Wie sehr Demokratie darin besteht, dass sie alle Bürger in den aktiven politischen Dienst nimmt: Mitzuhören, Mitzusprechen, Mitzuentscheiden – und wie sehr sie darin besteht, ganz bewusst in der Politik ein systemisches Gegengewicht zur privaten Macht des Adels zu schaffen: Das kann man nirgendwo deutlicher sehen als in der attischen Demokratie, wie sie sich ab ca. 450 v. Chr. entwickelte. Denn in nahezu jeder sesshaften Gesellschaft gibt es so einen Adel, der eine dauerhaft beherrschende gesellschaftliche Stellung gewinnt. Es ist eine beherrschende Stellung, die vererbt wird, weil sie sich in überlegenem Reichtum, in exklusiven Beziehungen zu den Adligen in anderen Regionen, in überlegener Bildung und auch in reiner Herrschaftsgewohnheit, im Habitus des Herrschaftsgewohnten verfestigt. All das wird von den Aristokraten einer Gesellschaft an ihre Kinder weitergegeben. Und es ist allem Anschein nach unvermeidlich, dass sich in entwickelten Gesellschaften so eine „Adelsklasse“ herausbildet. Zumindest mir ist keine einzige post-tribale Gesellschaft bekannt, in der es sie nicht gäbe. Und auch wir haben sie heute natürlich, auch wenn wir diese Menschen nicht „Aristokraten“ nennen, weil wir es gewohnt sind, uns selbst eine Geschichte zu erzählen, derzufolge die Aristokratie abgeschafft worden sei und wir bereits in einer Demokratie leben würden.

Um einen Eindruck davon zu geben, was es für eine Gesellschaft heißt, wenn sie sich wirklich demokratisch aufstellt, zitiere ich im Folgenden längere Passagen aus Christian Meiers „Athen“ und kommentiere dort, wo es mir naheliegend erscheint, einen Bezug zu unserer heutigen Situation herzustellen:

„Im Jahre 457 wurde in Athen ein Gesetz erlassen, wonach auch Angehörige der dritten Zensurklasse, der Zeugiten, das oberste Amt, das Archontat, bekleiden durften. Es begünstigte vor allem die weniger gut gestellten unter denen, die seit Kleisthenes im Rat der Fünfhundert sowie in der Volksversammlung den Ausschlag gaben. Damit wurde der Kreis derer, aus denen die Oberbeamten gelost wurden, erheblich erweitert. Der Einfluss des Archontats musste weiter schrumpfen. Die Bedeutung dieser Veränderung lag für die Zeugiten also zumal in ihrer symbolischen Gleichstellung mit den Angehörigen der oberen Klassen.“ (Chr. Meier, Athen, S. 388)

Wir sehen an solchen Vorgängen in der antiken Demokratie vor allem zweierlei: Einmal dass Demokratie ein „ongoing process“ war, dass also Demokratie keine Sache ist, die einmal da ist und einmal nicht, dass Demokratie keine Sache von 0 und 1 ist, sondern dass Demokratie in einem Mehr oder Weniger besteht. Auch als Athen längst eine Demokratie war, gab es noch weiteren Demokratisierungsbedarf. Denn die historische Macht des Adels war noch überpräsent und auch das inner-griechische „Ausland“ beäugte die Vorgänge in Athen sehr kritisch. Bei einer der ersten, einschneidenden Reformen des attischen Staatswesens in Richtung Demokratie (unter Kleisthenes) hatte Sparta „interveniert“ und nur der entschiedene Widerstand der athenischen Bürger hatte verhindert, dass die Entwicklung in Richtung Demokratie damals bereits beendet wurde.

Zum anderen sehen wir den großen Unterschied zu unserer heutigen „Lösung“ des Problems überlegener Macht einiger weniger unter uns: Während wir um den vorsichtigen und zaghaften Ausgleich dieser ökonomischen Macht über Steuern bemüht sind (die es im demokratischen Athen durchaus auch gab, wenn auch in anderer Form), und uns dieser unser Ausgleichsversuch in tausend Widersprüche und Kompromisse zwischen Leistungsprinzip und Bedürfnisprinzip bringt, erschuf die attische Demokratie ein zweites System neben dem Privaten, innerhalb dessen sie Gleichheit der Bürger etablierte. Dadurch konnte der Adel Adel bleiben. Man erwartete von ihm zwar größere ökonomische Beiträge zum Gemeinwesen (so wie es auch vor allen Demokratisierungsentwicklungen gewesen war), aber das blieb auf einer Ebene, wie wir sie heute in etwa aus den USA kennen: Es war eine Frage der Ehre und des Selbstverständnisses, nicht des Rechts. Staatliches Mäzenatentum kann man das nennen.

