Unsere Gesellschaft braucht Verständnis

Unsere Gesellschaft hat einen fundamentalen Bedarf an Verständnis, der derzeit meist ungedeckt und unbefriedigt bleibt.

Mit „Verständnis“ ist dabei etwas anderes gemeint als schlaues, kognitives Nachvollziehen und Verstehen. Daran gibt’s nämlich in unserer Gesellschaft nur recht wenig Mangel.

Jenes Verständnis, das auf breiter Flur fehlt, ist das gleiche Unverständnis, das auch dazu führt, dass „mit XY reden, bringt ja eh nix“ immer noch großen Anklang und breite Zustimmung findet. – Es scheint auf einer vielfach gemachten Lebenserfahrung zu beruhen. Genauer: Auf einer Erfahrung, die sich selber immer wieder neu bestätigt, und die sich daher selber für „Realismus“ hält.

Solche Arten von „Realismus“, die die Realitäten selber erzeugen, die sie dann wieder nur „aus der Wirklichkeit herausgelesen“ haben wollen (siehe dazu auch: „ich reagiere ja nur“), sind wirklich lustige Geschichten. Und aus solchen Geschichten wieder herauszufinden, das sind ganz eigene Heldenstorys.

Ich darf mich darüber eigentlich gar nicht beklagen. Denn Leute wie ich haben aus diesem weit verbreiteten, systemischen Unverständnis füreinander ein paar gut bezahlte Berufe gemacht, von denen es sich fantastisch leben lässt. Bei mir z.B. verhält sich das so: Aus einer wirklich recht schrägen persönlichen Gemengelage heraus hat sich bei mir „Menschen verstehen“ zu einer meiner persönlichen Superkräfte entwickelt.

Und weil „Verstanden-werden“ eben in unserer Gesellschaft eine künstlich verknappte Ressource ist, kann ich mir das sehr gut bezahlen lassen; auf der Grundlage dieses allgemeinen Mangels kann ich mein erkennbares Verstehen „teuer verkaufen“.

Das ist für meine lieben Kunden durchaus nicht immer nur angenehm, wie sich wahrscheinlich jedermensch vorstellen kann.

Und dennoch – obwohl es eben manchmal auch beängstigend, unangenehm oder verstörend ist – wird diese „Dienstleistung“ immer wieder neu nachgefragt.

Als jemand, der (wie viele andere Menschen auch) „an der Quelle des Bedarfs“ sitzt, kann ich nur sagen: Verstehens-technisch ist in unserer Gesellschaft viel, viel Luft nach oben.

Denn derzeit haben Menschen wie ich viel, viel zu leichtes Spiel.

 

Das ewige Beziehungsgesetz

Das ewige Gesetz aller zwischenmenschlichen Beziehungen ist kein großes Geheimnis, sondern ziemlich bekannt. Im Grunde kennen wir es alle:

„Das, was Du Dir selber antust, das tust Du auch anderen an.“

Wenn wir uns also ständig selber kleiner machen als wir sind, machen wir auch andere Menschen klein. Der Grund: Wir können ihre Größe dann einfach schlecht aushalten.

Wenn wir uns selber ständig für unsere Grenzen, Schwächen und Befindlichkeiten geißeln und malträtieren, dann machen wir das auch mit den Menschen um uns herum. Der Grund: Wir können dann das liebevolle Um-sich-selber-kümmern bei anderen einfach schlecht aushalten.

Wenn wir uns selber ständig zur Ordnung anhalten, dann treiben wir auch unsere lieben Mitmenschen mit unserer Pedanterie in den Wahnsinn. Der Grund: Wir können dann die Spontanität und das Weltvertrauen anderer Menschen einfach schlecht aushalten.

Usw. Usf.

Wer daher andere Menschen gut behandeln will, der kommt leider, leider nicht darum herum, auch mit sich selber halbwegs liebevoll umzugehen. „Liebevolle Strenge“ und so, ihr wisst ja, was ich meine…

Wir wollen Demokratie!

„Ich will Demokratie!“

„Aber wir haben doch schon Demokratie!“

„Ist das so? Dann können also alle von uns schon heute regelmäßig auf unsere Gesetzgebung unmittelbar Einfluss nehmen…? Alle von uns ähnlich stark und ähnlich oft?“

„Äh. Nein. Aber so funktioniert Demokratie ja auch gar nicht…“

„Ach, wirklich? Warum war das dann in der ersten Demokratie der Menschheitsgeschichte so? Also in derjenigen Staatsform, die der Demokratie ihren Namen gegeben hat?“

„Ja, das kann schon sein. Aber unter heutigen Bedingungen ist so etwas eben nicht möglich. Heute haben wir Wahlen. Und dafür können eben auch alle wählen, nicht nur erwachsene, eingeborene Männer über 18, die keine Sklaven sind. Das ist doch viel besser! Viel demokratischer!“

„Und diese Menschen, die heute alle bei uns die Politik mitbestimmen, die können also alle gleichermaßen ihre Stimme erheben und werden alle gleichermaßen gehört?

„Nein. Das ist wie gesagt in einer Großgesellschaft nur schwer möglich. In einem antiken Stadtstaat mit ein paar 10.000 Bürgern mag das angehn. Wir haben dafür eben Repräsentanten. Dadurch sind wir doch alle gut vertreten!“

„Und das garantiert uns allen gleichen, also demokratischen Einfluss auf unsere Politik? – Tut mir leid. Aber für mich sieht das nicht so aus. Für Dich etwa?“

„Stimmt schon. Aber die Demokratie ist eben kein Wunschkonzert. Die am wenigsten schlechte unter den schlechten Staatsformen halt. – Wie sollen wir Demokratie auch anders organisieren?“

„Naja, dazu gibt’s ja durchaus schon ein paar ganz gut entwickelte Ideen! – Wir brauchen ja nicht so zu tun, als sei unsere derzeitige Verfassung der Weisheit letzter Schluss. Und auch nicht so, als ob es nicht bereits seriöse, durchdachte und praktisch erprobte Ideen für demokratische Weiterentwicklungen gäbe, die auf dem Erreichen aufbauen, aber zugleich auch deutlich demokratischer sind als das, was wir bisher haben!

„Ja, aber dann ist da eben immer noch die Sache mit der Großgesellschaft. Wir sind eben einfach viel mehr Menschen als in der Antike!“

„Mir kommt es ja so vor, als bräuchten wir eben darum das demokratische Losverfahren nur um so dringender. Denn interessanterweise, wurde die prägendste und stabilste Demokratie der griechischen Antike ausgerechnet in jenem Stadtstaat erfunden, der unter ihnen der zahlenmäßig und flächenmäßig größte war. – Das deutet für mich darauf hin, dass das, was Du meinst, für die Demokratie gar kein Problem ist. Sondern dass es sich vielmehr genau andersherum verhält. Die Demokratie, mit ihrem Losverfahren, ist eine Antwort auf genau solche Probleme, wie wir sie auch heute wieder haben: Dass die Bürger ab einer bestimmten Staatsgröße kaum noch eine Verbindung untereinander haben. – Überhaupt sehe ich sehr viele Parallelen zwischen der damaligen, vor-demokratischen Situation und unserer heutigen politischen Lage. Einige davon sind ziemlich erschreckend für mich.

