Die gesellschaftliche Form der „Demokratie“ lässt sich durchaus auch philosophisch rechtfertigen.

Allerdings schließt eine solche Rechtfertigung eine philosophische Einsicht in die Grenzen der Philosophie mit ein.

Konkret: Eine Verabschiedung des Gedankens und mehr noch der Sehnsucht, „die ganze Wahrheit“ könne in den Schädel eines einzigen Menschen passen.

Der letzte Philosoph, der ernsthaft den Versuch wagte, dem antiken Wahrheitsbegriff: „Wahrheit ist Vollständigkeit, ist vollständige & zugleich sinnvolle Zusammenführung aller bekannten Wahrheiten“ gerecht zu werden, war Hegel.

Dieser antike Wahrheitsbegriff liegt philosophischen Projekten wie der „Phänomenologie des Geistes“ oder  den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ zugrunde. – Allerdings können wir auch schon bei Hegel eine bemerkenswerte Verschränkung von philosophischer Ambition einerseits und philosophischer Demut andererseits erkennen. Denn wenn wir sehr genau hinschauen, sagt uns Hegel bei all diesen seinen Projekten: „Ich schaue nur zu, wie die Wahrheit sich in all ihren Seiten entfaltet – Ich füge von mir aus nichts hinzu. Genau das ist Philosophie.“

Das heißt auch beim letzten Philosophen mit dem heroischen Ehrgeiz, auch noch unter modernen Bedingungen „die ganze Wahrheit“ zu erfassen, sind überdeutliche Signale zu finden, die besagen: Die Wahrheit zeigt sich mit der Zeit. Und es ist mein Schicksal als Menschenwesen, an irgendeinem kontingenten Zeitpunkt in der Zeit geboren und gestorben zu sein. Die Wahrheit kann sich also auch in meiner Philosophie nie ganz zeigen. Sondern nur insofern, als sie sich „bisher“ entfaltet hat. Hegel zeigt die Ambition, so schlau zu sein wie seine Zeit, aber keinen Deut schlauer. Er sagt nichts darüber, „wie die Geschichte weitergeht“, weil er den philosophischen Standpunkt einnimmt, dass die Philosophie genau darüber nichts zu sagen hat und nichts sagen soll, wenn sie Philosophie bleiben will (eine Haltung, dass dann Marx über Bord geworfen hat und wofür er bemerkenswert viel Beifall bekam). Philosophie, das ist bei Hegel genauso wir vor 2400 Jahren bei Platon und Aristoteles: „Erfassen/Habhaft-Werdung/Rechtfertigung des Seins im sprechenden Denken (λόγος).“

Wir heute lebenden Menschen haben es dabei leicht, Hegel als Gescheiterten zu beschreiben. Denn das Rad der Geschichte drehte sich weiter und somit gibt es heute viel Wissen, dass sich nicht mehr in Hegels Denken und noch nicht einmal mehr mit Hegels „Methoden“ integrieren lässt. – Ich für mein Teil bin ja fest überzeugt, dass das Hegel selber absolut klar war und dass er diese seine Grenze und unsere besser-wisserische Arroganz mit einem Lächeln goutiert hätte. Weil beides: Die Grenze wie unser Besser-Wissen eine völlig selbstverständliche Notwendigkeit ist. Es kann gar nicht anders sein.

Unter den modernen Bedingungen einer inflationären Fülle von Wissbarem und Gewusstem ist „die ganze Wahrheit“ nichts mehr, was sich in einem Menschen ereignen kann.

Sondern nur: Zwischen Menschen.

Und wenn wir den überaus ambitionierten antiken Wahrheitsbegriff aufleben lassen wollen:

Nur unter Einbezug aller Menschen.

Eben dies ist die Idee der Demokratie.

Das Wissen darum, dass sich „die ganze Wahrheit“ nur durch demokratische Verfahren und Institutionen erfassen und ins menschlichen Leben integrieren lässt, ist auch nicht neu. Dieses Wissen wurde und wird immer wieder artikuliert.

Zum Beispiel prominent von Hannah Arendt.

Oder in Christian Meiers Rekonstruktion der Entstehung der Demokratie bei den Griechen.

Oder von den bei Platon so hübsch geschmähten „politischen Sophisten“, die ebenfalls ein philosophisch-politisches Wahrheitskonzept vertraten.

Ein Wahrheitskonzept, für das prägnant der homo-mensura-Satz steht. Um diesen Satz des Protagoras zu verstehen, müssen wir möglicherweise annehmen, dass „die Wahrheit“ eben nichts ist, was sich in einem Menschen ereignet, sondern stets nur zwischen uns Menschen. Und dass wir, um auf „die volle Wahrheit“ zugreifen zu können, tatsächlich uns alle an Beratungs- und Entscheidungsfindungsprozessen aktiv beteiligen müssen.

Also nicht nur als Zuschauer. Und wenn, sehr antik gedacht, doch als reine Zuschauer, so zumindest als sprechende und sich-aussprechende Zuschauer, denen ebenfalls sehr aktiv und wirksam und erkennbar zugehört wird.

Entschieden demokratisch ist die philosophische Annahme, dass „die Wahrheit“ das Fassungsvermögen eines jeden einzelnen Menschen, möge sein IQ auch noch so exorbitant sein und seine Erfahrungen überwältigend, strukturell überschreitet. Dass daher die von Platon so wirkungsvoll vermarktete „Expertenherrschaft“ auf einem verkürzten Wahrheitsbegriff beruht. Oder, wenn man das in dieser Form lieber hören will: „Auf einem Denkfehler“.

„Die Wahrheit“, wenn wir bereit sind, sie „politisch zu denken“, gehört uns allen. Uns allen gleichermaßen. Nur durch unsere Zusammenkunft und unseren unmittelbaren und demokratischen Austausch im Raum des Politischen kommt sie zustande. Oder wird uns zugänglich, wenn uns diese Auffassung eingängiger ist.

Und natürlich ist das kein Widerspruch zu „wissenschaftlichen Fakten“. Kein Widerspruch zum Einfließen-Lassen von Wissen von Menschen, die sich „mit einer Sache“ länger und umfassender beschäftigt haben als andere.

Es ist nur ein Widerspruch dazu, Menschen, die ein Detailwissen haben, die also einen kleinen Teil der Wahrheit besonders gut kennen, einfach eben mal das Lenkrad für die Gesamtgesellschaft in die Hand zu geben und salopp zu sagen: „Ihr wisst ja Bescheid, Ihr macht das schon“.

Demokratisch ist der Standpunkt, dass die Verantwortung für die eigene Wahrheit nicht an andere Menschen abdelegiert werden kann. Das ist der Grund, warum sowohl Demokratie als auch das Konzept der Wahrheit als Vollständigkeit auf die flächendeckende Einführung des demokratischen Losverfahrens angewiesen sind.