Während wir also heute zulassen, dass sich ökonomische Macht und hervorragende private Stellung direkt auch in politische Macht und hervorragende politische Stellung im Gemeinwesen ummünzt, schuf die attische Demokratie ein System, in dem politisch gesehen alle gleich waren, während privat die Unterschiedlichkeit bestehen blieb. Das Losverfahren war das zentrale Element dieser Lösung zum Umgang mit ungleicher gesellschaftlicher Macht. Genauer: Gelosten Gremien echte, wirksame staatliche Macht zu übertragen war das, was den Ausgleich brachte. Und man war sehr stolz auf diese Lösung.

Zugleich waren die Aristokraten jener Gesellschaft keineswegs „entmachtet“. Es besteht damit ein gewaltiger Unterschied zu den modernen „Umstürzen“, wie etwa in der französischen oder in den kommunistischen „Revolutionen“ unserer Tage, die nur jeweils eine neue, andere Aristokratenklasse an die Macht gebracht haben. – Worauf wir uns in der Moderne angewöhnt haben so viel einzubilden, ist im Grunde ein sehr traditioneller Vorgang, der in allen Aristokratien immer wieder vorkommt: Dass die einen Aristokraten die anderen von der Herrschaft verdrängen, während für den Rest der Bürger alles Wesentliche gleich bleibt, wenn es nicht sogar noch wesentlich schlimmer wird für sie.

Die Aristokraten wurden in der attischen Demokratie keineswegs „von der Macht getrennt“, sie wurden nur gleichgestellt. Für sie änderte sich also vergleichsweise wenig. Für wen sich deutlich mehr änderte, das waren „die einfachen Bürger“, die bisher nichts mit dem Politischen zu tun gehabt hatten. Demokratie, so können wir an der attischen Entwicklung sehen, besteht nicht darin, dass die einen, die Wenigen kleiner gemacht werden, sondern darin, dass die Vielen auch einen gleichwertigen Zugang zur Macht erhalten und dass dieser Zugang zuverlässig institutionalisiert wird.

Neben den gelosten Gremien gab es auch Wahlämter. Und – wie immer bei Wahlen – waren es auch in Athen die Aristokraten, die diese Ämter (z.B. die „Strategen“) besetzten. Da sich diese Ämter jedoch gegenüber der Volksversammlung und dem Rat der Fünfhundert verantworten mussten (letzterer war gelost aus allen Bürgern), konnten auch diese „ministerialen“ Ämter nicht losgelöst vom Bürgerwillen agieren. Damit war die Adelsmacht quasi „politisch gezähmt“. Der Adel stellte sich in den Dienst des Demos, er verlor seine politisch beherrschende Stellung über ihn, während er ihm im Privaten weiterhin weit überlegen blieb. Er wurde weder enteignet noch gezielt von der Politik ferngehalten. Die Bürger hatten im Politischen jetzt nur eine eigene Sphäre, in der die privaten Machtunterschiede zwischen ihnen keine zusätzlichen politischen Machtunterschiede mehr erzeugten. Die Politik wurde ein Raum des Ausgleichs zur privaten Ungleichheit.

Diese Lösung hat die moderne Gesellschaft bisher sozusagen „verpasst“. Ja, es scheint manchmal, als würde es für sie eine „Denkunmöglichkeit“ darstellen. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass es so etwas überhaupt geben könnte, dass so etwas möglich ist, dass so etwas funktionieren kann. – Genau deswegen ist der Blick zurück auf die antike griechische Demokratie so wichtig: Weil man dort klar erkennt, dass es funktionieren kann, und was es braucht, damit es funktioniert.