„Und Du meinst ernsthaft, durch das Losverfahren kommen die Bürger untereinander hinreichend in Kontakt? Und es entsteht nebenher noch seriöse Politik? Keine Katastrophe durch politische Laien?“

„Wir müssten es eben regelmäßig genug, hinreichend oft durchführen. Nicht nur gelegentlich. Das wird ja jetzt schon gemacht. Weil das Losverfahren eben entscheidende Vorteile hat. – Diese Vorteile bestreitet ja heute auch kaum jemand. Ich sehe eher das Problem, dass nur wenige unsere heutigen politischen Probleme, z.B. die wechselseitige Blockade, oder dass bestimmte Themen kaum angefasst werden, eben der ganze Politikstau, auf dem wir heute sitzen, mit dem Demokratiedefizit unserer Gesellschaft in Verbindung bringen. Anscheinend kann sich heute kaum jemand vorstellen, dass eine weitergehende Demokratisierung gerade nicht zu wechselseitiger Blockade führt, sondern unsere Politik überhaupt erst richtig handlungsfähig macht. Die meisten glauben heute, dass Selbstblockade ein wesentlicher Bestandteil von Demokratie sei. – So einen verqueren Demokratiebegriff haben wir in den letzten Jahrzehnten entwickelt!“

„Du meinst das Hauptproblem in der Politik ist heute, dass wir noch keine richtige Demokratie haben, unsere derzeitige Staatsform aber so nennen? Und dass wir aufgrund dieser unvollständigen Demokratie einen fragwürdigen Demokratiebegriff entwickelt haben?“

„Ja, ungefähr so. Zumindest kann man ja kaum kraftvolle Schritte in Richtung einer Weiterentwicklung unserer Demokratie gehen, wenn die Motivation dazu aus zunehmenden Problemen mit einer politischen Ordnung stammt, die wir bereits „Demokratie“ nennen. Wer glaubt, dass er schon in einer Demokratie lebt, und die gegebene Politik als problematisch erlebt, der wird Lösungen wohl kaum in „mehr Demokratie“ suchen. – Das macht dann intuitiv einfach wenig Sinn.“

„Wir hätten also ein Eigentor geschossen als wir anfingen, unsere derzeitige Staatsform „Demokratie“ zu nennen, weil genau diese Benennung uns jetzt daran hindert, uns wirklich zu einer zu entwickeln? Und das, obwohl wir Demokratie gerade jetzt dringend bräuchten, weil sie viele unserer heutigen Probleme lösen könnte?“

„Ja, aber meinst Du, es können da viele mitgehen, wenn wir uns alle hinstellen und gemeinsam behaupten: Wir leben ja noch in gar keiner Demokratie! Lasst uns eine gemeinsam aus der Taufe heben!‘?“

„Nein, das scheint wirklich keine gute Strategie zur Weiterentwicklung unserer Institutionen zu sein. Zumindest nicht, wenn diese neuen Institutionen demokratischer sein sollen als die, die wir bereits haben…“

„Tja, was könnte man sonst tun?“

„Vielleicht einfach die Vorteile aufzählen, die die Verbreitung von gelosten Bürgerversammlungen für uns unmittelbar haben können…?“

„Ja, entweder das, oder man könnte ziemlich prinzipiell werden. Aber da bin ich skeptisch. Auf sowas fahren nur Philosophen ab… …Und die sind gerechnet auf alle Menschen meist ziemlich selten. – Glücklicherweise!“

„Da sagst Du was! – Naja, was man auch machen könnte, ist: Einfach mal machen. Sich den ganzen Sermon, das ganze Predigen, die ganze Überzeugungsarbeit sparen. Und stattdessen möglichst viele solche Verfahren durchführen. Damit möglichst viele Menschen sie unmittelbar kennen lernen und selber erleben, dass das deutlich besser funktioniert als das, was wir sonst heute so unter „Politik“ verstehen. – Und dann hoffen, dass sich das von dort aus irgendwie ausbreitet.“

„Boah. Das klingt echt anstrengend. Eher nach einem Marathon. Und man müsste wohl einen guten Teil der eigenen Lebenszeit in so ein Projekt investieren, um auch nur minimale Effekte zu erzielen. Und ob man die dann selber überhaupt noch erlebt…?“

„Ja, man bräuchte wohl selber dafür einen guten Grund. Und dann müsste so ein Projekt einem ja auch selber irgendwas zurückgeben, damit man energietechnisch nicht schlapp macht. Solches Weltverbesserertum stand ja schon immer unter einer hohen Zynismus- und Burn-Out-Gefahr. Das Projekt selber müsste einem bereits Freude bereiten, nicht erst sein mögliches Ergebnis!“

„Weißt Du was? Das klingt mir viel zu anstrengend! – Ich glaube, ich mach’s doch vielleicht eher konventionell, auf dem gewohnten Weg: Ich stell mich auf die Straße, halte Transparente mit ‚Wir wollen echte Demokratie!‘ hoch und hoffe, dass wir da irgendwie hinreichend viele Menschen für mobilisieren können.

„Na, da wünsch ich Dir viel Glück dabei…“

Nicht bösartig werden

Ich persönlich glaube ja, dass es keine ganz kleine Leistung ist, wenn wir als Menschen über die Jahre nicht bösartig werden.

„Bösartigkeit“ können wir dabei als etwas verstehen, das etwas anderes ist als Wut oder Aggression. – Immerhin heißt es so schön: „Man soll aus seinem Herz keine Mördergrube machen…“ – Bösartigkeit muss auch nicht laut werden oder offensichtlich sein. Es gibt sie vielmehr in 10.000 Formen. Nicht-bösartig-sein ist auch nicht gleichbedeuten mit „gut drauf sein“ oder „positivem Denken“. Eher hat es etwas damit zu tun, dass sich der eigene Geist nicht in dem Schmerz, der Angst, der Trauer, der Freude und der Wut künstlich einnistet und mehr daraus macht, als es ist. Dass also unsere Gefühle da gelassen werden, wo sie hingehören. Dass sie von uns also weder unterdrückt, noch künstlich verschoben oder ausgebaut werden.

Warum ist es so für uns schwer, nicht bösartig zu werden?

Ich denke, es hat viel mit Scham zu tun. Mit der Angst vor Ablehnung, die uns dazu bringt, „an uns selber herumzudoktoren“, und eben bei unseren Gefühlen nicht die Kirche im Dorf zu lassen. Stattdessen machen wir dann etwas wie: „Kirche? Welche Kirche?“ bzw. wir errichten unseren Gefühlen gleich gotische Kathedralen.

Bösartig-Werden und die (angenommene) soziale Unerwünschtheit unseres Gefühlslebens, „wie es nun mal ist“, hängen also eng zusammen: Erst machen wir uns lieb Kind. Und dann machen wir MEHR aus so manchem Gefühl, weil wir mit authentischem Selbstausdruck nicht gut durchgekommen sind. Die Rache unterdrückter Gefühle ist unerbittlich.

