Das hier adressierte Problem finden wir bei Hannah Arendt bereits sehr gut skizziert. Sie spricht in ihren posthum unter dem Titel „Was ist Politik?“ veröffentlichten Aufsätzen von „Multiperspektivität“.

Anders als es die Philosophie bevorzugt, erkennt Politik an, dass „die politische Wahrheit“ nur durch den Beitrag aller in ihrer Besonderheit zustande kommen kann.

Politik nutzt also unsere Verschiedenheit: Unsere verschiedene Lebensführung, Erfahrungen, Neigungen und Haltungen, um sie durch eine Setzung von Gleichwertigkeit und freiem, ungehindertem Austausch über diese Verschiedenheit gezielt zusammen zu führen.

Streng genommen können wir daher sagen, dass überhaupt kein politischer Raum entsteht, wenn Menschen mit ihrer Lebenssituation, Erfahrungen und Sichtweisen im politischen Raum nicht vertreten sind. Menschen, mit denen wir faktisch in einer Gesellschaft zusammen leben. Denn faktisch zusammenleben bedeutet, dass es in unserem „außerpolitischen“ Alltag unzählige wechselseitige Beeinflussungen und Abhängigkeiten gibt:

Was Du tust und lässt, hat eine Wirkung darauf, was ich tun und lassen kann (also welche Handlungsoptionen sich mir überhaupt bieten). Und was ich tun und lasse, hat eine Wirkung darauf, was Du tun und lassen kannst (auf die Handlungsoptionen, die sich Dir bieten).

Wenn trotz dieser allgemeinen menschlichen Interdependenz in einer Gesellschaft manche Menschen mit ihren Besonderheiten im Politischen Raum nicht vorkommen, so bedeutet das nichts anderes als dass eine Gesellschaft über sich selbst politisch „unterinformiert“ ist.

Es kann noch so viel kommuniziert werden, es kann auch noch so viel ÜBER diese Menschen kommuniziert werden, solange nicht ausnahmslos alle Bürger eine exakt gleich gewichtige Stimme im politischen Beratungs- und Entscheidungsprozess über staatliche Maßnahmen und Gesetzesänderungen haben, gibt es eigentlich gar keine „Politik“, zumindest nicht im Arendt’schen Sinne.

Was es dann stattdessen gibt, ist: Herrschaft. Fremdbestimmung. – Beides kann verkappt sein und unter schönen Worten verschleiert, aber „von der Sache her“ gibt es in einer Gesellschaft, die keine aktive Vollinklusion aller Bürger institutionalisiert hat, keinen politischen Raum, keine Agora, kein Forum.

Und „Demokratie“ gibt es in so einer Gesellschaft schon gleich zweimal nicht.

Die Menschen, die derzeit in unserer Gesellschaft keine wirksame politische Stimme haben: Sie fehlen uns allen.

Anders als wir oft denken, haben wir rein gar nichts davon, dass bestimmte Gruppen von der aktiven Politik faktisch ausgeschlossen sind. Politik ist kein Spiel, in dem es um „Gewinnen und Verlieren“ geht, in dem es um die Vergrößerung des eigenen Einfluss auf die allgemeine Gesetzgebung und die staatliche Exekutive geht, auf Kosten des Einflusses anderer Mitbürger.

Wäre dem so, dann könnten wir uns in der Tat daran freuen: Dass wir so vermögend, so studiert, so rhetorisch geübt, so privilegiert sind. Jeder Bürger, der NICHT mitredet, der den Raum des Politischen gar nicht erst betritt, würde unseren Einfluss dann stärken. Um so besser für uns! – „Politik“ wird dann vorgestellt wie eine endliche, materielle Größe. Z.B. wie ein „Kuchen“, der aufgeteilt wird. Da hat dann der eine immer mehr, was der andere weniger hat. Unsere merkwürdigen „Tortendiagramme“ an Wahlabenden könnte man von daher genauso hinterfragen wie das vermeintlich ewige Prinzip der „Parteibildung“.

Aber das ist ein Irrweg. Diese Ansicht ist eine völlige Verkennung des Raum des Politischen, genauso wie eine völlige Verkennung davon, was „Demokratie“ bedeutet.