„Die Gleichheit der Demokratie verwirklichte sich nicht zuletzt im Rang der Bürger, das heißt im Turnus der Amtsinhabe. Das Volk herrscht, indem die Bürger im Wechsel die Ämter besetzten, heißt es später einmal, und es wird stolz hinzugefügt, dass der Arme mit dem Reichen gleiches Recht habe. Daraus wurden jetzt mehr und mehr Folgerungen gezogen. Wobei man übrigens diesen Wechsel ganz naturgemäß fand, er entsprach dem von Tag und Nacht, Sommer und Winter.“ (Chr. Meier, Athen, ebd.)

Aus heutiger Situation bemerkenswert scheint mir hier: Einmal die Selbstverständlichkeit, die jener ständige Amtswechsel, diese allgemeine Verfügbarkeit für Staatsämter annehmen konnte und die aus heutiger Sicht ja beinahe unglaublich erscheinen kann. Die allgemeine Politisierung der Bürgerschaft wurde sozusagen „zur zweiten Natur“. Dass das möglich ist, ein solches „Natürlichkeitsempfinden“ bei der Wahrnahme politischer Ämter lässt auch für uns heute durchaus hoffen.

Zum anderen stolpert man heute vielleicht über das Wort „stolz“, das zum Ausdruck bringt, dass man sich der Leistung bewusst war, die man mit der Erschaffung und Erhaltung einer Demokratie erbrachte. Von solch einem demokratischen Selbstbewusstsein, von so einem „Stolz auf die Demokratie“ sind wir heute – konsequenterweise – unendlich weit entfernt.

„Dieses Gesetz ist eines der ganz wenigen dieser Zeit, die wir datieren können. Bald nach 461 begann man im großem Stile zudem, Volksbeschlüsse, Abrechnungen, Dokumente verschiedener Art auf Stein zu schreiben und aufzustellen. Zur Demokratie gehörte auch die Möglichkeit, sich umfassend über all das zu orientieren. Irgendwann in diesen Jahren müssen ferner die Gesetze erlassen worden sein, welche die finanziellen Voraussetzungen für eine breitere Teilhabe an der Politik schufen: die Einführung der Diäten für den Rat der Fünfhundert und nach und nach für verschiedene Ämter. (Für die Teilnahme an Volksversammlungen wurden erst gegen Ende des Jahrhunderts Diäten eingeführt.) Die Gelder für all die Zahlungen standen offenbar bereit, Athens Einnahmen waren mit seiner wachsenden Macht gestiegen.“ (Chr. Meier, Athen, ebd.)

Was für eine drastische Veränderung im politischen Verständnis diese institutionelle Veränderung voraussetzt, kann man kaum übertreiben. Man muss sich bewusst machen, dass nur wenige Zeit zuvor in Athen das Denken von Ökonomie und Politik noch genau umgekehrt gelagert gewesen war: Man musste es sich leisten können, sich politisch betätigen zu dürfen. Man musste reich sein. Das war Zugangsbedingung für Politik. Nun für den politischen Verdienst bezahlt oder zumindest entschädigt zu werden, ist eine gerade Verkehrung der bisherigen Verhältnisse, die die Grundlage der Aristokratie gewesen waren. – Offenbar hatte man sehr gut verstanden, was Demokratie braucht, um Demokratie zu sein und Demokratie zu bleiben: Damit sich das private Privileg sich nicht auch noch zusätzlich in eine politisches Privileg ummünzt, muss der ökonomische Nachteil der Vielen im Politischen ausgeglichen werden. Es muss den Vielen ermöglicht werden, es sich leisten zu können, „politisch aktiv zu sein.“

Für unser heutiges, sehr ähnliches Problem, wie denn um himmelswillen alle Bürger zur aktiven Teilnahme an der Politik zu bewegen seien (ein Problem, das etwa David van Reybrouck für das kritischste Problem bei der Einführung von Losverfahren hält), sind viele verschiedene Lösungen denkbar.

Die aus meiner Sicht Vielversprechendste davon ist nicht sehr weit weg von der Lösung, die auch die athenische Demokratie gewählt hat, um allgemeine Beteiligung sicherzustellen. Möglicherweise ist sie – in psychologischer Hinsicht – sogar noch ein wenig wirksamer und menschenfreundlicher.