Nicht-bösartig-werden dürfte also auch viel mit Beziehungsmut zu tun haben. Damit, dass wir uns trauen, anderen zu zeigen „was Sache ist“. Und diese „Sache“, die hat, wenn sie für uns wichtig ist, immer eine zentrale emotionale Komponente. Es geht also tatsächlich darum, „sich gefühlig zu zeigen“. Doch nicht mit seinen aufgesetzten, „verzogenen“ Gefühlen, sondern mit denen, die tatsächlich da sind.

Und dadurch, wie schwer das für uns schon ist, dadurch können wir wahrnehmen, wie bösartig wir bereits geworden sind.

In diesem Sinne müssen wir „Bösartigkeit“ nicht als eine moralische Kategorie verstehen, wir könnten sie auch als eine recht nüchterne Beschreibung eines Zustands nehmen, in dem wir uns eben manchmal wiederfinden; als etwas völlig Verbreitetes und Normales und nichtsdestotrotz wenig Erquickliches und kaum Wünschenswertes. – Ob solche „Umwertungen“ von Begriffen allerdings für uns wirklich funktionieren, daran habe ich so meine Zweifel (obwohl ich es immer wieder gern mal ausprobiere).

Dann bleibt von diesem kleinen Versuch, mit „Bösartigkeit“ zu jonglieren, vielleicht so etwas wie: Sich-nicht-gänzlich-entmutigen-lassen – Immer-wieder-zu-sich-zurückfinden – Der-eigenen-Hoffnung-ein-Licht-anlassen – Spielen.

 

 

Die Sehnsucht nach sich selbst

Wenn es stimmt, dass wir an unseren Beziehungen zu anderen Menschen vor allem das lieben und das hassen, was sie jeweils aus uns selber machen, so kann man diesem Gedanken noch weiter folgen. Er behauptet dann, es sei vor allem unsere „Sehnsucht nach uns selbst“, die uns in unseren Beziehungen verweilen oder die uns sie verlassen lässt (- Gesetzt, wir haben die Wahl, was historisch gesehen durchaus nicht immer der Fall war).

Das beginnt bereits mit unserer Beziehung zu unseren Eltern. Es wäre ja eine sehr grobe Verkennung unserer Motive, wenn wir annähmen, wir würden unsere Eltern etwa deswegen irgendwann verlassen, weil wir sie nicht (mehr) liebten. – Zumindest bei den allermeisten von uns dürfte das kaum der Grund sein.

Es ist vielmehr so, dass wir fühlen, dass wir eine Seite von uns, viele Seiten von uns niemals entdecken werden, niemals leben könnten, wenn wir in der engen Bindung zu unseren Eltern bleiben würden. Wenn wir keinen Abstand gewännen. Einen Abstand, der es uns ermöglicht, neue, andere, andersartige Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen.

Und das gleiche Motiv finden wir in beinahe allen unseren Beziehungen, dort vielleicht in vergleichsweise abgeschwächter Form, vielleicht aber auch nicht: In der Beziehung zu unseren Freundeskreisen. In der Beziehung zu unserem Lebenspartner. In der Arbeitsbeziehung zu den Unternehmen unseres Lebens.

Dabei ist es in keiner dieser Beziehungen so, dass es uns etwa darum ginge, dass wir NUR NOCH auf eine bestimmte Weise da sein wollten, STÄNDIG eine bestimmte Seite von uns leben können wollen. Es ist vielmehr so, dass es uns darum geht, eine bestimmte Seite von uns AUCH leben zu können.

Das kann eine besonders wilde Seite sein. Oder auch eine besonders zarte, schwache, sensible. Es kann sein, dass wir chaotisch sein können wollen. Oder viel, viel ordentlicher und buchhaltermäßiger als man uns sonst kennt. Erfolgreicher als bisher (was auch immer „Erfolg“ für uns gerade bedeutet). Oder gerade nicht mehr erfolgreich sein zu müssen, nichts mehr nachweisen zu müssen, sich nicht mehr über Leistungen zu definieren. – Es kann sich um so ziemlich alles handeln, wie wir Menschen eben auch sein können.

Die „Sehnsucht nach sich selbst“ ist also nicht die Sehnsucht nach einem „wahren Ich“, das sich plötzlich enthüllt. Auch wenn uns das manchmal, in der heißen ersten Liebe zu dieser für uns neuen Seite von uns, so vorkommt.

Die Sehnsucht nach sich selbst ist die Sehnsucht nach dem AUCH-SO-sein-können. – Und diese Sehnsucht, in dieser Form, hat eben große Bedeutung für die Entstehung, den Bestand und die Auflösung unserer Beziehungen zu anderen Menschen.

Dabei spielt es keine Rolle, ob wir diese Seite von uns wirklich in dieser Beziehung (nicht) leben können. Es ist allein unsere Annahme, dass wir diese, für uns wichtig gewordene Seite von uns, in dieser Beziehung (nicht) leben können, die unsere Beziehungen entstehen, fortbestehen und vergehen lässt.

Und die meiste Zeit über sind uns all diese Vorgänge ja auch weitgehend unbewusst oder zumindest unartikulierbar. Noch lange bevor wir sie in Worte fassen können oder auszusprechen wagen, sind sie „am Werk“. – Oft können wir sie erst im Nachhinein benennen und besprechen.

Da der menschlichen Vielfalt – im Prinzip – kaum Grenzen gesetzt sind, macht uns das beziehungstechnisch zu außerordentlich „unzuverlässigen“ Wesen. Wohl machen wir uns oft künstlich zuverlässig, um unsere Beziehungen vor uns selbst zu beschüzten. Genauer: Vor unseren Sehnsüchten nach unseren vielen möglichen Selbsten. – Doch in der Regel ist das keine so wirklich gute Idee. Denn Sehnsucht ist so wie Sehnsucht ist: Sie bricht sich Bahn gerade auch dort besonders gewaltvoll, wo sie gezähmt und verdrückt werden soll.

Ist eine handfeste, starke Sehnsucht nach einem neuen Selbst von uns entstanden, so haben wir nur die Wahl, ob wir sie in DIESER oder in einer ANDEREN Beziehung leben wollen. Sie nicht zu leben, diese Wahl haben wir nicht. Denn diese Wahl legt Hand an das Leben selbst. Meist werden wir dann krank oder gedrückt, in jedem Fall zu einer geminderten Version von uns selbst. Wenn wir glauben, uns gegen eine unserer Sehnsüchte entscheiden zu müssen, dann stirbt ein Stück von uns, dann sterben wir ein Stück weit.

Doch das Leben ist findig. Es bahnt sich seine Wege. Und so hat es viele von uns schon „erwischt“, wo wir gar nicht mehr wissen, „wie uns geschieht“. Also was wir tun. Weil wir uns nicht hinter unsere Sehnsucht stellen. Weil wir es nicht wagen, bewusst nach Möglichkeiten zu suchen, auch DIESES Selbst zu sein.

