wahlkriegsführung und personelle Konkurrenz setzt, große Nachteile für die eigene politische Karriere und das eigene politische Überleben bringt.

Wollen wir eine friedliche, vernetzte und verbundene Gesellschaft, können wir nicht weiter mit kriegsähnlichen politischen Institutionen Demokratie zu machen versuchen. Wir brauchen heute Dialog, Wechselseitigkeit und politische Anteilnahme, nicht Debatte, Sieg und Niederlage, sowie politisches Sich-Durchsetzen.

All das ist heute nicht mehr zeitgemäß. Es ist heute undemokratisch Und wir entmündigen uns dadurch selbst. Wir machen uns mit unseren eigenen politischen Verfahren mundtot.

Alle politische Aktivität geht von uns selber aus. Minister der Exekutive formen dann nicht „unseren“ politischen Willen, sondern sie empfangen dann den von uns gemeinsam miteinander geformten Willen. Minister tun dann das, was ihr Name ursprünglich ausdrückt: Sie dienen uns.

Erst dann, wenn die politische Aktivität wirklich von uns ausgeht, von uns allen, erst dann können die Minister unserer Exekutive das überhaupt.

Demokratie, das heißt im Prinzip: Selbstbeherrschung des Volkes durch das Volk. Und das bedeutet, dass wir alle neben dem, dass wir Objekt von Politik sind, uns mit absoluter Regelmäßigkeit als aktive Subjekte von Politik erleben müssen. Gibt es dieses Erleben nicht bei ausnahmslos allen von uns, haben wir nach meinem Verständnis keine Demokratie.

Wie gesagt: Ich weiß nicht, wie es Ihnen derzeit damit geht. Aber ich persönlich erlebe das mit unseren derzeitigen politischen Institutionen nicht so. Zu diesem Erleben, souveräner Bürger, Subjekt von Politik zu sein, verhilft mir weder das nichtssagende Kreuz auf einer Parteiliste alle 4-5 Jahre. Noch die rein theoretische Möglichkeit, ich könne ja in eine Partei gehen und mich von der dort herrschenden Lautsprecher-, Intrigen-, Konkurrenz- und Durchsetzungskultur zerfleischen lassen.

Und wenn mir das Kreuz und die theoretische Möglichkeit zum Parteiengagement nicht reicht, dann soll ich halt das Maul halten und mit dem zufrieden sein, was andere für mich gnädigerweise an Gesetzen und Maßnahmen zusammenfabrizieren. Menschen, die mich nicht kennen und die ich nicht kenne. Menschen, die auch keine Menschen wie mich kennen, die in meiner Situation sind; einfach weil sie als Berufspolitiker den meisten Lebensvollzügen entzogen sind. Menschen, die mir nicht zuhören können, weil sie in ihrer Situation eines an die Parteiräson gebundenen Berufspolitikers mit echtem Zuhören persönlich deutlich mehr riskieren würden, als man von einem Menschen erwarten darf.

So schaut es heute aus: Sind wir nicht bereit, uns einer armee-ähnlich organisierten Partei anzuschließen und gegen unsere Mitbürger politische Kriege zu führen, wird uns der aktive Zugang zur Politik verwehrt.

Ganz ehrlich, Leute: Das kann heute nicht mehr der Weisheit letzter Schluss sein, wenn wir über Demokratie reden!