„Wohl die größte Rolle in diesem Zusammenhang spielte der Richtersold. Nachdem die Gerichtsbarkeit lange bei Beamten und – vermutlich – einem Kreis von Honoratioren gelegen hatte, traten mit der Zeit, wohl seit Mitte der fünfziger Jahre, mehr und mehr Geschworenengerichte in deren Funktion ein. Sie scheinen zunächst vor allem Appellationsinstanzen gewesen zu sein. Mit der wachsenden Bevölkerung, der rapiden Zunahme der Geschäfte, aber auch angesichts neuer Bedürfnisse aus dem Seebund wurden sie mehr und mehr gebraucht.“ (Chr. Meier, Athen, S. 389)

Wir sehen hier das gleiche Prinzip am Werk wie bei der Entwicklung der athenischen Demokratie generell, seit via Solon und Kleisthenes das Prinzip der Isonomie etabliert worden und das Losverfahren überhaupt zum Teil der Verfassung geworden war: Die erweiterte politische Partizipation ging einher mit einem Bedürfnis: Es brauchte die Bürger in der Politik, ansonsten hätte man (= der Adel) ihnen nie mehr Beteiligungskräfte zugestanden. Anfangs brauchte man die Bürger in der Politik, um das Dilemma zwischen Bürgerkrieg und Tyrannei aufzulösen. Politische Stabilität war anders nicht mehr erreichbar gewesen als eben durch „Demokratisierung“. Später brauchte man die Bürger in der Politik, weil man sie in der Armee brauchte, und weil es den Athenern so schien, dass wer im Krieg gebraucht wurde, auch politisch mitreden müsse. Und hier sehen wir nun ein sehr unmittelbares Bedürfnis: Man konnte schlicht der Menge der Gerichtsfälle ohne Volksgerichte nicht mehr bewältigen. Wir würden heute sagen: Es fehlte an genügend juristischen Spezialisten, und wir würden uns sofort an die vermehrte Ausbildung solcher Menschen machen. – Da es aber keine juristischen Spezialisten im heutigen Sinne gab (die Juristerei im heutigen Sinne hat ihr Geburtsdatum erst später, im römischen Recht) und die Bürgerschaft bereits an politisches Engagement gewähnt war, lag der attischen Demokratie diese andere, „demokratischere“ Lösung offenbar näher.

„Diese Geschworenengerichte waren mit Hunderten, vielfach fünfhundert, gelegentlich auch noch mehr Bürgern besetzt. Sie waren zwar alle gleichmäßig aus den zehn Phylen genommen, werden aber vor allem Männer aus der Stadt gewesen sein [und nicht aus dem attischen „Umland“, das auch Teil der Polis Athen war AI]. Die Diäten betrugen zwei Obolen, sie deckten den Lebensunterhalt einer Person pro Tag. Auf die Dauer stellte der Geschworenendienst neben dem militärischen die wichtigste öffentliche Funktion des Durchschnittsbürgers dar.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die Größe der Geschworenengerichtshöfe wie die Losung damit zu tun, dass dort wirklich ein breiter Durchschnitt, quasi die Allgemeinheit der Bürgerschaft vertreten sein sollte. Doch ging es auch um die Heranziehung möglichst vieler Bürger an das öffentliche Leben. Sie konnten sich wichtig fühlen; auch hochmögende Herren musste sich vor ihnen beugen, ihr Mitleid zu gewinnen suchen. Die Herrschaft des Demos drückte sich, wie in den Quellen immer wieder betont wird, nicht zuletzt an dieser Stelle aus.“ (Chr. Meier, Athen, ebd.)

Zum bewussten Akt, eine möglichst repräsentative Allgemeinheit Entscheidungen treffen zu lassen, kann man sagen, dass das das gleiche Motiv ist, das auch uns heute treibt, wenn wir in „Bürgergutachten“, „Bürgerräten“ oder „Zukunftsräten“ vom Losverfahren Gebrauch machen: Es sollen alle vertreten sein. Wobei in unserer heutigen, modernen Gesellschaft sogar noch ein Zusatzgrund hinzu kommt: Anders als in der vergleichsweise homogenen attischen Bürgerschaft haben heutige Bürger ein sehr viel verschiedeneres Leben, sehr viel verschiedener Erfahrungen und sehr viel verschiedenere Situationen, aus denen sie heraus hören, sprechen und entscheiden. Es geht uns heute also nicht nur um performative Befriedigung der Bürger „dabei zu sein“, sondern um die bewusste Einholung der gesellschaftlichen Multiperspektivität in den politischen Raum. In der Annahme, dass dem politischen Raum höchstwahrscheinlich wichtiges entgeht, wenn man anders verfährt, also wenn etwa immer nur Bestimmte oder gar immer nur Dieselben in ihm beraten und entscheiden.