Und oft ist viel mehr möglich als wir zu glauben wagen.

Unsere Sehnsüchte nach uns selbst wissen das.

Die Frage ist nur, ob auch wir das gerade annehmen. Und uns in unsere Beziehungen hinein träumen. In ihre unentdeckten Möglichkeiten. Hinein in das unentdeckte Land.

 

Dem anderen sein Problem lassen

Wenn ich eins in all den Jahren professioneller Coaching-Tätigkeit gelernt habe, dann das: Es ist eine gute Idee, dem anderen sein Problem zu lassen. Und es ist keine gute Idee, dem anderen sein Problem von den Schultern zu nehmen und es sich selbst aufzuhalsen.

Was wir uns scheints schwer tun zu verstehen (zumindest geht es mir so), ist, dass wir „voll dabei sein“ können, ohne das Problem unseres menschlichen Gegenübers zu übernehmen. Dass es also nicht nur die beiden (schlechten) Alternativen gibt:

ENTWEDER ich mache die Sache zu meiner Sache ODER ich lasse den anderen völlig im Stich und gehe einfach weg.

Nicht wegzugehen, auch innerlich voll dabei zu bleiben und emotional mitzugehen OHNE die Selbstsorge und die Verantwortung des anderen Menschen zu übernehmen, ohne auch sich selbst zu überheben und zu übernehmen, das ist eigentlich „Coaching“.

Im Grunde geht das immer (außer wir sind selber gerade völlig erschöpft): Ich lasse Dich nicht allein, ich bleibe bei Dir, ich sehe Deine Not und empfinde sie mit UND ich sehe weiterhin Deine eigenen Ressourcen, Fähigkeiten und Lösungsfähigkeiten. Ich bin bei Dir in Deinem ganzen Dilemma und ich lasse Dich weiterhin Dein Problem haben. Es gehört schließlich Dir, daher lasse ich es Dir und gleichzeitig bin ich mit Dir. Für mich ist das leicht, schließlich ist es ja nicht mein Problem. Und gleichzeitig bist Du mir alles andere als „egal“. Und gleichzeitig nehme ich wahr, wie sehr Du unter dem leidest, was da bei Dir los ist. Und ich zeige Dir auch für Dich spürbar, dass ich Dein Leiden wahrnehme. Und ich lasse es Dir. Ich lasse es Dir. Ich entwerte es nicht, ich entwerte Dich nicht, indem ich es übernehme.

Es gibt also nicht den geringsten Widerspruch zwischen aktivem, erkennbarem Mitgefühl und der Behandlung eines anderen Menschen als dem verantwortungsbelastbaren, lösungskompetenten, findungsreichen, voller Möglichkeiten steckendem Wesen, das er ist. Beides verträgt sich fantastisch miteinander. Beides zusammen ergibt einen Bombenmischung. – Aber fragen Sie mich mal, wie oft ich das immer wieder vergesse, „wenn ich in Aktion bin“…

Und ich weiß auch gar nicht, ob es dafür wirklich einen eigenen Ausdruck und ein eigenes Berufsbild braucht. Denn manchmal kommt es mir so vor, als könnte man dieses Verhalten, wenn ein anderer Mensch in Nöten ist (und wir reden hier von Nöten jenseits von „jemand ertrinkt gerade“ oder „das Haus brennt“), auch einfach „Freundlichkeit“ oder „Menschlichkeit“ nennen.

Und freundliche Mitmenschlichkeit auf die Form Coaching zu beschränken, kommt mir ziemlich absurd vor.

Wahl-Tyrannei

Bei der verfassungsmäßigen Bestimmung unseres derzeitigen politischen Systems ist der Ausdruck „Wahl-Aristokratien“ vielleicht ähnlich unglücklich gewählt wie der Ausdruck „Demokratien“.

Denn viel näher an eine nüchterne Beschreibung dessen, was wir derzeit politisch tun und instituionalisiert haben, ist der Ausdruck: „Wahl-Tyrannei“.

Mittels der Wahl von Parteien bestimmen wir für eine begrenzte Zahl von Jahren, wer über uns Tyrann sein soll: Wer die Gesetze macht (ähnlich wie Solon), wer die staatlichen Maßnahmen kontrolliert und über die Verwendung der staatlichen Mittel verfügt.

Dass dies keine Tyrannei sei, nur weil wir die „Legislaturperioden“ begrenzt haben, weil wir in dieses Gebilde „Gewaltenteilung“ eingefügt haben, weil wir den Tyrann durch alle Bürger wählen lassen, und weil all das auf der Grundlage einer niedergeschriebenen Verfassung geschieht, ist eine hübsche Lüge, die uns wohl tut. Es fühlt sich einfach besser an, wenn wir das ganze Gebilde „Demokratie“ nennen.

Faktisch sieht die Sache etwas anders aus: Die Bürger haben zum Gebrauch der Judikative sehr unterschiedlichen Zugang. Etwas, das in wirklichen Demokratien tatsächlich deutlich anders ist.

Die Trennung zwischen Legislative und Exekutive ist weitgehend eine Farce, nachdem dort gewählte Parteifreunde einander wechselseitig kontrollieren sollen. Faktisch sind unsere Parlamente sehr weitgehend Abnickbuden für Entschlüsse, die gewählte Tyrannen in Hinterzimmern untereinander ausgehandelt haben.

Und dass wir Tyrannen weniger als Tyrannen empfinden, weil wir sie „selber“ gewählt haben, dem steht das allgemeine Entfremdungsgefühl der Bürger gegenüber „der Politik“ entgegen.

Und dann ist da noch die „Kleinigkeit“, dass die von uns freiwillig gewählten Tyrannen faktisch ja gar nicht von einem Großteil von uns gewählt sind. Sondern stets nur von einem kleineren Teil sowohl der Bürgerschaft wie der Bevölkerung.

Doch selbst wenn wir diesen letzten Punkt ändern würden, z.B. durch die Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht und einem Einschluss von mehr Menschen als bisher in das „Wahlvolk“, so änderte das ja nichts an dem grundlegenden Verhältnis, das unsere Verfassung vorsieht:

Wir bestimmen für ein paar Jahre diejenigen Menschen, die diejenigen Menschen bestimmen, die dann sehr frei über uns bestimmen können, ohne dass wir unsererseits Einfluss darauf hätten, wie wir von diesen Menschen regiert werden.

Das ist Fremdbestimmung. Und politische Fremdbestimmung heißt eben since ancient times „Tyrannei“. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Diese Situation: Dass wir uns angewöhnt haben, Wahl-Tyranneien als „Demokratien“ zu bezeichnen, entfaltet eine überaus interessante politische Dynamik. Wir haben zwar den privaten Unabhängigkeitsdrang, der aristokratische Gesellschaften auszeichnet, wir haben aber zugleich einen Staat, wie er eben für die Tyrannis typisch ist. Das führt dazu, dass wir BEIDE Probleme gleichzeitig bekommen: Diejenigen, die typisch für anarchistische Aristokratien sind, und ZUGLEICH diejenigen, die typisch für unterdrückerische Tyranneien sind.