Wir leben in einer Gesellschaft zusammen. Auf Gedeih und Verderb. Und wenn Menschen, mit denen wir faktisch zusammen leben und mit denen wir über unsere Lebensvollzüge faktisch engstens verbunden sind, in der Politik keine institutionell garantierte Stimme haben, dann ist das zu unser aller Nachteil. Mit jedem Menschen, der nicht teilnimmt, wird der Raum des Politischen für uns alle kleiner. Arendt fasst das sehr klar, indem sie betont, dass in einer Tyrannis nicht nur kein Raum des Politischen besteht, sondern dass auch der Tyrann selbst – entgegen dem Anschein und der heute immer noch verbreiteten Meinung – unfrei ist.

Das Gleiche gilt heute für Menschen, die durch ihr Vermögen oder andere individuelle Größen von unseren Institutionen politisch privilegiert werden. – Auch sie werden durch ihr Privileg und den damit gekoppelten Ausschluss anderer Menschen aus dem politischen Raum unfrei. Auch und vor allem in ihrem Alltag. Derzeit politisch überprivilegierte Menschen brauchen den Raum des Politischen mit seiner gesetzten Gleichheit und Freiheit aller Mitbürger als Mitbürger ganz genauso wie ihn derzeit politisch unterprivilegierte Menschen brauchen. Was auch immer wir für gesellschaftliche Privilegien im außerpolitischen Raum genießen mögen: Im Raum des Politischen, in der Begegnung von Menschen als Bürger, haben Privilegien nichts verloren. Denn politische Privilegien zerstören den Raum des Politischen unweigerlich. Kein Bürger kann mehr und einfacheren Zugang zum Raum des Politischen haben als andere Bürger, ohne dass dieser Raum genau dadurch kollabieren und sich auflösen würde.

Und die ebenso unweigerliche Folge ist: Dadurch werden alle zugleich unfreier. Gleichermaßen unfreier.

Viele unserer heutigen Probleme, politischer wie alltäglicher, sind mittelbare Effekte davon, dass große Teile unserer Mitbürger faktisch von politischem Mitreden und politischem Mitbestimmen ausgeschlossen sind.

Unsere Politik ist unterinformiert. Über unlösbare Probleme dürfen wir uns da nicht wundern. Weder in der Politik, noch in unserem Alltag.

Erst vollständige politische Integration, erst vollständig ausgebildete Demokratie macht ein sinnvolles, effektives und verbindendes Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst möglich.

Und dieses auf Dauer gestellte Gespräch ist, in der Tat, ist die Funktion und der Sinn von Politik.

Und wir sind – wenn ich mich nicht täusche – gerade auf dem Weg dahin. Wir sind noch nicht da. Wir haben mehr eine Art „Prä-Demokratie“ als eine echte Demokratie. Aber es steht uns offen, gemeinsam eine echte Demokratie hervorzubringen. Also eine Gesellschaft, in der der Raum des Politischen wieder eine echte Würde hat. In der politische Mitbestimmung mehr allgemeine Bürgerpflicht als ein Privileg für wenige Einzelne ist, die uns „repräsentieren“ sollen, die das aber bei unserer Vielschichtigkeit und Verschiedenartigkeit gar nicht können.

Unsere derzeitigen politischen Institutionen überfordern also die von uns gewählten Berufspolitiker drastisch. Und sie unterfordern uns selbst, uns alle gemeinsam als Bürger, ebenso drastisch.

Es wird Zeit, dass wir annehmen, dass wir unsere politische Verantwortung gar nicht „wegdelegieren“ können. Dass nur wir für uns sprechen können im Raum des Politischen. Und dass wir daher auch nicht dulden können, dass unsere Mitbürger nicht mitreden und mitentscheiden können oder wollen.

Keiner von ihnen darf unpolitisch bleiben, wenn wir wirklich Politik, wenn wir wirklich Demokratie wollen. Wir brauchen sie alle. Wir brauchen uns alle im Raum der Politik. Als Aktive. Jeder kann etwas zur Politik beitragen. Und daher muss jeder zur Politik beitragen. Seine Lebenserfahrungen, seine Wünsche, seine Perspektiven. Nicht als Teil einer „Partei“. Sondern als er selbst. Als Bürger.