Wir sehen in der letzten Passage bei Meier darüber hinaus auch, dass es bei der Demokratisierung Athens durchaus auch um Machterleben, oder genauer: Machtgleichheitserleben durch die Bürger ging. Es hatte eine symbolische Bedeutung, in der sich die Wertigkeit jedes einzelnen Bürgers ausdrückte, dass die Aristokratie ihr plötzlich in einem Verhältnis (vor Gericht) so entgegentrat, dass man selbst auch einmal ihr gegenüber in einer Machtposition war. Auch wenn sich diese Art von Macht dadurch relativierte, dass man sie eben nicht als Einzelner, als Privater, als Besonderer ausübte, sondern in der Gemeinschaft der Bürger. Und dass eben auch die Adligen selbst Teil dieser Gemeinschaft waren, da sie ja ebenfalls ausgelost werden konnten.

Für das demokratische Bewusstsein muss das eine große Bedeutung gehabt haben. Und es scheint daher nicht wundersam, sondern eher folgerichtig, dass man „in den Quellen“ darauf immer wieder hinweist.

Wir können auch hier nüchtern feststellen, das ein entsprechendes Machterleben der Bürger in unserer heutigen Demokratie bisher fehlt. Und dieses fehlende Demokratieerleben hat möglicherweise keinen ganz kleinen Anteil daran, dass die moderne Demokratie auf ziemlich wackligen Füßen steht und bisher immer wieder in Sinnkrisen gerät: Es fehlt ihr sozusagen der „emotionale Unterboden“. Die Bürger erleben sich heute nicht als Bürger. Sie sind es nur auf dem Papier.

„Der Richtersold spielte aber auch in der Versorgung der Bürger eine nicht zu unterschätzende Rolle. Viele von ihnen waren nun schon seit mehr als 20 Jahren immer wieder als Ruderer für die Polis ausgefahren. Die zivile Arbeit mussten sie darüber vernachlässigen. Kriegsführung und Politik kamen für sie einem Beruf nahe. Die Tätigkeit als Richter ergänzte das und schuf weitere Versorgungsmöglichkeiten, vermutlich zumal für Ältere. Jährlich wurde eine Liste von 6000 Geschworenen aufgestellt [bei ca. 30.000 „Vollbürgern“, AI], aus der die einzelnen Gerichtshöfe genommen wurden.“ (Chr. Meier, Athen, ebd.)

Dieser Aspekt der attischen Demokratie scheint weniger übertragbar auf unsere heutige Gesellschaft, die gesellschaftliche Integration hauptsächlich über sogenannte „Erwerbsarbeit“ herzustellen versucht. Zudem haben wir heute kein Interesse mehr an personalintensiver Kriegsführung, ja möglicherweise kein Interesse mehr an Kriegsführung gegeneinander überhaupt.

Stellen wir aber in Rechnung, dass wir über unsere technische Möglichkeiten heute möglicherweise so etwas wie eine „neue Aufgabe“ nicht nur für einige wenige Menschen, sondern für einen Großteil heute lebender Menschen brauchen, dass also Erwerbsarbeit als gesellschaftlicher Integrationsfaktor ausfällt, kommt durchaus wieder „das Politische“ als allgemeines Betätigungsfeld der Bürger in Frage. Die gemeinsame Aufgabe wäre dann die Arbeit am Gemeinsamen, nicht nur – wie jetzt – allein am Besonderen. Es gäbe dann eine Alternative zu sowohl den „Hobbys“ des Privatlebens, als auch zu den „Aufgaben“ des Berufslebens. Beide Bereiche wären gegenüber der allgemeinen politischen Tätigkeit „privat“. Wir würden unter „Privatleben“ nicht mehr nur unser Leben neben unseren beruflichen Aktivitäten verstehen, sondern auch unser Berufsleben selbst. Weil es dann eben, wie in der attischen Demokratie, eine politische Alternative für alle gäbe.