Wir behelfen uns in dieser merkwürdigen Situation damit, dass wir großteils Alibi-Politik machen: Also eine Politik, die hauptsächlich aus Vortäuschung von Handlungsfähigkeit und Regierung besteht.

Uns ist – aus gutem Grund – sowohl unsere Regierung als auch unser Regiert-Werden peinlich.

Dieser Alibi-Staat, der aus einer Aporie zwischen zwei unmöglichen Zuständen (zwischen Tyrannei und Aristokratischer Anomie) entsteht, ist ein rückgebauter Staat, der uns alle zutiefst unbefriedigt lässt, an dem wir ständig etwas auszusetzen, zu bekritteln und mosern haben. Es soll regiert werden. Aber es soll eben auch nicht regiert werden. Wir können uns nicht entscheiden, ob wir wettbewerbsgläubige Gesetzlose sein wollen, oder ob wir herrschaftsgläubige Untertanen sein wollen. Und wir können uns eben aus gutem Grund nicht zwischen diesen beiden Dingen entscheiden: Weil ganz einfach BEIDES völlig unerträglich für uns ist.

Doch ein fauler Kompromiss ist noch lang keine Lösung.

Die Lösung, die es für diese Ausweglosigkeit durchaus gäbe: Etablierung einer echten Demokratie mit gleich verteilter Beteiligung aller Bürger an ihrer eigenen Politik, hat die Moderne Gesellschaft, haben wir bisher konsequent vermieden.

Zwischen die Alternative gestellt, ob wir einem Staat ausgesetzt sein wollen, der sich zwar als „unser Staat“ bezeichnet, der uns jedoch gleichzeitig völlig fremd bleibt, oder ob wir lieber gar keinen oder einen weitgehend inaktiven Staat haben wollen, werden wir dauerhaft schwankend bleiben. Weil die Wahl zwischen zwei Übeln immer die Wahl zwischen zwei Übeln bleibt. Auch Kompromisse zwischen zwei Übeln machen noch lang kein „Gut“. Das sind Kompromisse, an die wir uns nicht gewöhnen können. Auch nicht nach zwei Jahrhunderten fortgesetzter Gewöhnungsversuche.

Das große Problem der modernen Demokratie ist, dass sie sich selbst bisher nur als „Kompromiss“ begreift. Und die Demokratie ist alles mögliche, aber sie ist kein Kompromiss.

Alles, was man über Politik wissen muss, in 10 Minuten und 20 Sekunden

Ich bin ja mittlerweile überzeugt, dass dieses kleine Video hier alles Wesentliche auf den Punkt bringt, was wir brauchen, um sowohl unsere heutige politische Situation zu verstehen, als auch um alle möglichen politischen Situationen zu verstehen, die zwischen menschlichen Wesen immer wieder entstehen:

Diese kurze Darstellung macht es uns leicht nachzuvollziehen, was die Folgen von Aristokratie/Oligarchie sind und warum in ihrer Nachfolge immer wieder Tyranneien/Diktaturen auftreten.

Und warum umgekehrt diese Tyranneien/Diktaturen keinen dauerhaften Bestand haben und ihrerseits wiederum von Aristokratien/Oligarchien abgelöst werden.

Es werden – gleich zu Anfang – auch die Kernpunkte der „griechischen Besonderheit“ benannt, aus der nach dem Ende des Bronzezeitalters die Demokratie entstehen konnte: eine ganz besondere Präferenz für das „Private“,  für „das Sich-Persönlich-Hervortun“, ein ganz besonders entschiedener „Aristokratismus“, der dazu führte, dass es in den griechischen Städten keine Erbmonarchien gab, wie beinahe überall sonst zu dieser Zeit auf der Welt. – Auch der Althistoriker Christian Meier weist in aller Deutlichkeit auf diese Besonderheit hin. Die antiken Griechen, zumindest diejenigen, die soweit den Ton angaben, dass die Geschichte uns etwas über sie überliefert hat, waren salopp ausgedrückt: asoziale Narzissten. Und sie fanden sich ziemlich gut dabei, denn sie bestätigten sich wechselseitig, dass ihr asozialer Narzissmus eine ziemlich gute Lebenseinstellung war. Ob das Inseldasein dazu beitrug oder was auch immer, ist wahrscheinlich weniger wichtig als der Umstand, dass sie sich in dieser Form längere Zeit gegenüber verschiedenen Großreichen behaupten konnten, dass dieser aristokratische Stolz auf das eigene „Selbstsein“ nicht politisch gebrochen wurde.

Die ganz besondere aristokratische Neigung der antiken Griechen in ihren Stadtstaaten  und ihre damit verbundene Leidenschaft für „Autarkie“ (Selbständigkeit, Unabhängigkeit) war ganz offenbar die Voraussetzung dafür, dass zu dieser Zeit Demokratien entstanden. Denn einerseits konnten sich dadurch anders als anderswo keine Monarchien stabilisieren; konnten auch nicht Tyranneien, die auch die Griechen durchaus kannten, dauerhaft werden. Und andererseits erzeugten auch die Aristokratien selbst keinen befriedigenden Zustand, der sich selbst stabilisieren konnte: Große Teile der Bürgerschaft verarmten und gerieten in Leibeigenschaft. Bürgerkrieg (stasis) wurde zum Dauerzustand. Und der schlechte Zustand der Bürgerschaft war für einzelne Aristokraten eine ständige Verlockung, die damit verbundene Unzufriedenheit auszunutzen, sich mit den Unzufriedenen, Verarmten und Verbannten zu verbunden – und sich selbst zum Tyrannen über die jeweilige Stadt aufzuschwingen.

Es entstand eine Aporie: Ein Nicht-so-und-nicht-so-bleiben-können. Aus diesem Druck, aus dieser dauerhaften Unbefriedigung heraus entstand „der demokratische Impuls“, der sich dann über die Reformen von Solon –> Kleisthenes –> Themistokles –> Perikles umsetzte und zu jener Staatsform führte, die dann später rückblickend „Demokratie“ genannt wurde.

Beschäftigt man sich mit der weiteren Geschichte, insbesondere mit unserer „jüngeren“ Geschichte seit den französischen und amerikanischen Revolutionen, dann kann man immer weider das gleiche Grundmuster wiederfinden, das auch in Athen zur Entstehung der Demokratie führte: Ein Schwanken zwischen einer entschiedenen Aristokratie, die aber – wohl aus rein technischen Gründen – stets instabil bleibt, und Versuchen, Diktaturen zu errichten, die lösen sollen, was aristokratische Verhältnisse nicht lösen können. Die „Ordnung schaffen“ sollen. Doch auch diese Diktaturen bleiben instabil, vor allem aber richten sie derartige Verheerungen an, das schon nach kurzer Zeit Tyrannenmörder auf den Plan treten. Diese Tyranneien sind derart unattraktiv, das man immer nur ganz kurz, aus dem unmittelbaren Druck der höchst unbefriedigenden Aristokratien heraus, vergessen kann, dass sie keine Optionen für uns sind.