Dass diese „gemeinsame Aufgabe“ zudem einen starken befriedenden Effekt auf unsere Gesellschaft hätte, ist, nachdem das Gleiche in der antiken Demokratie gerade aus einer starken Kriegsfokussiertheit hervorging, fast schon ein Treppenwitz der Geschichte. Dass das gleiche „Instrument“ (die allgemeine Politisierung der Bürger) unter bestimmten Umständen sowohl der allgemeinen Mobilmachung als auch – unter anderen bestimmten Umständen – der allgemeinen Befriedung menschlicher Gesellschaften dienen kann, war zumindest für mich nicht auf Anhieb nachvollziehbar. Hat man die entscheidenden Unterschiede zwischen antiker, griechischer Gesellschaft und moderner Weltgesellschaft jedoch einmal klar, fällt es nicht mehr schwer zu verstehen, inwiefern sehr ähnliche politische Verfahren und Gewohnheiten zu verschiedenen „Stimmungen“ in der Gesellschaft führen können. Diese Unterschiede sind kurz gesagt: 1.) Der höhere Differenzierungsgrad in der Moderne 2.) Der nach und nach absterbende Maskulismus und der steigende Pazifismus in der Moderne 3.) Das Vorhandensein einer „Weltgesellschaft“, d.h. einer Gesellschaft, die kein menschliches Außen mehr hat und nicht mehr mit einem menschlichen Außen rechnen muss.

„Weiterhin muss, wohl ebenfalls in jener Zeit, da die Bedeutung des Rats so sehr zunahm, dessen Verfassung ausgestaltet worden sein; durch die Einführung des Loses etwa, sodann durch die Bestimmung, dass keiner dem Haus öfter als zweimal im Leben angehören dürfe. So wurde dafür Vorsorge getroffen, dass wirklich ein breiter Querschnitt der Bürgerschaft (und ohnehin Jahr für Jahr andere) die Vorberatung aller Volksbeschlüsse sowie vielerlei Verwaltungsgeschäfte erledigen konnte, Aufgaben, welche ein kleineres Geremium als die Generalversammlung verlangten und aus deren Erledigung möglichst keine Macht in den Händen derer sich sammeln sollte, die damit betraut waren.“ (Chr. Meier, Athen, S. 389 f.)

Dem muss man fast nichts hinzufügen. Denn das entspricht fast exakt der Praxis und den Gründen für diese Praxis, die wir bereits heute übernommen haben, z.B. in den Bürgerversammlungen in Irland, die entsprechende Volksbeschlüsse vorbereitet und vorberaten haben und die ebenfalls die sofortige nochmalige Teilnahme derselben gelosten Bürger bewusst ausschließen. In beiden Fällen geht es um möglichst allgemeine Beteiligung und um die bewusste Diffusion politischer Macht unter den Bürgern. – Also darum, dass – entgegen der bisher herrschenden Ideologie – gerade keine „persönliche politische Verantwortung“ entsteht, weil mit solcher persönlichen Verantwortung auch die Entstehung von persönlicher politischer Macht einhergeht. Und eine Demokratie mit personalisierter politischer Macht nichts anfangen kann. Genauer: Demokratie besteht ja im Unterschied zur Aristokratie geradezu daraus, dass sie die Personalisierung politischer Macht ausschließt. Dazu sind Losverfahren, ständig neu durchmischte Kleingruppen und das Verbot unmittelbar wiederholter Teilnahme wirkungsvolle institutionelle Mittel.

„Auch könnte es sein, dass verschiedene neue Ämter eingerichtet wurden, manche davon zehnfach besetzt, aus jeder Phyle einer; auch dies war im Sinne der Teilhabe möglichst vieler Bürger an der Verwaltung, ohne dass zuviel Macht in ihrer Hand zusammenkommen konnte. Es mag geradezu ein Prinzip gewesen sein, dass breite Beteiligung an Ehren und Aufträgen die Demokratie schmackhaft machen und die Amtsinhaber sich wichtig vorkommen lassen sollte – damit sich Athen besser regieren ließe.“ (Chr. Meier, Athen, S. 390)

Das spricht einen heute durchaus heiklen Punkt an. Ich meine damit nicht die vermeintlich „manipulative“ Absicht hinter der Herstellung allgemeiner Beteiligung, die wir – aus unseren heutigen politischen Gewohnheiten heraus – heute fast schon reflexhaft vermuten. Sondern die Vorstellung, dass hier überflüssige politische Staatsämter geschaffen wurden, damit eben allgemeine Beteiligung, allgemeine Politisierung der Bürgerschaft entstehen konnte.