Die Lösung, die das antike Athen in dieser Situation fand: Allgemeine Beteiligung aller Bürger an der Politik, um sowohl der aristokratischen Unordnung als auch der tyrannischen Unterdrückung dauerhaft den Garaus zu machen, ist eine offene Flanke in der Modernen Gesellschaft.

Offenbar ist der Verdruss an unserer aristokratischen Anarchie, an der sich-selbst-blockierenden Unordnung in unserer Politik noch nicht groß genug, um zu dieser Lösung zu kommen. Also um zu begreifen, dass es ohne Demokratie: ohne systematische Beteiligung aller an der Politik, einfach immer so weiter gehen wird.

Denn was wir heute beobachten können: Dass bei Bewusstwerdung, dass wir ein Verfassungproblem haben, dass unsere derzeitigen politischen Institutionen und Verfahren dysfunktional sind, eher nach einer Diktatur gerufen wird als nach einer Demokratisierung unserer Verfassung – Das bedeutet, dass wir die Grundregeln des Politischen noch immer nicht überreißen.

Dass die Demokratie eine Lösung ist, um weder in aristokratischem Dauer-Streit, Selbst-Blockade, politischem Chaos und Verarmung und Selbst-Versklavung breiter Schichten der Bevölkerung zu landen, noch sich in einer Diktatur wiederzufinden, die letztlich für alle unerträglich drückend ist, auch wenn sie zunächst wie die erlösende Zerschlagung des gordischen Knotens der aristokratisch-anarchischen Zustände wirkt, ist derzeit kein gedankliches Gemeingut. Dabei spielt der große Etikettenschwindel am Ende des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle, als wir anfingen, etwas „Demokratie“ zu nennen, was in keiner Weise diese Bezeichung verdient hat: Weder beteiligen sich in unseren „Demokratien“ alle Bürger regelmäßig als Aktive an der Politik. Noch wird durch verfassungmäßige Verfahren sichergestellt, dass politische Gleichheit zwischen den Bürgern herrscht.

Unsere sogenannten „Demokratien“ sind Mogelpackungen, durch die wir vor uns selbst verbergen, dass wir faktisch in einer aristokratischen Anomie leben. Mit all den typischen Merkmalen aristokratischer Anomie: Weitgehender Verzicht auf wirksame Politik, Privatismus, Wettbewerbs-Präferenz, eine immer noch weiter gehende Verarmung weiter Bevölkerungsschichten und eine asoziale Psychologie, die „Eigenverantwortung“ auf eine völlig absurde Spitze treibt. – Das alles ist heute keinen Deut anders als im antiken Griechenland vor den Solonschen Reformen.

An der Stelle, an der wir begreifen, dass wir die aristokratische Unpolitik nicht einfach immer so weiter laufen lassen wollen, dass wir aber auch nicht die katastrophalen faschistischen und kommunistischen Experimente immer und immer wieder wiederholen wollen, werden wir vielleicht – vielleicht – offen dafür, dass wir eine Demokratie brauchen, die diesen Namen auch verdient hat: Offen dafür, uns alle gemeinsam, uns alle gleichermaßen mit politischer Verantwortung zu belasten.

Ich weiß nicht, ob in der Moderne so eine allgemeine Begeisterung für Politik, wie sie unter den attischen Bürgern durch die genannten Verfassungsreformen nach und nach entstand, überhaupt möglich ist. – In jedem Fall ist allgemeine Beteiligung aller Bürger an der Politik voraussetzungsreich.

Demokratie ist etwas, das entstehen kann, wenn unser Verdruss an aristokratischer Unordnung und tyrannischer Überordnung so groß geworden ist, dass die Entwicklung „von ganz allein“ in diese Richtung geht.

Sieht man in der Vor-Solonschen Entwicklung der griechischen Gesellschaft ein allgemeines Grundmuster, das sich in der Menschheitsgeschichte immer wieder einstellen und wiederholen wird, solange es keine Demokratie gibt, dann kann es uns zuversichtlich machen, dass unsere heutige Präferenz für Hierarchie abnimmt und unsere Präferenz für aristokratische Unabhängigkeit zuzunehmen scheint.

Ähnlich wie die antiken Griechen sind wir Menschen der Moderne heute immer weniger bereit, einen Unterordnung verlangenden Staat über uns zu dulden, wenn dieser Staat nicht wirklich demokratisch ist. – Lieber noch stürzen wir uns in eine katastrophale Anomie, in der „der Wettbewerb“ zwischen uns (mithin: das Prinzip der Aristokratie) alles regeln soll. Unsere moderne Devise lautet immer mehr: „Lieber gar kein Staat als ein Staat, der von uns als reine Unterdrückung erlebt wird! Als ein Staat, der uns völlig fremd bleibt! Als ein Staat, der von außen auf uns zukommt und von uns irgendwelche Dinge verlangt! Als ein Staat, der zwar behauptet durch uns legitimiert zu sein, nur leider fühlt sich das überhaupt kein Bisschen danach an! Als ein Staat, der nur beim Kaschieren wirklich großen Aufwand betreibt, beim Kaschieren, dass er uns kein bisschen dient! Lieber kein Staat als ein Willkürstaat! Lieber kein Staat als ein solch einziges, großangelegtes Attentat auf unsere Freiheit! Lieber gar kein Staat als so ein verlogener Staat, wie wir ihn derzeit erleben!“

An diesem immer weiter gehenden Rückbau des Staates sind wir alle in verschiedener Form beteiligt. Wir Menschen der Moderne sind also zunehmend diejenigen aristokratischen Anarchisten, die auch im antiken Griechenland den Takt der gesellschaftlichen Entwicklung vorgaben.

Doch die Aristokratie, der nackte, staatenlose Wettbewerb, kann die Probleme, die wir miteinander gemeinsam haben, eben leider leider nicht lösen. Aristokratische Anomie, Politikverzicht ist für uns Menschen keine tragfähige Lösung. Wenn jeder von uns einfach das macht, was er als Privatmensch will, wenn es also keinerlei sinnvolle Koordination zwischen unserem Tun und Lassen gibt, ist das Ergebnis ganz zwangsläufig eine einzige große humanitäre Katastrophe.

Doch der Weg in „diktatorische Lösungen“ ist uns modernen Anarchisten, die wir allesamt sind (auch wenn wir uns selbst anders nennen), durch unsere Präferenz für Autonomie verstellt. Wir verspüren wenig Lust auf Diktatur. Diktaturen entstehen heute nur noch – ganz wie bei den antiken Griechen – aus Verlegenheit. Wir sehen sie nicht als Lösungen. Wir empfinden die Diktatur als Peinlichkeit, die uns in unseren menschlichen Möglichkeiten allzu sehr einengt, klein macht und mindert. Das ist, wie man gerade in Europa noch viel zu wenig wahrnimmt, mittlerweile ein globales Phänomen.

Das alles lässt uns heute genauso wie annodunnemals die Griechen Athens nur einen einzigen Ausweg: Die konsequente Demokratisierung unserer Gesellschaft. Die gezielte Politisierung der gesamten Bürgerschaft, um sowohl aristokratischen Verwerfungen als auch tyrannischen Unterwerfungen zu entgehen.