Denn wir stehen ja zahlenmäßig in unseren heutigen Großgesellschaften vor einem noch viel größeren Problem: Selbst wenn wir geloste Bürgerversammlungen auf allen politischen Ebenen einführen (lokal, regional, national, kontintenal, global), wir sie turnusmäßig, regelmäßig neu besetzen (z.B. 4 x im Jahr) und wir uns die wiederholte Teilnahme an einer Bürgerversammlung auf gleicher politischer Ebene verbieten – ist es rein mathematisch immer noch so, dass keineswegs jeder Bürger fest damit rechnen kann, in seinem Leben mindestens einmal als aktiver Politiker herangezogen zu werden. Rechnerisch können wir dann zwar davon ausgehen, dass jeder von uns mindestens einen Menschen in seinem nahen Umfeld hat, der schon mal „im Staatsdienst als aktiv Mitsprechender, Mitberatender, Mitentscheidender“ war und dass so zumindest eine gewisse politische Unmittelbarkeit in unser aller Leben rückt. Die Politik uns also nicht mehr so fern und fremd erscheint, uns nicht mehr von außen, als „Staat, der uns fremd bleibt“ entgegentritt. – Aber streng demokratisch gesehen ist das dann immer noch ein hochunbefriedigender Zustand, der weit vom allgemeinen Politisierungsgrad der attischen Bürger entfernt ist.

Möglicherweise können Adhoc-Bürgerräte zu ganz bestimmten politischen Themen hier Abhilfe schaffen. Also Bürgerräte, die jene Bürgerkonvente oder Bürgerparlamente ergänzen, die über mehrere Monate hinweg „im Amt sind“ und möglicherweise ihre Hauptaufgabe haben, die weiterhin gewählte politische Exekutive zu kontrollieren und zu entlasten. Vom polnischen Politologen Marcin Gerwin kommt zudem der in meinen Augen sehr smarte Vorschlag, aus Bürgern, die bereits einmal selbst gelost wurden und mit dem Prozess Erfahrung haben, nochmals zu losen, um auf demokratischem Weg Prozesskontrolleure, Prozessoptimierer und Prozessvorbereiter zu gewinnen. Gerwin nennt das hier auf S. 88 f. „Bürgersenat“. Denn die Frage der Kontrolle über die Prozesse des Losens, Versammelns und Beratens schafft ja tatsächlich neue politische Machtfragen: Potentiale für Machtungleichheiten zwischen den Bürgern. Insofern scheint es logisch, auch hier das Losverfahren einzusetzen (und gleichzeitig bewusst die bereits aufgebaute demokratische Kompetenz unter den Bürgern zu nutzen), um zu verhindern, dass es zu neuen, anderen undemokratischen Machtkonzentrationen kommt.

Auch wenn eine solche „wunderbare Ämtervermehrung“ also den Zweck hat, allgemeine politische Beteiligung, wirkliche Demokratie herzustellen, scheint es möglich Aufgaben zu finden, die keine reine „politische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ sind, die von uns also, wenn wir ausgelost werden, als weitgehend sinnlos empfunden werden.

Fängt man an in Richtung einer allgemeinen Demokratisierung des politischen Gemeinwesens zu denken, ergeben sich beinahe von allein sinnvolle neue Staatsämter, die gewinnen anstatt zu verlieren, wenn sie demokratisch, mittels der antiken demokratischen Verfahren des Losens und der Isegorie gehandhabt werden. Es scheint möglich, dass wir auch in der Moderne eine Bevölkerung von glücklich vereinten „Teilzeit-Beamten“ werden können. Die geloste Bürgerversammlung hat auf mehreren Ebenen und in verschiedenen politischen Funktionen ein Riesenpotential, die moderne Gesellschaft zu bereichern und Probleme zu lösen, die uns bislang als „ewig unlösbar“ erschienen sind.