Meines Erachtens kann das oben eingebettete Video helfen, diese unsere Situation ein wenig besser zu verstehen.

Schlank dank Demokratie

Ok, der Titel ist Clickbait. Aber mal im Ernst: Was haben wir eigentlich davon, wenn wir Demokratie zwischen uns einführen? Oder anders gefragt: Was fehlt uns eigentlich, wenn wir keine haben?

Wenn wir verstehen wollen, wozu wir Menschen Demokratie zwischen uns brauchen, hilft uns unsere Erinnerung daran, wie sich ungleiche Machtverhältnisse auf uns Menschen auswirken. Wir können uns bei dieser Vergegenwärtigung unterschiedlichen Auswirkungen von Machtungleichgewichten zwischen uns zuwenden. U.a.:

Der gemeinsame Nenner all dieser Texte ist vielleicht: Wir können als Menschen das Phänomen „Macht“ nicht ignorieren. Und es stellen sich zwischen uns immer wieder ungleiche Machtverhältnisse her. Das ist ganz unvermeidlich.

Das, was „ganz natürlich“, „von alleine“ zwischen uns ensteht, ist ein ständiges Schwanken zwischen 1) einer Art aristokratischem Anarchismus, in dem eine Kaste von „Mächtigeren“ den anderen weitgehend auf der Nase rumtrampelt, während sie gleichzeitig untereinander „wer ist der noch Bessere von uns?“ spielt; und 2) einer Tyrannei, die zwar die Spielchen der Aristokraten zum Erliegen bringt, aber um den Preis, dass die Unfreiheit aller nun ganz offen zu Tage tritt und die Freiheit nun auch der Aristokraten ganz offen mit Füßen getreten wird.

Dieses Hin- und Her-Schwanken zwischen aristokratischer Anarchie und Diktatur scheint eine Art menschliches Naturgesetz zu sein, solange nicht Demokratie auftritt. Es geht einfach immer so weiter, hin und her, hin und her, bis Menschen eben beide Seiten des Pendels gründlich satt haben. Bis also Tyrannei nicht mehr wie eine attraktive Erlösung von den ruinösen Wettbewerben zwischen den Aristokraten aussieht. Und bis das „freie Spiel der Kräfte“ unter weitgehendem Politikverzicht nicht mehr deswegen bejahenswert erscheint, weil es die drückenden Tyranneien beendet, unter denen alle unmittelbar leiden, außer denjenigen, die sich mit der jeweiligen Herrscherfamilie gut zu stellen verstehen.

Aber wie genau leistet Demokratie eigentlich diese Auflösung zweier unguter Zustände – von empathielosem Durchregieren und von empathieloser Kultivierung von Kampfgeist als Selbstzweck?

Demokratie leistet das durch einen eigentlich recht einfachen „Trick“: Indem sie einen eigenen Raum aufmacht (den Raum des Politischen), der sich abseits von unserem Alltag hält, und in dem andere Gesetze gelten als außerhalb von ihm, im Privaten.

Der Raum des Politischen, wenn er denn besteht, ist per se demokratisch. Das heißt: In ihm herrscht Machtgleichheit. Oder eigentlich genauer: Abwesenheit von Macht. Niemand wird mit Strafen bedroht, wenn er sich so oder nicht so verhält. Und niemand wird mit Karrotten zu einem Verhalten verführt, das er nicht von sich aus zeigen würde.

Innerhalb des Raums des Politischen herrscht eine fast schon unglaubliche Authentizität.

Diese Offenheit, auch gegenüber uns völlig fremden Mitbürgern, ist deswegen möglich, weil im durch Demokratie erzeugten Raum Machtungleichheit zwischen den Bürgern verbannt ist. Auch wenn sie im Privaten sehr ungleich mächtig sein mögen, im Politischen sind sie Gleiche. Und damit frei, sich offen gegenüber zu treten und einander zu zeigen, wie es ihnen wirklich geht. Und worum es ihnen wirklich geht.

Es ist ein Verdienst des Beziehungsforschers Thomas Gordon, klar formuliert zu haben, dass wir nur dann Einfluss aufeinander bekommen, wenn wir keine Macht übereinander ausüben. Und dass wir, wenn wir die Option „Macht“ nicht mehr haben, um andere zu einem Verhalten zu bewegen, das sie nicht von sich aus zeigen würden, auf Verstehen und Verständnis angewiesen sind, um Einfluss aufeinander zu gewinnen.

Demokratie ermöglicht also das zwischen uns: „Machtlosen Einfluss“.

Menschen, die sich mittels Demokratie als Mitbürger begegnen, sind Menschen, die in ihr wechselseitiges Einander-Verstehen-Können investieren. Und das trotz oder gerade wegen großer privater Unterschiede zwischen ihnen. Auch Machtunterschiede.

Im Raum des Politischen hebt die Demokratie diese Machtunterschiede auf und stellt der privaten Ungleichheit eine politische Gleichheit an die Seite. Und das entspannt uns alle ungemein.

Es entspannt uns so sehr, dass „gute Politik“ plötzlich dauerhaft möglich wird. Weil nicht mehr gekämpft und taktiert und kaschiert werden muss, sondern plötzlich ganz offen und erwachsen miteinander geredet werden kann.

Erst die Demokratie mit ihrem Losverfahren und ihren regelmäßigen Bürgerversammlungen etabliert also Politik als eine Beziehung eigenen Typs, die NEBEN unseren privaten Beziehungen eingeführt wird, die weiter in ihrer Ungleichartigkeit fortbestehen. Doch da gerade diesen machtbefreiten Räumen die zentrale staatliche Macht übertragen wird, kehrt dadurch auch in unser privates Leben eine ganz neuartige Ruhe und Gelassenheit ein. Wir wissen durch die Demokratie dass wir alle gleich wichtig sind, obwohl wir in vielen privaten Situationen verschiedene Macht haben. Wir erleben, dass wir alle gleichen Einfluss auf die Gestalt und die Regeln unserer Gesellschaft haben. Wir können uns sicher sein, dass wir auf eine wirkungsvolle Weise gehört werden. Wir stellen fest, dass wir wichtig sind für unser Gemeinwesen.

Und dadurch endet das ewige, verzweifelte, verkappte Kämpfen zwischen uns.

Durch die Einführung von Demokratie bringen wir sozusagen unser aller Empathiefähigkeit an die Macht.

Das geschieht wie gesagt nicht von allein. Es geschieht, wenn wir die beiden gesellschaftlichen Alternativen: Anarchistische Aristokratie und Tyrannei richtig, richtig dick haben. Wenn wir nicht mehr zulassen wollen, dass sie all unsere Ressourcen und einen Großteil unserer Aufmerksamkeit verschlingen. Und wir unsere wertvolle Lebenszeit nicht mehr mit Unsinn verbringen wollen, der sich breit und wichtig macht in unserem Leben. Wenn wir bereit sind, unsere Gesellschaft mitzugestalten und alle in diese Mitgestaltung einzubeziehen.

Das erfordert wie gesagt von uns allen ständige Investitionen in unsere bürgerschaftliche Beziehung. Daher ist Demokratie auch anstrengend und entsteht nicht von allein.

Und wer weiß? – Vielleicht macht Demokratie uns ja tatsächlich schlank? Einfach, weil Demokratie von uns allen ein ständiges Engagement erfordert?

 

Der liebe Mitbürger

Der Mitbürger ist ähnlich wie der Verwandte ein Mensch, den man sich nicht aussuchen kann. Viele machen ja heute den Eindruck, sie hätten gern „Wahlmitbürgerschaften“, die dann etwas ähnliches wie „Wahlverwandtschaften“ sein sollen:

Man bildet nur mit Menschen zusammen ein Staatswesen, „mit denen man das auch will“.

Und so ist ein Großteil unserer heutigen öffentlichen Kommunikation eine einzige, performative Ausbürgerung, und das wechselseitig. Was wir uns gegenseitig sagen, lässt sich in den einen, immer gleichen Satz übersetzen:

„Mit Dir möchte ich eigentlich gar nicht in einem Staat zusammenleben! Mit Dir zusammen möchte ich eigentlich gar keinen Staat machen! Warum nur, warum nur exisitierst Du überhaupt und bist mein Mitbürger!?“

Aber so läuft der politische Hase eben nicht. Und in unserem ganzen Klagen über unsere ach-so-unmöglichen Mitmenschen ist zugleich eine Verwechslung enthalten:

Dass ein Mitmensch automatisch ein Mitbürger sei.

Dazu kann man einerseits sagen: „Schön wär’s!“

Andererseits darf man vielleicht feststellen: Es braucht halt doch ein wenig politische Praxis dafür, damit aus Mitmenschen Mitbürger werden.

Unser Bürger-Begriff ist bedenklich Praxis-leer. Bedenkt man mit, dass nicht jeder Mitmensch automatisch ein Mitbürger ist, dann kommt man aus dem eigenen Verdruß über den eigenen, lieben Mitbürger nicht durch einen privatistischen Dekretismus heraus, durch den man „beschließt“, dieser oder jener Mensch sei ab sofort (nicht mehr) mein Mitbürger. Sondern nur durch eine gemeinschaftliche Praxis, die uns einander regelmäßig als Freie und Gleiche begegnen lässt, abseits unserer privaten Lebensvollzüge, Verhältnisse und Beziehungen zueinander.

Auch in einer solchen politischen Praxis können wir uns unseren lieben Mitbürger nicht einfach aussuchen. Das wäre eine Übertragung des privaten Denkens hinein in den politischen Raum; ein Kategorienfehler, der das Politische unweigerlich zerstört, indem er das Gemeinschaftliche, das überhaupt erst entsteht, von vornherein unserer privaten Willkür, unserem vorpolitischen Meinen unterwirft. Wer Bürger nur mit dem ist, der ihm privat lieb ist, ist kein Bürger, sondern eine Privatperson. Solche Privatverbünde sind natürlich völlig legitim. Sie haben aus guten Gründen ihr Eigenrecht. Sie sind nur nicht politisch.

Wir machen uns von Mitmenschen zu Mitbürgern nicht durch unsere Vorlieben für oder Aversionen gegen bestimmte Menschen, sondern durch Zusammenkünfte, in denen wir uns rein politisch begegnen: Bewusst NICHT geleitet von unseren Präferenzen, „mit wem wir da gern reden würden“, „wen wir dort gerne als Mitbürger antreffen würden“ – und wen nicht.

Politische Verbindungen, wenn sie so verstanden werden, sind zwischen allen Menschen möglich. Nur entstehen sie nicht von allein, sondern durch beständige politische Tätigkeit. Und enden die politischen Zusammenkünfte, endet auch die politische Verbindung und damit das Mitbürgertum.

Was uns den Mitmenschen zum Mitbürger macht, und was im „Mitbürgertum“ für uns eine relative Verbesserung und Steigerung gegenüber Mitmenschentum ist, ist also nicht, dass wir uns den Mitbürger aussuchen könnten, den Mitmenschen aber nicht.

Der Mitbürger ist der Mitmensch, den wir uns via Politik erträglich oder sogar interessant und wertvoll machen. Weil wir ihn dort, im Politischen, auf eine ganz andere Weise kennenlernen als wir das im Privaten jemals könnten.

Privat stehen dieser Art des Kennenlernens unsere persönlichen Vorlieben und Aversionen im Weg. Da sich das Politische aber nicht über diese persönlichen Vorlieben ins Leben bringt, sondern über den Zufall, ist es von den Grenzen unserer zufälligen Gewordenheit nicht beeinträchtigt. Über die Zufallsauswahl kommt die Politik ins Spiel. Der Politik steht das Persönliche nur deswegen nicht im Weg, weil es nicht das Persönliche benutzt, um Zusammenkünfte, um Gemeinschaft zu stiften.

Interessanterweise, merkwürdigerweise fühlt sich genau deswegen das Politische für uns Menschen „freier“ an als das Private. Gerade dadurch, dass unsere persönlichen Vorlieben, was andere Menschen angeht, ausgeschaltet sind im Raum des Politischen, gerade dadurch erleben wir eine ganz andere, einzigartige Form von Freiheit mit diesen Menschen.

Es ist die Paradoxie des Mitbürgertums, dass der Mitbürger, obwohl wir uns ihn genauso wenig aussuchen können wie den Mitmenschen, uns politische Freiheit erleben lässt.

Während wir uns gegenüber dem Mitmenschen oft unfrei fühlen, ist der Mitbürger derjenige Mensch, den wir uns nicht ausgesucht haben, mit dem es uns aber gelungen ist, uns immer wieder neu anzufreunden.

Über eine andauernde, regelmäßige, die Zufallsauswahl nutzende Praxis. Eine freundliche Praxis, die uns trotz ihrer Unfreiwilligkeit Freude bereiten kann.

Dass uns etwas Spaß machen kann, was wir uns nicht selbst ausgesucht haben, und was wir uns wohl auch niemals selbst ausgesucht hätten, wenn man uns die Wahl gelassen hätte, das ist nicht so ganz leicht nachvollziehbar, mit unseren begrenzten, privaten Gehirnen.

Paradoxerweise besteht die Freiheit des Politischen in ihrer Unfreiwilligkeit. Das Politische entsteht aus der Entdeckung, dass es Veränderungen gibt, die wir niemals von uns aus wählen würden, von denen wir aber rückblickend sagen, dass es gut war, dass sie stattgefunden haben. Das Politische ist eine gemeinsame Praxis, bei der wir uns selbst verändern und bei der daher unsere eigene Wahl voher und nachher verschieden ausfällt. Als vorpolitische Menschen sind wir andere wie als nachpolitische Bürger.

Das transformative Moment, durch das aus einem uns beängstigenden Mitmenschen, den wir uns nicht ausgesucht haben, ein lieber Mitbürger wird, den wir uns ebenfalls nicht ausgesucht haben, ist gerade das, worauf in der Politik alles ankommt.